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Titel: Frieden in Europa ist Frieden mit Russland

Datum: 7. September 2020 um 9:49 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Friedenspolitik
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Freundschaftliche Beziehungen mit Russland, dies ist die Kernherausforderung für eine Friedenspolitik in Europa. In dieser Positionsbestimmung waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz „75 Jahre Potsdamer Abkommen – Höchste Zeit für Neubesinnung auf Entspannung und friedliche Zusammenarbeit“ einig. Was aber bedeutet Neubesinnung, besonders in der aktuellen politischen Situation, die durch die Diskussion um „Nawalny“ noch einmal zugespitzt wird? Dabei geht es leider nicht um die Gesundheit eines Mannes, sondern um die Instrumentalisierung der Ereignisse um Nawalny für eine Zuspitzung der Konfrontations- und Sanktionspolitik mit Russland. Von Reiner Braun.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Faktenfrei werden Behauptungen in die Welt gesetzt und Realitäten unterstellt, die einen politischen Versöhnungsprozess hintertreiben. (Die NachDenkSeiten haben sich ja mehrfach damit auseinandergesetzt.)

Neubesinnung heißt doch zuallererst, sich zu besinnen auf

  • Den Grundgedanken und die Grundüberzeugung, dass ein Friedensprozess in Europa ohne Russland aus historischen, geografischen, strategischen, ökonomischen, ökologischen und politischen Gründen undenkbar ist. Dass im 75. Jahr der Befreiung Europas vom Faschismus, die maßgeblich durch den opferreichen Kampf der Roten Armee geschehen ist, daran erinnert werden muss, zeigt schon, wie kompliziert die aktuelle Situation ist.
  • Die Gründe für die aktuelle Konfrontationssituation. Der entscheidende Grund ist die sogenannte NATO-Osterweiterung, deutlicher formuliert als politischer und militärischer Weg der Ausdehnung des Militärbündnisses NATO nach Osten. Dieses geschah – und die Veröffentlichung neuer Dokumente belegt es fast täglich – gegen die Absprachen, Zusagen und Protokolle der Gespräche zwischen den russischen Führungen unter Gorbatschow und Jelzin und den westlichen Ländern. Bedenkenlos wurde sich über die Grundzüge der Charta von Paris, die ein kooperatives Europa der Entspannung und Abrüstung vorsah, hinweggesetzt. Besonders durch Interviews des NATO-Generalsekretärs Wörner aus den 90er Jahren wissen wir heute um die Doppelmoral und Verlogenheit westlicher Politik. Sie unterschrieben die Charta von Paris und hatten die Pläne für die Osterweiterung bereits in den NATO- und Regierungsschubladen. Jede Kritik an der russischen Außenpolitik im Zusammenhang mit „der Krim“ oder dem Ukrainekonflikt ist heuchlerisch, wenn sie sich nicht als erstes klar gegen die sogenannte NATO-Osterweiterung positioniert.

Neubesinnung heißt aber auch, sich zurückzubesinnen auf die Politik der Entspannung und Kooperation, die in den 70er- und 80er-Jahren zu positiven kooperativen Beziehungen mit Russland geführt haben, die den Frieden in Europa sicherer und Abrüstung (wenn auch beschränkt) in Europa ermöglicht hat. Salopp ausgedrückt geht es um ein Zurück zu Willy Brandt und Egon Bahr, zu einer Politik der Entspannung und gemeinsamen Sicherheit. Kerngedanke dieser Friedenspolitik ist die Interdependenz, die gegenseitige Abhängigkeit der Länder Europas. Sicherheit kann im Atomzeitalter nicht mehr allein, sondern nur partnerschaftlich geschaffen werden. Sicherheit für mein Land, so Willy Brandt in seiner Nobelpreisrede 1971, ist undenkbar ohne die Sicherheit des anderen. Diese habe ich immer mitzudenken. Sicherheit und damit Frieden gibt es nur mit, niemals gegen den anderen.

