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Titel: Der Staatsphilosoph vor der roten Ampel

Datum: 17. Dezember 2020 um 14:20 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Gesundheitspolitik, Wertedebatte
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„Wir dürfen denken, was wir wollen, aber als Staatsbürger haben wir zu funktionieren“ – dieses Zitat stammt von Richard David Precht. Der Pin-Up-Philosoph der deutschen Talkshow-Prominenz hat kein Verständnis für jegliche Kritik an den Corona-Maßnahmen der Regierung. An Regeln habe man sich zu halten. Punkt. Einem guten Staatsbürger stünde es nicht frei, diese zu interpretieren. Hört auf, selbstständig zu denken, Eure Regierung weiß am besten, was gut für Euch ist. Aussagen wie diese könnten auch von chinesischen oder nordkoreanischen Staatsphilosophen stammen. Erstaunlich, dass derartige Äußerungen heute unwidersprochen bleiben. Haben wir nichts aus unserer Geschichte gelernt? Ein Debattenbeitrag von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ich gebe zu, ich gehöre einer verdorbenen Generation an. Als Kind der 1970er wurde ich in der Schule maßgeblich von Lehrern sozialisiert, die selbst während ihres Studiums gegen alte Autoritäten und staatsbürgerliches Duckmäusertum aufbegehrt hatten. So wurde ich früh an Antihelden wie den obrigkeitshörigen Opportunisten Diederich Heßling aus Heinrich Manns „Der Untertan“ herangeführt und lernte später im Geschichtsunterricht, wohin es führen kann, wenn es zu viele Mitläufer und Duckmäuser gibt, die kritisches Hinterfragen durch blinden Gehorsam ersetzt haben. Diese Lehrer und auch meine Eltern sorgten mit ihrer Erziehung dafür, dass ich Dinge nicht als gegeben hinnehme, sondern stets kritisch hinterfrage.

Daher hatte ich auch noch nie Verständnis für Mitbürger, die des Nachts an einer unbefahrenen Straße so lange an einer roten Ampel stehen bleiben, bis sie grün wird. Für Richard David Precht wäre ich deshalb wohl ein schlechter Staatsbürger. Für ihn ist die rote Ampel nämlich ein Lackmustest für unsere Gesellschaft und nur wer derartige Regeln blind befolgt, ohne sie zu hinterfragen, ist für ihn ein guter Staatsbürger.

„Wenn Sie nachts durch die Stadt fahren und da ist eine rote Ampel. Dann können Sie sich ja auch sagen, diese Ampel, die macht überhaupt keinen Sinn. Da ist kein anderes Auto, da ist kein Fußgänger. Trotzdem nötigt der Staat ihnen ab, an einer roten Ampel zu halten; einfach weil sie ein guter Staatsbürger sind, der hat sich an die Regeln zu halten und es steht ihm nicht frei, diese Regeln zu interpretieren. Persönlich können Sie denken, die Ampel ist sinnlos. Das können Sie auch Ihrer Frau oder Ihren Freunden sagen. Sie müssen sich aber an die Regeln halten und es ist erschreckend, dass wir ungefähr 15% der Bevölkerung haben, die das immer noch nicht verstanden haben.“
Richard David Precht

Precht hat Angst vor Mitmenschen, die „immer noch nicht verstanden haben“, dass man sich an Regeln ohne „Wenn“ und „Aber“ zu halten hat. Mir machen Menschen Angst, die aus blindem Gehorsam heraus jeglichen Rest von Aufsässigkeit in sich unterdrücken. Und noch mehr Angst machen mir staatstragende Philosophen, die diese Form des blinden Gehorsams als eine Art kategorischen Imperativ für unsere Gesellschaft formulieren.

Prechts Zitate stammen aus einem Interview, in dem es um die Kritik an den Corona-Maßnahmen der Regierung ging. Sein Fazit: „Wir dürfen über Corona denken, was wir wollen, aber als Staatsbürger haben wir zu funktionieren“. Wer also Kritik an den Maßnahmen übt, ist für Precht ein dysfunktionaler Staatsbürger. Derartige Argumentationen kennt man eigentlich nur aus totalitären Regimen, die den Staatsbürger nicht als kritisch denkendes Individuum, sondern als funktionalen Teil eines Kollektivs begreifen.

