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Titel: Peru – Mit Toten und Schwerverletzten, ein neuer Aufstand gegen den maroden „Minimal-Staat“

Datum: 18. November 2020 um 8:49 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption
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Innerhalb einer Woche traten in Peru zwei Präsidenten zurück. Menschenmassen demonstrieren seit dem 9. November in den Straßen der Hauptstadt Lima und anderer Städte Perus. Am Samstag, dem 14. November, sammelten sich landesweit hunderttausende Menschen zum größten Protestmarsch der vergangenen 20 Jahre in dem Andenland. Ein Bericht unseres Südamerika-Korrespondenten Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Demonstrationen begannen, nachdem der peruanische Kongress mit einem mehrheitlichen Misstrauensvotum Präsident Martín Vizcarra Cornejo des Amtes enthob, der seit Monaten ohne minimale politische Basis im Parlament regierte. Die Absetzung wurde mit Korruptionsvorwürfen und „dauerhafter moralischer Unfähigkeit“ begründet und Vizcarra wurde durch den Parlamentspräsidenten Manuel Merino ersetzt. Die Protestmärsche wurden während der wenigen Tage von Merinos Amtszeit mit brutaler Polizeigewalt, zwei Toten und hunderten von Schwerverletzten beantwortet. Wogegen sich am vergangenen Wochenende neue Proteste erhoben und im forcierten Rücktritt des seit weniger als einer Woche regierenden Präsidenten Merino gipfelten.

Lawfare made in USA: die Korruptionsvorwürfe gegen Martín Vizcarra

Der rechtsliberale Ingenieur Vizcarra amtierte von Ende Juli 2016 bis Ende März 2018 als Vize des wegen nachgewiesener Korruption zu Fall gekommenen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski und regierte Peru als dessen legaler Nachfolger bis zum vergangenen 9. November. Die fragwürdige Entscheidung seiner Absetzung wurde von der nicht weniger umstrittenen Parlamentsleitung nur wenige Monate vor den für April 2021 geplanten Präsidentschaftswahlen durchgepeitscht. Der Entschluss stieß auf massive Ablehnung in der Bevölkerung. In deren Proteste mischen sich offensichtliche Enttäuschungen, Frustrationen und Abscheu gegen das ultraliberale Wirtschaftsmodell, das das Land seit den 1990er Jahren zermürbt und mit mehr als 937.000 Infektionsfällen und 35.230 Toten bei einer Gesamtbevölkerung von 32 Millionen Einwohnern zwar eine kontroverse Covid-19-Gesundheits-Administration offenlegte, der jedoch unter Vizcarra die Vorbeugung einer Katastrophe gelang.

Als Dreh- und Angelpunkt des Korruptionsvorwurfs gegen Vizcarra veröffentlichte das Parlament mitgehörte Audio-Ausschnitte, die belegen sollen, dass der Präsident und sein engster Kreis angeblich versucht hätten, eine unregelmäßige Einstellung des Sängers Richard Swing im Kulturministerium zu verheimlichen. Doch die politisierte Staatsanwaltschaft sieht darin mehr als nur Peanuts und eröffnete ein Ermittlungsverfahren. Ähnlich wie im Fall Lula wirft der Ableger von Scharfrichter Sergio Moros Lava-Jato-Einsatzgruppe in der peruanischen Staatsanwaltschaft dem abgesetzten Präsidenten angebliche Bestechung in zwei Fällen an Privatunternehmen vor, als Vizcarra vor Jahren Gouverneur von Moquegua war. Die Staatsanwaltschaft beantragte daraufhin beim Obersten Gerichtshof, Vizcarra dürfe für die Dauer von 18 Monaten das Land nicht verlassen.

Ein unverkennbarer Januskopf bei der Skizzierung des neoliberalen Szenarios in Peru ist die in Brasilien mit dem Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff, der Verhaftung von Ex-Präsident Luis Inácio Lula da Silva und der Wahl Jair Bolsonaros erprobte Politisierung der Justiz unter Führung des von den USA ausgebildeten und gelenkten Richters Sérgio Moro. Der Fall Vizcarra und vor ihm die Kriminalisierungsversuche der ehemaligen, erfolgreichen Präsidenten Argentiniens, Ecuadors und Boliviens – Cristina Kirchner, Rafael Correa und Evo Morales – deuten an, dass die „Task Force“ Lava Jato („Unternehmen Autowaschanlage“) mit logistischer Unterstützung des US-Departments of Justice die Arme des Lawfare („Rechtsfeldzug“) mit der Kriminalisierung und Negation der Politik auch erfolgreich nach Peru ausgelagert hat.

