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Titel: Aus Sicht der „Sieger der Geschichte“

Datum: 18. Juni 2021 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Dass die Geschichte (samt ihren dazugehörigen Geschichten) von den Siegern geschrieben wird, ist nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern schon lange eine Binsenweisheit. Dabei denken die meisten Menschen jedoch eher an längst vergangene Zeiten vor hunderten oder tausenden Jahren, als mangels alternativer Aufzeichnungen der Hergang der Geschichte ausschließlich von den Siegern festgehalten wurde. Und dieser Hergang wurde durch einseitige, beschönigende oder gar vollständig falsche Darstellungen mehr oder minder stark verzerrt oder gar komplett entstellt. Dass Geschichte jedoch auch heute, unter unser aller Augen, falsch geschrieben wird, vermag sich kaum jemand vorzustellen. Von Lutz Hausstein.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wir hören und sehen die Geschichtsschreibung unserer jüngsten Vergangenheit und dennoch hören und sehen wir nicht, wie die Geschichte verfälscht wird. Gerade den Deutschen begegnet dies Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Seit mehr als 30 Jahren. In Reden von Politikern, in politischen Kommentaren in Tageszeitungen und im Fernsehen, ja, inzwischen sogar in unserer eigenen privaten Kommunikation abseits der Medien, denn diese verzerrte Sicht auf die Geschichte ist längst in unser eigenes Geschichtsbild übergegangen. Und dennoch sehen wir es nicht, hören es nicht, begreifen es nicht. Denn die Geschichte Ostdeutschlands wurde und wird bis heute in Teilen massiv umgeschrieben.

Schon einmal hatte ich auf dieses Phänomen hingewiesen, im Zusammenhang der Betrachtung des außenpolitischen Verhältnisses „der“ Deutschen zu den USA auf der einen Seite und zu Russland andererseits. Die Tatsache, dass die beiden Teile Deutschlands zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Wiedervereinigung vollständig getrennte Länder mit jeweils eigenen außen-, aber auch innenpolitischen Gegebenheiten waren, wird nur selten auch genau so zur Kenntnis genommen und medial wiedergegeben. Stattdessen existiert Geschichte in der Zeit der Parallelstaatlichkeit von DDR und BRD in der Regel nur als Geschichte aus dem Blickwinkel der alten Bundesrepublik. Lassen wir einmal ein paar Beispiele in Ruhe auf uns wirken.

Wenn heute in der Öffentlichkeit über die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 gesprochen wird, verklärt sich der allgemeine Blick und mit einem seligen Lächeln fällt der Satz: „Wir sind Weltmeister geworden. Mit der Achse Maier, Beckenbauer, Overath und Gerd Müller.“ Alternativ vielleicht auch: „Deutschland wurde Fußball-Weltmeister 1974.“ Kaum jemand würde dies heute in Abrede stellen. Doch war dies wirklich so? Sind wir Weltmeister geworden? Oder sind wir nicht in der Zwischenrunde gegen Brasilien, die Niederlande und Argentinien ausgeschieden? Das vereinnahmende „Wir“ – und erst recht natürlich das völlig falsche und dennoch damals durchgängig und selbst heute noch häufig gebrauchte „Deutschland“ – negiert die Existenz des anderen Teils des damals zweigeteilten Deutschlands. Diese Ignoranz ist umso bemerkenswerter, da die DDR-Mannschaft ja sogar unmittelbarer Teilnehmer dieser WM-Endrunde war – und hier sogar gegen das auch so benannte „Deutschland“ in der Vorrunde spielte – und somit jeder vor Augen haben müsste, dass weder „wir“ noch „Deutschland“ Weltmeister geworden sein konnten.

Doch nicht nur in diesem Punkt wird den Menschen im Land vermittelt, dass es nur eine einzige Vergangenheit – nämlich die Westdeutschlands, sprich der BRD – gibt. Der deutsche Raumfahrer Ulrich Walter wies bei Markus Lanz einmal darauf hin, dass er auf die Frage, wer der erste Deutsche im Weltraum war, entweder betretenes Schweigen ernte oder ein eher fragendes „Ulf Merbold“ als Antwort erhält. Dass jedoch der DDR-Bürger Sigmund Jähn der erste Deutsche war, der 1978 ins All geflogen ist, ist im westdeutschen Geschichtsbewusstsein bei nur Wenigen verankert. Dazu trug auch der unwürdige Umgang der Bundesregierung mit der Persönlichkeit Sigmund Jähn zeitlebens wie auch ein weiteres Mal zu seinem Tod maßgeblich bei. Dem war schon eine gepflegte Ignoranz anlässlich des 80. Geburtstages von Jähn wie auch des 40. Jahrestages seines Weltraumfluges vorausgegangen. Sigmund Jähn als einer der DDR-Bürger mit den größten wissenschaftlichen Verdiensten fand nach der Wiedervereinigung in der Öffentlichkeit einfach nicht mehr statt.

