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Titel: Der globale Süden und die verdrängte Coronamaßnahmen-Krise

Datum: 3. Dezember 2020 um 13:48 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Wenn von den globalen Folgen von Corona die Rede ist, fällt der Blick meist auf die reichen Nationen des globalen Nordens. Das ist fahrlässig. Die womöglich härtesten Folgen der Pandemie drohen nämlich nicht den reichen, sondern den armen Nationen des globalen Südens, allen voran Afrika. Gleichzeitig gehört ausgerechnet der afrikanische Kontinent zu den Landstrichen, in denen Covid-19 eine unbedeutende Randerscheinung ist. Auf dem gesamten Kontinent mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern starben bis dato nur halb so viele Menschen an oder mit Covid-19 wie in Großbritannien. Die dramatischen Folgen der Pandemie sind indirekte Folgen und strenggenommen gar keine Folgen der Krankheit, sondern Folgen der Maßnahmen. Die Krise ist hausgemacht und Lösungen nicht in Sicht. Das zeigt auch der heute stattfindende UN-Sondergipfel zur Corona-Krise. Dort wird es allen voran um eine „gerechte“ Verteilung der Impfstoffe gehen, aber nicht um die drängende Frage, wie Afrika sich von den massiven Folgen der Maßnahmen erholen soll. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zwei Milliarden Menschen sind weltweit von Mangelernährung betroffen. Das ist ein Viertel der Weltbevölkerung. Im letzten Jahr hungerten weltweit 690 Millionen Menschen. Tendenz seit fünf Jahren steigend. Bereits in zehn Jahren werden es nach einer Schätzung der Welternährungsorganisation FAO mehr als 840 Millionen sein – und diese Schätzung stammt aus „Vor-Corona-Zeiten“. Die UN schätzt derzeit, dass alleine durch die Pandemie die Zahl der Hungernden um 83 bis 132 Millionen Menschen steigen wird. Zwei Drittel davon entfallen auf den afrikanischen Kontinent oder um genauer zu sein auf das Afrika südlich der Sahara.

Diese Zahlen stehen in krassem Gegensatz zu den statistischen Daten zur Pandemie. So kommt das gesamte Sub-Sahara-Afrika auf weniger als 33.000 Menschen, die bis jetzt an oder mit Covid-19 verstorben sind. Zwei Drittel der Toten entfallen übrigens auf das vergleichsweise entwickelte Südafrika. Im gleichen Zeitraum starben auf dem Kontinent rund sechs Millionen Kinder an Unterernährung und rund 300.000 Kinder an Malaria. Verglichen mit diesen epischen Bedrohungen und regionalen Todbringern wie HIV, Ruhr und Tuberkulose stellt Covid-19 in Afrika in der Tat ein marginales Randproblem dar. Doch hier reden wir von der Krankheit und nicht von der politischen Reaktion darauf.

Grund für diese Reaktionen war eine „Horrorprognose“ der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem März. Damals sagte die WHO für den Kontinent „unkontrollierbare Infektionsketten, Millionen Tote und einen Zusammenbruch des Gesundheitssystems“ voraus und forderte die Regierungen mit Nachdruck zu Abwehrmaßnahmen auf. Die wurden getroffen. Länder wie Simbabwe oder Kenia verhängten harte Lockdowns, die Folgen waren verheerend.

Um dies als Europäer zu verstehen, lohnt ein kleiner Exkurs über die afrikanischen Volkswirtschaften. Etwa drei Viertel der Werktätigen in Sub-Sahara-Afrika gehen einer sogenannten informellen Arbeit nach. Sie verdingen sich als Kleinbauern in der Dorfgemeinschaft, stellen selbstständig Güter her, bieten kleine Dienstleistungen an, transportieren Güter oder verkaufen Waren auf lokalen Märkten oder am Straßenrand. Es ist sicher überflüssig zu erwähnen, dass diese informellen Jobs keine soziale Absicherung haben. Sobald der Wirtschaftskreislauf durch Ausgangssperren, Kontakt- und Reiseverbote und Verbote von Märkten unterbrochen wird, stehen diese Menschen vor dem Nichts. Und so kam es, wie es kommen musste.