Ist Precht nun etwa zum Staatsphilosophen nordkoreanischer Prägung mutiert? Unwahrscheinlich. Auffällig ist vielmehr, dass der fesche Herr Precht seine eigenen Positionen erstaunlich flexibel an den jeweiligen Zeitgeist anpasst. Noch im März bezeichnete er Corona als „etwas vergleichsweise Harmloses, etwas, was so gefährlich ist wie ‘ne Grippe“. Die Pandemie bewertete er damals noch folgendermaßen: „In einer Gesellschaft, die seit langem keinen Krieg erlebt hat, keine echten(!) Seuchen und Epidemien, keine Massaker, keine Bürgerkriege, [gibt] es so einen gewissen Spaß und Grusel an solchen Ausnahmezuständen und dass man das Gefühl hat, es passiert etwas Besonderes. Und für die Medien ist das natürlich ein gefundenes Fressen“. Wer jedoch denkt, Precht sei damals eine Art Querdenker gewesen, täuscht sich. Denn trotz seiner quergedachten Analyse attestierte der Philosoph damals den Medien und der Politik gute Arbeit. Na klar, als guter Staatsbürger war das ja auch seine Pflicht.

Als der Sommer ins Land zog und die öffentliche Meinung sich gedreht hat, hängte auch Precht sein allwissendes Philosophenfähnlein in den neuen Wind und kritisierte auf einmal die Maßnahmen. In einem Interview mit dem Handelsblatt stellte er nun fest: Man habe „ganz offenkundig in Teilen überreagiert“ und müsse „sich schon überlegen, wie weit man das gesamte öffentliche Leben weiterhin so einschränken sollte.“ Und dass die Staatsbürger damals so gut funktionierten und sich für die „Health-and-Order-Politik“ (sic!) begeisterten, erstaunte den Herrn Philosophen um so mehr. An einen zweiten Lockdown glaubte Precht damals nicht. „Diesen könnten wir überhaupt nicht bezahlen“, so Precht damals.

Doch was interessiert den Claqueur der Mehrheitsmeinung sein Geschwätz von gestern? Wenn es einen Großmeister der intellektuellen Flexibilität gibt, dann ist es Richard David Precht. Er hat zwar zu jedem Thema eine Meinung, doch nur selten kann die Qualität dieser Meinung mit der rhetorischen Eloquenz und gespielten Arriviertheit mithalten, mit der er seine Meinung vorträgt. Precht ist halt ein Talkshow-Philosoph, ein Dampfplauderer, der hervorragend in unsere Zeit passt. Gespielte Kritik, wohlfeile Allgemeinplätze, ein wenig Unausgegorenes zu Modethemen wie Digitalisierung, Kybernetik und künstlicher Intelligenz und fertig ist der Kladderadatsch, der dem Fernsehpublikum als Philosophie verkauft wird.

Eigentlich sollte man ihn ja ignorieren, doch gleichzeitig darf man die Precht’schen Irrungen und Wirrungen auch nicht nur als dummes Geschwätz verharmlosen. Hinter der Popstar-Fassade verbirgt sich nämlich ein reaktionärer Kern. So plädiert Precht beispielsweise auch für ein Grundeinkommen für Erwachsene und einen Wegfall sämtlicher Transferleistungen für Kinder und bewegt sich damit tief im sozialreaktionären Sumpf. Daraus macht er übrigens gar keinen Hehl. „Ich möchte nicht, dass jemand, der 1.500 Euro Grundeinkommen hat und keine Perspektive auf einen Beruf, auf die Idee kommt, fünf Kinder zu kriegen“. Sozialdarwinisten gefällt das. Offenbar sind nicht nur kritische, sondern auch arme Menschen im Precht’schen Weltbild keine guten Staatsbürger. Solche Stimmen passen leider sehr gut zum aktuellen Zeitgeist. Jede Gesellschaft hat die Philosophen, die sie verdient. Wir haben einen sozialreaktionären schwarz-grünen Staatsphilosophen, der des Nachts stundenlang an der roten Ampel steht. Aber hey, immerhin hat er die Haare schön. Hat das ehemalige Land der Dichter und Denker nicht Besseres zu bieten?

Titelbild: Screencap Phoenix via YouTube


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