Absage der Militärs an Merinos Umsturzversuch

Manuel Arturo Merino de Lama ist die typische Inkarnation der so einprägsam in Gabriel García Márquez‘ Romanen beschriebenen lateinamerikanischen Oligarchie. Als Agronom avancierte er zum Großgrundbesitzer und Viehzüchter im nordwestlichen Landzipfel von Tumbes an der Grenze zu Ecuador und war zeitlebens Mitglied der ultrakonservativen Partei Acción Popular.

Oligarchen sind in Lateinamerika seit Jahrhunderten dafür bekannt, dass sie sehr schnell das Militär zu Hilfe rufen, wenn ihnen die Machtausstattung nicht ausreichend erscheint. Und so geschah es Anfang vergangenen Septembers, als Merino im Amt des Parlamentspräsidenten versuchte, das Oberkommando der peruanischen Streitkräfte in den laufenden Amtsenthebungsprozess gegen Vizcarra hineinzuziehen. Premierminister Walter Martos, ein pensionierter Armeegeneral, reagierte mit Empörung: „Wir haben ein gravierendes Ereignis vor Augen, bei dem der Präsident des Kongresses versucht hat, die Streitkräfte in einen politischen Prozess einzubeziehen, an dem sie nicht teilnehmen dürfen“. Im Kongress werde an einer „Verschwörung“ zum Sturz Vizcarras gestrickt, erklärte General Martos.

Merino wimmelte ab: „Man hat versucht, die Bevölkerung zu verwirren und glauben zu machen, dass es eine Verschwörung gibt“. General Martos wurde im Handumdrehen vom Verteidigungsminister und ebenfalls pensioniertem General Jorge Chávez unterstützt: „Die Haltung des Kongresspräsidenten war rücksichtslos, als er versuchte, die Streitkräfte in einen politischen Prozess einzubeziehen. Die Streitkräfte sind kein politischer Berater“, erklärte Chávez.

Nach Erkenntnissen des Verteidigungsministers hatte Merino vor der Abstimmung über den Vakanzantrag zugunsten seiner selbst den Generalkommandanten der Marine dazu aufgefordert, sich über den bevorstehenden Misstrauensantrag gegen Vizcarra zu äußern. Merino rief auch den Leiter des gemeinsamen Kommandos der Streitkräfte, General César Astudillo, an, der jedoch die Anrufe nicht beantwortete. „Diese Aufrufe waren nicht nur rücksichtslos und fehl am Platz, sondern sie kollidieren mit der demokratischen Ordnung“, warnte der Verteidigungsminister vor peruanischen Medien und im Beisein zahlreicher Militärchefs. In einem seltenen, mit der Haltung faschistischer brasilianischer und chilenischer Generäle kontrastierendem Aufruf bekräftigte General Martos die demokratische Wertehaltung der peruanischen Militärs: „Wir fordern die demokratischen Kräfte des Kongresses auf, sich nicht für Versuche zur Destabilisierung des Landes anzubieten“.

Die mediale Militanz im Dienst des Lawfare

Im „Rechtsfeldzug“ gegen Vizcarra waren, wie seinerzeit in Brasilien, das mehrheitlich konservative Parlament und die politisierte Justiz nur zwei der entscheidenden „Kombattanten“: Als dritter agierten die Medien. Insbesondere die Gruppe El Comercio, im Besitz des Miró-Quesada-Familien-Clans, der nicht nur 8 Tageszeitungen und 80 Prozent des Pressemarktes Perus, sondern auch mit América Televisión und Kanal N zum erheblichen Teil den privaten Fernsehmarkt kontrolliert.

In Brasilien plapperten die herrschenden Privatmedien jahrelang die infamen, weil nie erwiesenen Vorwürfe von Lava Jato nach, denen zufolge „Lula der Anführer einer kriminellen Vereinigung“ sei, und überzogen den Altpräsidenten mit Rufmord. In Peru die gleiche Inszenierung. Für El Comercio steht fest: „Martín Vizcarra ist der Anführer der Korruption“. Jorge Luis Acevedo Rojas, Medienexperte an der Universidad Católica del Perú, errechnete, dass allein mit der ideologischen Militanz der TV-Sender América Televisión und Kanal N der Einfluss der Mediengruppe El Comercio auf mindestens viereinhalb Millionen Peruaner, ein Drittel des Fernsehpublikums, ausgeweitet wurde.

Die Krise des maroden “Minimal-Staates” und ihre Bewältigung

Eine hervorragende Analyse zum besseren Verständnis der Zustände in Peru lieferte vor wenigen Tagen die peruanische Soziologin Anahí Durand, Hochschulprofessorin an der Universidad Nacional Mayor de San Marcos de Lima. In den vergangenen Jahren profilierte sich die Sozialwissenschaftlerin mit Untersuchungen über soziale Bewegungen, politische Repräsentation, indigene Völker und Interkulturalität in Peru, doch Durand wirkt darüber hinaus als Koordinatorin für internationale Beziehungen der linken Partei Nuevo Peru.