Gegen viele Vorurteile, dass dies eine Politik der „guten Wetterlage in der Welt sei“, soll betont werden, dass sie in einer Zeit atomarer Hochrüstung, des Kalten Krieges und der Konfrontation entwickelt wurde, also einer Situation, die durchaus vergleichbar ist mit der heutigen. Sie ist entwickelt und nicht verworfen wurden, trotz des US-Aggressionskrieges gegen das um seine Freiheit kämpfende Vietnam und die Intervention des Warschauer Paktes in der CSSR. Sie war – um es in Termini der damaligen Diskussion auszudrücken – kein Ende des internationalen ideologischen und politischen Klassenkampfes (siehe Dokument der Beratung der KPs 1969).

Politik der gemeinsamen Sicherheit ist Friedenspolitik unter Berücksichtigung auch fundamental unterschiedlicher Positionen, salopp gesagt, wegen dieser Politik muss Mann oder Frau Putin nicht lieben.

Was bedeutet Rückbesinnung auf die Politik der gemeinsamen Sicherheit heute:

  • Abstand nehmen von jeder weiteren Ausdehnung der NATO zur russischen Grenze, d.h. keine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, Georgiens.
  • Umgehende Beendigung der Sanktionen gegen Russland. Sogenannte Bestrafungen sind ein vollständig ungeeignetes Instrument für Dialog und Vertrauensbildung.
  • Vertrauensbildung u.a. durch das Ende der provokativen NATO-Manöver an der russischen Grenze und der russischen Manöver, die in Polen und den baltischen Staaten als Bedrohung aufgefasst werden könnten.
  • Ausbau der ökonomischen Beziehungen zu Russland. Die Pipeline Nordstream 2, gegen die ökologische Bedenken durchaus angebracht sind, muss schnell eröffnet werden und der Beginn eines deutlichen Ausbaus der ökonomischen Beziehungen werden. Dies schafft nicht nur Arbeitsplätze und sichert Profite, sondern untermauert einen Entspannungsprozess. Deutliche Unterstützung für einen dringend notwendigen Modernisierungsprozess von Ökonomie und Infrastruktur in Russland ist auch im westlichen ökonomischen und politischen Interesse, gerade wenn mit offenen Augen über den Atlantik geschaut wird. Zusammenarbeit stärken heißt sicher auch, die Zusammenarbeit mit der EU und der euroasiatischen Wirtschaftsunion weiterzuentwickeln.
  • Ökologische und Klima-Partnerschaften, um die „Überlebensherausforderungen“ gemeinsam anzugehen. Ökologische Verwerfungen in Russland, z.B. das Auftauen der Permafrost-Regionen, hätten dramatische Auswirkungen auf die weltweite Klimaentwicklung.
  • Gesellschaftliche Zusammenarbeit auf allen denkbaren Gebieten von Kirchen, Gewerkschaften, Sportvereinen, Kultur, Jugend, Wissenschaft, Ausbau der Städtepartnerschaften
  • Umfassende Abrüstung und Umstellung auf „defensive Verteidigungssysteme“ – auf den Spitzen von Raketen, mit Panzern und Drohnen ist Dialog schwer möglich. Im Sinne der Vertrauensbildung könnten als erstes die Offensivwaffen auf beiden Seiten von den Grenzen entfernt und verschrottet werden. Abrüstung ist die materielle Untermauerung des Friedensprozesses, sie schafft aber auch die Voraussetzung, die finanzielle Ressourcen für eine sozial-ökologische Transformation im Osten und Westen bereitzustellen. Dabei gilt auch hier: Wer stärkere Schultern hat, muss anfangen und umfassender abrüsten. Den 900 Milliarden Rüstungsausgaben der NATO stehen ca. 65 Milliarden Russlands gegenüber. Abrüstung ist als erstes eine NATO-Herausforderung und zeigt erneut, wie unsinnig das Gerede von der russischen militärischen Bedrohung ist.
  • Eine Politik der gemeinsamen Sicherheit in Europa ist auch in der Lage und hilfreich, zur Lösung von Konflikten und Kriegen in anderen Teilen der Welt beizutragen, nicht im neokolonialen Sinn, sondern als Hilfe zur Selbsthilfe für Menschen. Die Konflikte u.a. in Syrien, Libyen, Ukraine können ohne Kooperation mit Russland nicht von einem bewaffneten Konflikt hin zu einem Friedensprozess entwickelt werden.

