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Titel: Michael Hartmann: „Ärmere Haushalte müssen sofort massive Hilfe erfahren“

Datum: 1. Februar 2021 um 9:10 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Interviews, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Ob in den USA, in anderen westlichen Industriestaaten oder in Deutschland: Die Pandemie setzt den Armen schwer zu. Betroffen sind insbesondere auch die Kinder. „Die Bildungsbenachteiligung für diese Kinder wird massiv zunehmen“, sagt der Soziologe Michael Hartmann im Interview mit den NachDenkSeiten. Der Rückstand der armen Kinder werde deutlich größer ausfallen, als es bisher schon der Fall war. „Die Konsequenzen“, so der Eliteforscher, „wird man in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehen.“ Ein Interview über die Lage armer Kinder in der Pandemie, die schweren Auswirkungen auf geringfügig Beschäftigte und die Frage, was Politiker nun unternehmen sollten. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Michael Hartmann war 2017 Gast der Pleisweiler Gespräche und bot bei seinem Vortrag viele Einsichten in die wirkliche Lage der Einkommens- und Vermögensverteilung und zu den Hintergründen.

Herr Hartmann, in den vergangenen Monaten war immer mal wieder zu hören, das Virus mache nicht vor Klassengrenzen Halt. Es treffe Arme, aber auch Reiche.
Die Realität ist aber doch: In der Pandemie gibt es sehr wohl ziemliche Unterschiede zwischen den Armen und Reichen. Wie sehen Sie das?

Natürlich gibt es große Unterschiede. Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas. Sie macht schon existierende Unterschiede deutlicher und verstärkt sie gleichzeitig. Früher und auch deutlicher als in Deutschland war das in den USA zu beobachten, weil die erste Welle dort sehr viel stärker ausfiel und bei den statistischen Erhebungen fast immer nach „Race“ unterschieden wird.

Wie meinen Sie das?

Die Afroamerikaner waren dreimal häufiger von einer Infektion durch Covid 19 betroffen als ihre weißen Landsleute und sie starben sogar fast viermal häufiger daran. Der wesentliche Grund für diese enorme Differenz ist in den unterschiedlichen Lebensbedingungen zu suchen. Das Haushaltseinkommen der weißen US-Amerikaner liegt mit gut 76.000 Dollar um zwei Drittel höher als das ihrer schwarzen Mitbürger, die es nur auf gut 45.000 Dollar bringen. Hier schlägt sich nieder, dass die Afroamerikaner in der Regel deutlich schlechter bezahlte und unsicherere Jobs haben. Im Niedriglohnsektor sind sie weit überproportional vertreten. Das bedeutet unter anderem auch, dass sie seltener krankenversichert sind. All das macht sie für die Pandemie wesentlich anfälliger.

Wer über wenig Geld verfügt, wohnt natürlich oft auch anders als die, die über mehr finanzielle Mittel verfügen.

Natürlich, die Wohnungen sind oft vergleichsweise klein und schlecht ausgestattet. Das Risiko gegenseitiger Ansteckungen wird so erheblich erhöht. Hinzu kommt die ohnehin nicht sonderlich gesunde Wohnumgebung in den großstädtischen Ghettos. Wie schon gesagt, setzt sich das Problem fort mit der Tatsache, dass jeder neunte Schwarze überhaupt nicht krankenversichert ist und dementsprechend einen Besuch beim Arzt soweit wie irgend möglich zu vermeiden sucht. Dann können viele, selbst wenn sie zum Arzt gehen wollen, das mit ihrer Arbeit nicht vereinbaren. Sie müssen in so einem Fall mit einer Kündigung rechnen. Außerdem üben sie oft Tätigkeiten aus wie das Austragen von Paketen, das Auffüllen von Regalen oder das Fahren von Bussen, die kein Home-Office erlauben, und sind damit den Ansteckungsgefahren stärker ausgesetzt. Alles zusammen sorgt für die vergleichsweise hohen Infektions- und Todeszahlen.

Wie sieht es denn mit den wirtschaftlichen Folgen für diese Gruppe aus?