Kleinbauern fanden keine Möglichkeit mehr, ihre Produkte über Märkte zu verkaufen, und – was langfristig noch schlimmer wiegen wird – vielerorts auch keine Möglichkeit, um an Saatgut für die nächste Aussaat zu kommen. Millionen Viehhalter in der Sahelzone wurden durch den Lockdown daran gehindert, ihre Tiere zur Fütterung in die traditionellen Weidegebiete zu führen. Millionen Wanderarbeiter wurden über Nacht arbeitslos. Felder konnten dadurch nicht bestellt werden. In Folge wurden in den Städten die Waren und Lebensmittel knapp, die Preise stiegen und gleichzeitig brachen die Einkommen weg; schließlich stockte nun auch der Fernhandel, die Grenzen waren geschlossen und mit dem Tourismus brach eine der wenigen Devisenquellen auch noch weg. Hinzu kam der großflächige Wegfall vieler staatlicher und internationaler Hilfsprojekte. Die Einzelheiten hierzu sind einem Positionspapier zahlreicher deutscher Hilfsorganisationen zu entnehmen.

Als sei dies nicht schon schlimm genug, verschärften indirekte Folgen des Lockdowns auf anderen Gebieten die Situation. So mussten durch die Lockdown-Maßnahmen und durch logistische Probleme beispielsweise die medizinischen Therapie- und Prophylaxeprogramme für Malaria, Tuberkulose und HIV flächendeckend heruntergefahren oder gar eingestellt werden. Cholera, Diphterie und Typhus konnten zurückkehren. Das Positionspapier der Hilfsorganisationen stellt hierzu fest, dass „gut zwei Drittel aller regulären Programme, etwa zur Bekämpfung vernachlässigter (Tropen)-Krankheiten, Immunisierungskampagnen, Schwangerenvorsorge, Langzeitbehandlungen von TB, HIV und chronischen Krankheiten sowie der Zugang zu Kontrazeption, aufgrund des Pandemie-Geschehens unterbrochen oder erheblich eingeschränkt“ werden mussten. Alleine die Unterbrechung der Malaria-Programme könnte bis zu 100.000 zusätzliche Todesfälle pro Jahr mit sich bringen, wie die WHO befürchtet – also dreimal so viel wie die Zahl der Covid-19-Opfer. Wie groß der Blutzoll an Menschenleben für die gesamten Kollateralschäden der Maßnahmen in Afrika sein wird, ist unmöglich seriös zu schätzen. Fest steht nur, dass er in keinem Verhältnis zu den direkten Opfern von Covid-19 steht.

“Warum gibt es keinen Aufschrei? Warum schlagen wir so sehr Alarm bei Covid-19 oder Ebola? Aber es ist anscheinend so normal, dass Tausende von Kindern jedes Jahr an Malaria sterben.”
Matshidiso Moeti, WHO-Regionaldirektorin für Afrika

Und hierbei geht es nicht nur um Todesziffern, sondern um das, was Entwicklungshilfeminister Gerd Müller zu Recht als „verlorene Generation“ bezeichnete. Schon vor Corona konnten 263 Millionen Kinder im schulpflichtigen Alter keine Schule besuchen. Durch die Lockdowns in diesem Sommer stieg diese Zahl auf 1,5 Milliarden und betraf 185 Länder weltweit. Gerade in Afrika wurden viele dieser Kinder zur Arbeit gezwungen, verheiratet oder vertrieben, um ein Maul weniger füttern zu müssen. „Und mit jedem Monat wächst die Wahrscheinlichkeit, dass sie nie mehr in die Schulen zurückkehren“, so Müller. In wenigen Monaten wurden die kleinen Erfolge, die durch jahrzehntelange Aufbauarbeit mühevoll erzielt werden konnten, zerstört. Der Rückschlag für den Kontinent ist größer, als es nackte Zahlen beziffern könnten.

