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Titel: Virologen auf allen Kanälen

Datum: 8. Januar 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Wie wir die Pandemie sehen und welche politischen Maßnahmen wir zur Eindämmung der Pandemie befürworten oder ablehnen, hängt auch stark damit zusammen, welche Informationen wir wie vermittelt bekommen. Gerade für Menschen, die nicht so viel im Internet unterwegs und auch keine eifrigen Zeitungsleser sind, spielen die großen Talkshowformate der Öffentlich-Rechtlichen bei der Meinungsbildung immer noch eine sehr große Rolle. Corona war in diesen Talkshows im letzten Jahr das bestimmende Thema. Die Auswahl der Experten und Gäste war dabei jedoch extrem einseitig. Während Virologen in den fünf großen Formaten auf ganze 88 Auftritte kamen, waren Experten aus anderen Fachbereichen eher eine Ausnahme. Auch bei den eingeladenen Politikern war dieser Trend überdeutlich: So kommt der SPD-Politiker Karl Lauterbach auf sagenhafte 30 Auftritte, in denen er weniger eine umfassende politische Bewertung, sondern meist eine – größtenteils alarmistische – virologische Position zum Besten gab. Wer derart einseitig informiert wird, läuft Gefahr, das Thema auch einseitig zu betrachten. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wertet man die Gästeliste der fünf großen Talkshowformate von ARD und ZDF aus, kommt man zu einem für viele sicher überraschenden Ergebnis. Der allgegenwärtige „Virologie-Papst“ Christian Drosten war in den Talkshows eher eine Randerscheinung. Zwar war er ganze viermal bei Maybrit Illner zu Gast, bei Frank Plasbergs „hart aber fair“, Sandra Maischberger, Anne Will oder Markus Lanz war er jedoch nie. Er hatte wohl „Besseres zu tun“. Zum Beispiel Interviews zu geben und den Printmedien Zitate zu liefern – so ergab eine Datenbankrecherche aus dem Mai, dass Drosten alleine in den ersten fünf Monaten des Jahres bereits auf 1.700 Zitierungen in den regionalen und überregionalen Zeitungen und den Online-Plattformen der Süddeutschen, der Welt und des Spiegels kommt.

Auf den Talkshowsesseln der Republik musste sich Drosten jedoch anderen Virologen geschlagen geben. Jonas Schmidt-Chanasit und Melanie Brinkmann nehmen hier mit jeweils 16 Auftritten die Spitzenrolle ein – beide waren somit sogar häufiger zu sehen als jeder Politiker, mit Ausnahme von Karl Lauterbach. Insgesamt kam der „Berufsstand“ der Virologen und Epidemiologen im letzten Jahr auf 88 Talkshow-Auftritte und dabei sind die Experten aus anderen medizinischen Disziplinen, wie Intensivmediziner oder Lungenfachärzte, noch nicht einmal mitgezählt. Andere Disziplinen waren deutlich weniger präsent. So wurden beispielsweise nur zwei Krankenschwestern, vier Psychologen und ebenfalls nur vier Pädagogen eingeladen. Die Talkshow-Debatte über Covid-19 wurde also zum übergroßen Teil aus der Perspektive von Virologen geführt. Das ist einerseits natürlich nachvollziehbar, handelt es sich doch um eine Viruserkrankung, führt andererseits jedoch auch dazu, dass andere Perspektiven auf die Pandemie in eine untergeordnete Rolle geschoben wurden.

So waren beispielsweise Pädagogen, die die Themenbereiche Schulschließungen und Maskenpflicht im Unterricht aus pädagogischer Sichtweise hätten vermitteln können, nur selten zu Gast. Das Gleiche gilt für Psychologen, die etwas zu den psychologischen Folgen der Lockdown-Maßnahmen berichten könnten, oder Soziologen, die eine Bewertung vornehmen könnten, was die Maßnahmen für unsere Gesellschaft bedeuten. All diese Aspekte sind auch ungemein wichtig, spielten in den Talkshows jedoch nur eine Nischenrolle.

Das Gleiche gilt für diejenigen, die direkt negativ von den Maßnahmen betroffen waren. Die NachDenkSeiten hatten diese Stimmen von ihren Lesern gesammelt und mittlerweile auch in Buchform publiziert. In den Talkshows kamen diese Stimmen kaum zu Wort. Hier gab es jedoch große Unterschiede innerhalb der Talkshowformate. Während in Plasbergs „hart aber fair“ immerhin regelmäßig auch „normale“ Menschen zu Wort kamen, die als Krankenschwestern, Altenpfleger, Hoteliers, Gastwirte, Schüler, Studenten oder Schauspieler zu den Leidtragenden der Maßnahmen gehörten, kamen solche Stimmen im Format „Anne Will“ außerhalb von kurzen Einspielern so gut wie gar nicht zu Wort.