Peru erlebe Krisen-Momente, die von doppelter Bedeutung geprägt sind. Einerseits drücken sie den Zerfall aus, den die peruanische Politik seit dem Ausbruch des Lava-Jato-Skandals im Jahr 2018 erfuhr, und andererseits machen sie die Erschöpfung des 1992 oktroyierten neoliberalen Regimes deutlich, erklärte Durand in einem Gespräch mit der progressiven argentinischen Nachrichtenagentur Nodal.

Zum Verständnis der jüngsten Ereignisse müsse daran erinnert werden, so Durand, dass 2018 mit dem spektakulären Vorgehen gegen die Korruption in Brasilien auch in Peru ein weitverzweigtes Korruptions-Szenario aufgedeckt wurde, das zum Rücktritt des damaligen Präsidenten Pedro Pablo Kuczynski führte. Die Krise löste zwar tiefe Unruhen in der Bevölkerung aus, doch in diesem Machtvakuum rissen bestimmte Interessen- und Machtgruppen die Zügel des Staates an sich, was in den Folgejahren zu Spannungen innerhalb derselben Machtgruppen führte.

Vizcarra versuchte, während seiner zweijährigen Amtszeit mit der parlamentarischen Mehrheit des ultrakonservativen „Fujimorismus“ (Anm.: das politische Parteierbe des wegen schweren Menschenrechtsverbrechen und Korruption verurteilten ehemaligen Präsidenten Alberto Fujimori) und ohne eigene Parteifraktion zu regieren. Im Oktober 2019 ordnete Vizcarra wegen mehrfacher Beschwerden und Justizverfahren die vorübergehende Schließung des Parlaments an und besiegelte somit einen Kollisionskurs mit der Legislative.

Ein neuer Kongress wurde im Januar 2020 gewählt und wenige Wochen danach brach in Peru die Covid-19-Pandemie aus, die das Andenland bald unter die zehn am härtesten vom Coronavirus betroffenen Länder reihte und auch wirtschaftlich extrem bestrafte. Covid-19-Pandemie, latente politische Krise, ein stark fragmentiertes Parlament mit 24 politischen Parteien sowie die zahlreichen Fluchtversuche in die parlamentarische Immunität seitens angeklagter Abgeordneter dienten dem Pulverfass als Zündschnur. Mit der Absetzung Vizcarras sprangen die ersten Funken, bei den Polizeieinsätzen Merinos explodierte das Pulverfass.

Frage an Anahí Durand: Verglichen mit dem sozialen Aufstand vom Oktober 2019 in Chile, der nach Bewertung mehrerer Beobachter das Ende des neoliberalen Zyklus eingeläutet hatte, darf man bereits ähnliche Schlussfolgerungen für Peru wagen oder können die immergleichen Machtgruppen diese Umstände dazu nutzen, um wieder „aufzubauen“ und gestärkt neu aufzutreten?

„Ich denke, es ist ein entscheidender Moment, obwohl dieses Modell bereits mehrere Krisen überstanden hat. Die Regierung Fujimori fiel im Jahr 2000 als Folge des Mobilisierungs-Ansturms der Bevölkerung, aber das ´Modell´ überlebte. Es berührte keine entscheidenden Aspekte der von Fujimori auferlegten politischen Verfassung. Die Machtgruppen schafften es vielmehr, einige sehr oberflächliche Vorkehrungen zu treffen, und die während der Re-Demokratisierung aufeinanderfolgenden Regierungen hielten sich an das gleiche Schema der maroden Verwaltung, aber auch der Korruption und des wirtschaftlichen Missmanagements.

Dieses Land verfügte über nachhaltiges Wachstum des Brutto-Inlandsproduktes und erzeugte einen ansehnlichen Haushaltsüberschuss. Doch wie wir jetzt in der Pandemie erlebt haben, wurden massive Geldsummen für alles andere als für den Gesundheitsschutz der Menschen verschwendet … Es gibt viel Empörung über die Art und Weise, wie sie seit 30 Jahren regiert wird. Die Erschöpfung, der Zerfall dieses Modells – das sich als günstig für Korruption und Autoritarismus offenbart hat – ist offensichtlich. Und ich denke, dass es auch eine Möglichkeit gibt, angesichts der für den 11. April 2021 geplanten Wahlen eine Plattform für grundlegendere Veränderungen zu schaffen. Und wir hoffen, dass dies umgesetzt werden kann“.

Titelbild: Nichimar/shutterstock.com


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