Derlei Beispiele ließen sich noch viele finden. Den meisten, in West wie in Ost, ist der großartige Zoologe, Tierverhaltensforscher und Zoodirektor Bernhard Grzimek wenigstens dem Namen nach ein Begriff. Für viele ist Grzimek auch heute noch, über 30 Jahre nach seinem Tod, ein Idol. Doch wer kennt im Westen schon den Namen Heinrich Dathe, der sich als Zoologe und Direktor des Tierparks Berlin ein weltweites Renommee erwarb? Während Dathe nach dem Ende der DDR schlagartig dem Vergessen anheimfiel und an ihn nur noch äußerst sporadisch und mit ausschließlich regionaler Beschränkung erinnert wird, wird die Erinnerung an Bernhard Grzimek auch heute noch aktiv wachgehalten. So steht für die Zeit der getrennten Staatlichkeit einer größtenteils funktionierenden westdeutschen Erinnerungskultur ein großes ostdeutsches Nichts gegenüber. Die DDR hat – außerhalb des 17. Juni 1953, des 13. August 1961, der Staatssicherheit, der Existenz der Mauer und der friedlichen Revolution – einfach nicht stattgefunden.

Es ist genau dieses Kontinuum, dass die Geschichtszeichnung für Deutschland zu Zeiten der getrennten Staatlichkeit so einseitig verzerrt. Während man von ostdeutsch Sozialisierten wie selbstverständlich erwartet, Kenntnisse über die bundesrepublikanische Vergangenheit auch der Zeit von 1945-1990 zu haben, da dies zum Allgemeinwissen gehöre, gilt das umgekehrt nicht. DDR-Geschichte, egal ob sie geschichtliche Vorgänge oder verschiedenste Personen der Öffentlichkeit betrifft, ist vernachlässigbar, während die Historie der alten BRD die einzig wahre Geschichte ist. Denn der Sieger (der Wiedervereinigung) schreibt die Geschichte. Das ist jedoch nicht nur eine völlig unzulässige Verzerrung der Geschichtsschreibung, sondern es ist auch genau der Aspekt, den Ostdeutsche in diesem Zusammenhang als die mangelnde Anerkennung ihrer eigenen Lebensleistungen und die anderer DDR-Sozialisierter beklagen.

Dieser Tatsachen bin ich mir schon seit Längerem bewusst. Ein neues, tieferes Verständnis für die Gründe dieser einseitigen Darstellung und der Verzerrung der Geschichte erhielt ich jedoch, als ich den Artikel von Stefan Sasse, der u.a. Geschichte studiert und mehrere Bücher zu historischen Themen veröffentlicht hat, auf seinem Blog „Deliberation Daily“ gelesen hatte, der sich mit der „Bilderstürmerei“ in Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung im vergangenen Jahr auseinandergesetzt hat. Seinen Ausführungen zu diesen Vorgängen verdanke ich einen neuartigen Zugang zum Umgang mit der DDR-Geschichte.

In seinem Artikel hinterfragt Stefan Sasse die rituelle Bedeutung von Denkmälern oder der Benennung von Straßen, Schulen oder Kasernen nach bestimmten Personen. Darin beschreibt er, dass Statuen – sowie alle weiteren vorgenannten Gedenkrituale – weniger der Huldigung dieser Personen an sich dienen, sondern vielmehr die dahinterstehende Idee repräsentieren. Werden durch eine Gesellschaft Statuen aufgestellt, symbolisiert dies die Macht der dahinterstehenden Idee. Werden die Statuen durch eine darauffolgende, gegnerische Macht gestürzt, vernichtet oder anderweitig beseitigt, ist in diesem Verständnis der Sturz der damit verbundenen Idee zu verstehen. Nicht die Huldigung der jeweiligen Person soll mit dem Sturz oder der Ausradierung seines Namens beendet werden, sondern der Sieg der neuen Idee, der neuen Macht über die alte.