Auch darunter leiden die Afroamerikaner erheblich stärker. Nach dem Auslaufen der ersten Welle im Sommer hatte sich der Arbeitsmarkt insgesamt zwar erholt, das Rekordtief bei der Arbeitslosenquote von 15 Prozent fast halbiert auf weniger als acht Prozent.

Aber?

Das galt in erster Linie aber nur für die besser bezahlten Jobs, die überwiegend von Weißen besetzt werden. Von den weißen Männern waren im Sommer nur noch gut sechs Prozent arbeitslos, während die Arbeitslosigkeit bei den Schwarzen wie auch bei den Hispanics mit elf Prozent auf einem relativ hohen Stand verblieben war. An dieser Differenz hat sich bis heute kaum etwas geändert. Dieser Unterschied lässt sich im Kern auch in allen anderen westlichen Industriestaaten feststellen. Er fällt allerdings immer dort am stärksten aus, wo wie in den USA große Rassen- und Klassengegensätze zusammenfallen.

Wie sieht es in Deutschland mit der Ungleichheit in der Corona-Krise aus?

In Deutschland bietet sich im Großen und Ganzen ein ähnliches, allerdings nicht ganz so krasses Bild, weil die Gegensätze auch dank eines anderen Gesundheitssystems nicht so scharf ausgeprägt sind wie in den USA. Die Corona-Pandemie trifft in Deutschland ebenfalls diejenigen am härtesten, die schon vorher mit vergleichsweise schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen hatten. So mussten nach einer aktuellen Untersuchung des WSI Langzeitarbeitslose in der ersten Jahreshälfte 2020 fast doppelt so häufig wegen Corona in ein Krankenhaus eingewiesen werden wie Beschäftigte. Auch kurzfristig arbeitslos gewordene Personen waren wegen Corona um über ein Drittel häufiger im Krankenhaus.

Insbesondere auch geringfügig Beschäftigte dürften betroffen sein.

Davon ist auszugehen, denn: Allein bis Ende Juni 2020 hat nach Angaben des DIW jeder achte Minijobber seinen Job verloren, insgesamt 850.000. Fast ein Viertel davon entfiel allein auf die Restaurants und Gaststätten. Inzwischen dürfte die Gesamtzahl bei über einer Million liegen. Für 60 Prozent von ihnen war das ihre Haupttätigkeit, von der sie leben mussten. Das waren über viereinhalb Millionen Menschen. Ganz allgemein sind Haushalte umso stärker betroffen, je weiter unten in der Einkommensskala sie angesiedelt sind. Haushalte mit einem Einkommen von bis zu 1.500 Euro netto haben gemäß der WSI-Studie in der ersten Welle der Pandemie fast doppelt so häufig Einbußen erlitten wie Haushalte mit mehr als 4.500 Euro netto. Es traf fast jeden zweiten und die Verluste waren auch weit größer. Mehr als die Hälfte musste auf mindestens ein Viertel seines Einkommens verzichten. Bei den hohen Einkommensgruppen war das nur gut jeder vierte. Da macht sich bemerkbar, dass Minijobber keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld haben und bei den übrigen Empfängern niedriger Einkommen auch nur bei jedem dritten das sowieso schon sehr geringe Kurzarbeitergeld aufgestockt wird. In der zweiten Welle dürfte sich diese ungleiche Betroffenheit verstärkt fortgesetzt haben.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie also auf die Kluft zwischen Arm und Reich hierzulande?