Vor allem dieses Format fiel auch besonders negativ in der Auswahl der geladenen Virologen auf. Während allen voran bei Markus Lanz noch der Ansatz zu erkennen war, auch Virologen zu Wort kommen zu lassen, die auch mal ein wenig über den Tellerrand hinausblicken, waren bei Anne Will vor allem solche Virologen zu Gast, die auch als Regierungsberater durch einen besonders eingeengten Fokus auf ihre eigene Disziplin aufgefallen sind – allen voran Melanie Brinkmann, Michael Meyer-Hermann und Viola Priesemann. Letztere sind übrigens streng genommen gar keine Virologen, sondern Physiker, die jedoch als Virologen eingeladen wurden.

Den diskursiven Spagat, in dem sich eine solche Debatte bewegen muss, hat der (echte) Virologe Alexander Kekulé einmal schön zusammengefasst. Sinngemäß sagte er, dass aus rein virologischer Sicht ein weltweiter dreiwöchiger Totallockdown natürlich das Maß aller Dinge sei. Wenn alle Menschen drei Wochen lang zu Hause bleiben und keine Außenkontakte haben, wäre die Verbreitung des Virus gestoppt. Das ist natürlich richtig, aber es ist auch klar, dass dieses Gedankenspiel so nicht umgesetzt werden kann.

Die Bekämpfung der Pandemie ist immer ein Abwägen verschiedener Aspekte, die durch verschiedene wissenschaftliche Disziplinen abgedeckt werden. Daher wäre es für eine umfassende Meinungsbildung auch so wichtig, die Positionen aller beteiligten Disziplinen zu vermitteln. So kann man beispielsweise das Thema Kita- und Schulschließungen nicht nur unter der epidemiologischen Perspektive diskutieren, sondern muss auch Pädagogen, Psychologen, Soziologen und auch Ökonomen zu Wort kommen lassen, um die gesamtgesellschaftlichen Vor- und Nachteile einer solchen Maßnahme bewerten zu können. Werden über die Meinungsfabrik Talkshow nun aber nur die Perspektiven von Forschern wie Meyer-Hermann oder Priesemann verbreitet, die die epidemiologische Entwicklung mit Hilfe von Computermodellen berechnen, wird man nie eine gesamtgesellschaftliche Abwägung vornehmen können. Und diesen Schuh müssen sich die Talkshows und letztlich auch die gesamten traditionellen Medien anziehen; denn auch in Print, Funk und anderen TV-Formaten, wie den Nachrichten, gab es diese massive Konzentration auf die virologische und epidemiologische Sichtweise.

Da ist es auch kein Wunder, dass so viele Mitbürger die gesamte Corona-Thematik, die ja für fast alle von uns neu ist, ebenfalls allen voran aus der Perspektive eines Virologen betrachten und dabei andere Aspekte aus dem Blickwinkel lassen.

Nicht vergessen darf man bei der Betrachtung der großen Talkshows jedoch auch, dass es keine einzige große Talkshow im letzten Jahr geschafft hat, auch nur ein einziges Mal einen grundsätzlichen Kritiker der Corona-Politik einzuladen. Das ist blamabel. Man kann die Aussagen von Personen wie Sucharit Bhakdi, Angela Spelsberg oder Michael Ballweg ja durchaus kritisch sehen; sie in den großen Talkshowformaten aber vollständig zu tabuisieren und zu ignorieren, zeugt nicht gerade von einem erwachsenen demokratischen Diskurs.

So haben die Talkshow-Formate weniger zur demokratischen Meinungsbildung als vielmehr zur Vermittlung der Regierungslinie beigetragen und dazu geführt, dass viele unserer Mitbürger die gesamte Corona-Thematik nur noch aus virologischer Sicht betrachten. Waren wir früher ein Volk von 80 Millionen Bundestrainern, sind wir heute ein Volk von 80 Millionen Virologen – fast jeder weiß nun, was PCR-Tests, Aerosole und Inzidenzwerte sind, doch nur wenige sind in der Lage, die Corona-Politik mit Dingen wie Vereinsamung, Soziophobie, wirtschaftlichen Daseinsängsten oder einer immer größeren Ungleichheit im Bildungssystem zusammenzubringen. Und daran sind auch die Talkshows schuld.

Titelbild: Screencap ARD


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