Wer erinnert sich nicht an die Umbenennung von x-tausenden Straßen in Ostdeutschland zu Beginn bis Mitte der 90er Jahre. Die wenigsten davon waren sachlich gerechtfertigt. Den überschaubar wenigen Menschen, die sich echter Verbrechen während der sozialistischen Herrschaftszeit schuldig gemacht hatten und denen dennoch mit der Benennung von Straßen, aber auch Gebäuden gehuldigt wurde, stehen Abertausende gegenüber, denen kein einziges Verbrechen, außer einer mehr oder minder starken Verbundenheit zum vergangenen System, zur Last gelegt werden konnte. Mehr noch. Selbst historische Persönlichkeiten, die schon seit Jahrhunderten tot sind und die schon allein aus diesem Grund keine diesbezügliche Schuld auf sich geladen haben konnten, fielen der modernen „Namensstürmerei“ anheim. Selbst der Name eines Thomas Müntzer, des legendären Revolutionärs der Bauernkriege, der aktiv Maßnahmen zu mehr sozialer Gerechtigkeit im 16. Jahrhundert vorantrieb, wurde mancherorts durch Umbenennungen aus der Erinnerung getilgt. Und das einzig und allein deswegen, weil der Name Thomas Müntzer symbolhaft für das Streben nach mehr sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit und für den Kampf gegen die „gottgegebene“ Herrschaftskaste stand und die DDR ihm aus ebendiesem Grund gehuldigt hatte. Stattdessen erhielten diese Straßen und Gebäude teils zweifelhafte „Ehrennamen“ diverser Militaristen oder Industrieller des 19. und 20. Jahrhunderts. Dies ist wohl eines der deutlichsten Beispiele, anhand dessen sich zeigen lässt, wie der Kapitalismus mit der Namensstreichung vor allem die Idee, für die der Namensgeber symbolisch steht, als besiegt darstellen und delegitimieren wollte und stattdessen mit seinen eigenen Symbolen als siegreiche Idee füllte.

Wenn viele Ostdeutsche seit Längerem beklagen, dass sie ihre Lebensleistungen zu wenig oder gar nicht geachtet fühlen, hat es vor allem seine Ursache darin, dass nach der „feindlichen Übernahme der DDR auf Wunsch der Übernommenen“ (Daniela Dahn) der Kapitalismus alles daran setzte, die Idee des Sozialismus zu delegitimieren, indem er seine Symbole diskreditierte oder verschwinden ließ. Wenn Thomas-Müntzer-Straßen und Rosa-Luxemburg-Plätze umbenannt wurden, wenn Heinrich Dathe fast vollständig dem Vergessen anheimfiel (bzw. anheimgefallen lassen wurde) und Sigmund Jähn ebenfalls mit allen Mitteln aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht werden soll, indem die Stadt Halle im Februar dieses Jahres beschloss, das seit 1978 mit dem Namen Sigmund Jähns versehene Raumflugplanetarium, das aufgrund von Hochwasserschäden an einem neuen Standort errichtet werden musste, nun ohne seinen Namen neu zu eröffnen, fühlen sich viele Ostdeutsche ihrer eigenen Vergangenheit beraubt. Sämtliche klingelnden Beteuerungen von Politikern, dies nun aber ändern zu wollen, klingen nach über 30 Jahren in den Ohren der Ostdeutschen nur noch wie Hohn.

So stellt sich den Menschen im gemeinsamen Deutschland vor allem eine Aufgabe: Wir können zwar die medialen und politisch vorangetriebenen Falschdarstellungen der getrennt erlebten deutschen Geschichte an diesen exponierten Stellen nicht beeinflussen. Umso mehr ist es aber unsere gemeinsame Aufgabe, uns im gegenseitigen Austausch diese unsere Geschichte wechselseitig zu vermitteln. Auch hier gilt wie in allen anderen Bereichen des Lebens: Um den Anderen zu verstehen, müssen wir ihn seine Geschichte erzählen lassen, ihm zuhören und seine Beweggründe begreifen lernen. Das ist der beste Weg, um Ressentiments abzubauen und sich selbst einen objektiveren Blick auf die Geschichte zu verschaffen. Verspielen wir diese Chance, wird dieser Teil der Geschichte dauerhaft von den Siegern umgeschrieben worden sein. Etwas anderes können wir von den Geschichte(n)erzählern leider nicht erwarten.
Titelbild: Triff/shutterstock.com


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