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist größer geworden. Die hohen Vermögen haben, wie man an den Aktienkursen ablesen kann, ihre anfänglichen Verluste inzwischen wieder wettgemacht, wenn sie nicht sogar dazugewonnen haben. Die hundert reichsten Deutschen sind heute deutlich reicher, als sie es Ende 2019 waren. Auch hier gilt die Regel, dass der Teufel immer auf den größten Haufen scheißt, und umgekehrt. Je weniger jemand vor dem Ausbruch der Pandemie hatte, umso stärker ist er von Verlusten betroffen. Das gilt auch für die, die schon zuvor nur Schulden hatten. Die Schulden sind weiter gestiegen, durch Mietrückstände, Überziehungskredite aufgrund fehlender Einkommen etc. Bei den Reichen ist es genau umgekehrt. Zwar gibt es auch hier Verlierer wie etwa Großgastronomen oder Großveranstalter. Insgesamt aber hat diese Gruppe, soweit man das jetzt schon aus Einzelanalysen herauslesen kann, ihren Anteil am Gesamteinkommen wie vor allem am Gesamtvermögen noch steigern können. Während die Aktienportfolios in ihrer Gesamtheit mittlerweile wieder auf dem Niveau von Anfang 2020 stehen und die Immobilienpreise sogar weiter zugenommen haben, haben die Reallöhne den Verlust aus dem zweiten Quartal von 4,7 Prozent, ein noch stärkerer Rückgang als in der Finanzkrise 2008/2009, nicht wieder aufholen können. Dieser Rückgang ist dabei sehr ungleich verteilt, fällt umso größer aus, je weniger jemand vorher schon verdient hat. Nimmt man noch die Menschen dazu, die überhaupt kein Erwerbseinkommen haben, wird die Kluft noch deutlicher.

Wo sehen Sie noch Probleme?

Die sehe ich vor allem im Bereich der Bildung. Der flächendeckende Ausfall des Präsenzunterrichts trifft die Kinder aus armen Familien viel härter als die aus durchschnittlichen oder gar aus wohlhabenden Familien. Das hat verschiedene Gründe, von der im Haushalt gesprochenen Sprache bei Migrantenfamilien über fehlende oder beengte Räumlichkeiten bis hin zur schlechten Ausstattung mit IT-Geräten. So klagt fast jedes zweite Kind aus armen Familien über nicht genug Platz zum Lernen zuhause, jedes sogar achte über gar keinen Platz. Auch hat jedes vierte keine Möglichkeit, ins Internet zu gelangen. Bei den übrigen drei Vierteln bleibt vielfach nur das Smartphone. Damit kann man dem Unterricht oft aber nur beschränkt folgen. Die Konsequenzen wird man in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehen. Die Bildungsbenachteiligung für diese Kinder wird massiv zunehmen, ihr Rückstand deutlich größer ausfallen als bisher schon und ihre Lebenschancen werden damit noch einmal schlechter sein, als sie es heute schon sind. Der Teufelskreis von Armut und niedrigen Bildungsabschlüssen wird an Fahrt gewinnen.

Welche Schritte müssten von politischer Seite unternommen werden?

Meiner Meinung nach wären drei Schritte ganz besonders wichtig. Erstens müssten ärmere Haushalte sofort massive Hilfe erfahren.

Wie das?

Durch großzügige Einmalzahlungen, eine deutliche Anhebung der Hartz-IV-Sätze, wenn man Hartz IV schon nicht abschaffen kann, und eine Wiedereinsetzung der Regelung für Mietrückstände über den 30. Juni 2020 hinaus, die Kündigungen aufgrund fehlender Mietzahlungen ausschloss.

Zweitens?

Kinder aus ärmeren Haushalten müssen soweit irgend möglich wieder den Zugang zu KITAs und Schulen erhalten oder, wo das nicht möglich ist, sofort die für einen Distanzunterricht notwendige IT-Ausrüstung zur Verfügung gestellt bekommen. Drittens schließlich müsste eine Form des Lastenausgleichs beschlossen werden, die dafür sorgt, dass die Kosten der Corona-Pandemie nicht wieder wie bei der Finanzkrise überwiegend von der Normalbevölkerung getragen werden, sondern von den Wohlhabenden und Reichen.

Ihnen ist aber schon klar, wie weit die aktuelle Politik von diesen Forderungen entfernt ist?

Deshalb bin ich skeptisch, was sich davon durchsetzen lässt. Die Kräfteverhältnisse haben sich durch den Arbeitsplatzverlust und die Verschuldung vieler Menschen zugunsten der herrschenden Klasse verändert. Die aber wird solche Maßnahmen nicht einfach hinnehmen.