Wie konnte es so weit kommen? Hauptschuldiger an dieser Entwicklung ist wohl die WHO, die mit ihrem kontrafaktischen Katastrophenszenario die Länder zu Maßnahmen getrieben hat, die bei nüchterner Sicht der Dinge komplett überzogen waren. Bereits die ersten verlässlichen Studien aus China hätten zu einer Entwarnung führen müssen, besagten sie doch klar, dass Covid-19 eine sehr spezifische Krankheit ist, die vor allem für alte Menschen und Menschen mit bestimmten Vorerkrankungen sehr gefährlich, aber für jüngere Menschen in der Regel ungefährlich ist. Laut jüngstem RKI-Bericht beträgt das aktuelle Medianalter der an oder mit Covid-19 Verstorbenen in Deutschland 83 Jahre. Nur drei Prozent der Afrikaner sind jedoch älter als 65 Jahre. Über 80-Jährige sind ein exotisches Randphänomen. Die wichtigen Risikofaktoren Übergewicht, kardiovaskuläre Erkrankungen oder Typ-2-Diabetes sind in Afrika ebenfalls nur sehr selten anzutreffen. Covid-19 ist eine Erkrankung, die speziell für überalterte, wohlhabende Gesellschaften mit ihren Zivilisationskrankheiten bedrohlich ist. Vor zweihundert Jahren hätte wohl auch in Europa niemand diese Krankheit zur Kenntnis genommen. Ähnliches gilt für das Afrika von heute mit seinem „Youth Bulge“. Ein Land wie Uganda hat ein Medianalter von 15,8 Jahren – in Deutschland sind es 47,1 Jahre.

Hinzu kommt, dass das tropische Klima, ein Alltagsleben, das meist an der frischen Luft stattfindet, und die vergleichsweise geringe Mobilität der typischen Verbreitung von Erkältungsviren nicht eben zuträglich sind. Das alles war im März natürlich bekannt. Um so unverständlicher ist da die desaströse Fehlprognose der WHO. Mittlerweile haben die meisten afrikanischen Staaten ihre Lockdowns schon lange wieder gelockert, aber die Langzeitfolgen machen sich erst jetzt richtig bemerkbar. 2020 wird seit 25 Jahren das erste Jahr sein, in dem die Volkwirtschaft des Kontinents schrumpft. Dies ist für einen Kontinent, der in der demographischen Falle gefangen ist, eine einzige Katastrophe.

Lesen Sie dazu bitte: Brennpunkt Afrika – Auch wenn die Debatte unbequem ist, müssen wir sie endlich führen.

Für die vielbeschworene Weltgemeinschaft wäre es nun eine der vordersten Aufgaben, diese Folgen durch ambitionierte Hilfsprogramme zumindest zu lindern. Doch davon ist leider nichts zu sehen. Im Gegenteil. Auf dem extra zu diesen Fragen einberufenen UN-Sondergipfel dominieren einmal mehr europäische Perspektiven die Debatte. Und für das in Sachen Corona zur Hysterie neigende Europa ist es nun mal anscheinend besonders wichtig, dass auch Afrika in den Genuss unserer experimentellen Impfstoffe kommt. Das freut vor allem die Pharmakonzerne.

Ob ein Covid-19-Impfprogamm in Afrika überhaupt sinnvoll ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Antikörperstudien in zahlreichen afrikanischen Staaten haben gezeigt, dass dort – je nach Staat und Studie – zwischen 10% und 43% der Bevölkerung bereits eine Infektion durchgemacht hatten. Sämtliche Studien gehen dabei von einer im Vergleich zu Europa ungemein niedrigen Mortalitätsrate aus. So legen Studien nahe, dass beispielsweise in Mosambik mit seinen fast 30 Millionen Einwohnern schon im Juni bis zu 10% der Bevölkerung Covid-19 bereits durchgemacht haben – aktuell meldet Mosambik 132 Tote. Sicherlich sind auch die Todeszahlen mit einem Fragezeichen zu versehen und es ist von einer Dunkelziffer auszugehen. Echte Häufungen von symptomatischen Fällen hat es jedoch in ganz Afrika nicht gegeben.

Das viele Geld, dass ein Impfprogramm für den ganzen Kontinent verschlingen würde, wäre gerade in Afrika woanders besser investiert. Aber denken wir doch mal ein wenig weiter und werden dabei sarkastisch: Wohin wollen die westlichen Regierungen mit den Milliarden bereits bezahlten Impfdosen hin, wenn die Impfbereitschaft doch nicht so groß ist, wie angenommen? Da macht es sich doch gut, der „Entsorgung“ auch noch ein humanitäres Mäntelchen zu geben. Ob man Afrika damit hilft, ist nicht von Belang. Aber das war ja schon immer so.

Titelbild: Yaw Niel/shutterstock.com


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