Da dieses „Zurück zur Politik der gemeinsamen Sicherheit“ auch im 21. Jahrhundert ein Prozess sein wird, ist eine Wiederbelebung des „Helsinki-Prozesses“ der 70er Jahre sicher sinnvoll. Erste Schritte, die jetzt schon möglich sind, gemeinsam gehen, darüber Vertrauen und die Möglichkeit zu weitergehender Zusammenarbeit schaffen, ist die strategische Orientierung. Versuche des „bewussten Vorführens“, des Delegitimierens, des Anklagens, der öffentlichen faktenreduzierte Kampagne sind das Gegenteil. Erste positive Schritte könnten dann in einer umfassenden Vereinbarung Helsinki 2 münden.

Zu diesem Prozess der Entwicklung von Vertrauen, Dialog und Kooperation gehört auch die Diskussion um die Menschenrechte, aber nicht, um die „andere Seite“ vorzuführen, sondern um ein gegenseitiges und gemeinsames Bemühen, die Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen Realität werden zu lassen. Doppelmoral und Verlogenheit müssen aufhören, Menschenrechte sind zu wichtig, um sie instrumentell zu verwenden. Für diese historisch und aktuell besonders schwierige Debatte sollten sicher spezielle Instrumente in Form von Dialogforen geschaffen oder bestehende verstärkt werden.

Ein Zurück zur gemeinsamen Sicherheit ist ohne Zivilgesellschaft und Friedensbewegung nicht denkbar. Die aktuelle Konfrontationspolitik basiert ja auch auf herrschenden (Profit)Interessen. Besonders die Politik der NATO, das Ringen der westlichen Länder um starke hegemoniale Positionen im Ringen um die neue Weltordnung sind sicher maßgebliche Faktoren der Konfrontationspolitik. Sie werden nicht durch „guten Willen“ überwunden, sondern durch das Schaffen neuer gesellschaftlicher und politischer nationaler und internationaler Konstellationen und Kräfteverhältnisse. Dazu ist das Handeln der Menschen unabdingbar. Erinnern wir uns an die Entspannungspolitik der 70er Jahre. Diese wurde durch Aktionen auf der Straße begleitet, es gab aber keinen zivilgesellschaftlichen internationalen Prozess wie z.B. bei den Klimaverhandlungen oder dem Ban Treaty. Helsinki 1975 war „nur“ eine Regierungskonferenz. Die Einflussnahme der Friedensbewegung auf den „großen“ Ost-West-Prozess begann umfassend erst in den 80er Jahren mit der Auseinandersetzung um Pershing, Cruise Missiles und SS20.

Entspannungspolitik im 21. Jahrhundert wird fundamental anders gestaltet sein und politisch erreicht werden. Sie wird nicht nur begleitet, ja sie wird maßgeblich durch die Zivilgesellschaft und die Friedensbewegung erstritten werden. Diese werden ein aktiver Motor sein.

Strukturen dafür sind in Ansätzen sicher vorhanden, viele Initiativen setzen sich engagiert für einen Dialog mit Russland ein (Petersburger Dialog, Städtepartnerschaften, Ost-West-Begegnungen, Bundesverband der West-Ost-Gesellschaften, Druschba-Friedensfahrten, um nur einige zu nennen). In der Friedensbewegung werden verstärkte Initiativen zur Partnerschaft mit Russland entwickelt. Viele gute ausbaufähige Ansatzpunkte müssen und können erweitert werden. Dabei soll sicher nicht unterschätzt werden, wie kompliziert diese Zusammenarbeit im Einzelnen ist.

Diese „Volksdiplomatie“ von unten muss gesellschaftlich und international massiv ausgebaut werden, um ein Gegenpotential zum Militarismus zu entwickeln und die nach wie vor in Deutschland und Europa bestimmende positive öffentliche Meinung für einen Friedensprozess mit Russland zu festigen.

Keine Begegnung zwischen Ost und West ist umsonst, jedes Anbahnen von neuen Kontakten und Gesprächen hilfreich. Bestehende Kooperationsstrukturen sollten überall ausgebaut und gestärkt werden (auch finanziell). Überlegt werden sollte, wie diese zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit auch in größeren gemeinsamen Aktionen verdeutlich werden könnte.

Frieden entwickelt sich von unten und durch und mit den Menschen – auf allen Seiten. 75 Jahre nach der Befreiung ist die Schaffung einer europäischen Friedensordnung nach wie vor eine Herkulesaufgabe.

Titelbild: Lightspring/shutterstock.com


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