Lassen Sie mich bitte kurz einhaken. Sie verwenden den Ausdruck „herrschende Klasse“. Alleine schon eine einfache Suche auf Google News zeigt: Leitmedien verwenden diesen Begriff allenfalls im Zusammenhang mit fernen Ländern. Wenn Sie als Soziologe diesen Ausdruck gebrauchen, haben Sie wahrscheinlich einen guten Grund dafür, oder?

Ich verwende den Begriff, weil er die grundlegenden Machtverhältnisse in der Gesellschaft deutlich macht. Aus der sozialwissenschaftlichen Diskussion wie auch in den Medien hierzulande ist er nach dem Krieg leider so gut wie vollständig verschwunden. Das ist in Frankreich, Großbritannien oder den USA etwas anders. Dort wurde und wird er durchaus noch benutzt, auch von prominenten Vertretern wie Pierre Bourdieu oder Robert Reich. Mit herrschender Klasse meine ich im Unterschied zum landläufigen Verständnis allerdings nicht einfach die Kapitalbesitzer. Ich stimme hier mit der Position von C. Wright Mills überein. Er hat zu recht davor gewarnt, ökonomisch herrschend einfach mit politisch herrschend gleichzusetzen und damit die Autonomie der politischen Elite zu unterschätzen. Zur herrschenden Klasse gehören natürlich die großen Kapitaleigner. Dazu kommen dann aber auch jene Personen, die Elitepositionen in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen über lange Zeit innehaben wie etwa Wolfgang Schäuble in der Politik oder Rudolf Mellinghoff in der Justiz. Schäuble war seit 1984 allein zwei Jahrzehnte Bundesminister und in der übrigen Zeit Partei- und Fraktionsvorsitzender. Mellinghoff ist nach über einem Jahrzehnt als Bundesverfassungsrichter inzwischen fast ein Jahrzehnt Präsident des Bundesfinanzhofs. Beide kommen außerdem, was wichtig ist, aus bürgerlichen Familien. Die herrschende Klasse unterscheidet sich von den Eliten vor allem in zwei zentralen Punkten. Sie ist erheblich homogener und man gehört ihr über lange Zeit an. Eine Eliteposition als Minister oder Chefredakteur kann man auch nur für ein oder zwei Jahre innehaben und sie dann wieder verlieren. Mitglied der herrschenden Klasse ist man in der Regel über Jahrzehnte. Außerdem ist der Zusammenhang innerhalb der herrschenden Klasse durch die dauerhaften Kontakte untereinander und die oft gleiche oder zumindest sehr ähnliche soziale Herkunft aus Bürger- oder Großbürgertum sehr viel enger.

Nochmal zu Ihren Vorschlägen: In welche Richtung wird es politisch gehen?

Einen Vorgeschmack auf die kommenden Auseinandersetzungen bietet derzeit die Reaktion auf den Vorschlag von Kanzleramtsminister Braun, die Schuldenbremse für mehrere Jahre auszusetzen. Dieser Versuchsballon zeigt zwar, dass es auch unter den Eliten und innerhalb der herrschenden Klasse noch keine eindeutige Linie gibt, die sofortigen heftigen Proteste seitens der Mehrheit der CDU/CSU-Fraktion und der Wirtschaftsvertreter weisen aber die Richtung. Die Kosten sollen nach Möglichkeit wie bei der Finanzkrise verteilt werden. Dafür spricht auch, dass der Gedanke an eine Vermögensabgabe fast so schnell wieder von der politischen Tagesordnung verschwunden ist, wie er im letzten Jahr seitens der SPD-Ko-Vorsitzenden Saskia Esken auftauchte. Trotz meiner Skepsis bleibt einem aber nichts anderes übrig, als für solche Maßnahmen zu kämpfen.

Titelbild: Fabiophototravel/shutterstock.com

Lesetipp: Hartmann, Michael. Die Abgehobenen. Wie die Eliten die Demokratie gefährden. Campus. 276 Seiten. 19,95 Euro.

Hartmann, Michael: Soziale Ungleichheit – Kein Thema für die Eliten. Campus. 256 Seiten. Mai 2013.

Mills, C. Wright: Die Machtelite. Westend Verlag, Frankfurt/Main 2019, 574 Seiten, gebunden, 29,99 Euro.


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