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Titel: Ist die sexuelle Ausrichtung der Menschen ihre größte Sorge und deshalb ein wichtiges öffentliches Thema?

Datum: 24. Juni 2021 um 16:01 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gleichstellung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Wertedebatte
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Das sind ergänzende Anmerkungen zu diesem Beitrag Fußball, Politik und die Regenbogen-Moral (nachdenkseiten.de) und damit zum „Regenbogen“ und zu einer selbstgerechten und geradezu lächerlichen Debatte. Sexualität und der gesellschaftliche Umgang damit ist wichtig in unserem Leben. Aber vermutlich fast alle Menschen sind von anderen Problemen sehr viel mehr betroffen. Es ist deshalb erstaunlich, dass die Vielfalt unserer sexuellen Ausrichtung immer wieder wie auch gestern Abend im Umfeld des Fußballspiels in München zum großen Thema gemacht wird. Wenn „Deutschland“ auf die vielen Regenbogen all überall im Land stolz ist und wenn die Bundeskanzlerin und die EU-Kommissionspräsidentin auf Ungarn als Bösewicht hinweisen, dann ist das zutiefst heuchlerisch. Deutschland, und insbesondere Westdeutschland, hat lange gebraucht, um sich von ausgesprochen kritisch zu betrachtenden sexuellen Zwängen und Ungerechtigkeiten zu verabschieden. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Man hätte die Fußballstadien nutzen können, um wichtige gesellschaftliche Anliegen unter ein großes Publikum zu bringen.

Wenn die Allianz-Arena in München zum Beispiel nacheinander von folgenden Schriftzügen oder entsprechenden Symbolen geziert worden wäre, dann hätte man darüber reden können:

  • Unbefristete Arbeitsverträge auch für unsere Jugend!
  • Gerechtere Verteilung der Einkommen und Vermögen!
  • Für ein eng geknüpftes soziales Netz
  • Soziale Sicherheit ist das Vermögen der „kleinen“ Leute
  • Nie wieder Krieg in Europa!
  • Abrüstung statt Aufrüstung
  • „Wir sind ein Volk der guten Nachbarn“ (Willy Brandt)

Alle sieben genannten Wünsche und Forderungen und noch eine Reihe anderer Veränderungen sind für die Mehrheit der Menschen mindestens so wichtig wie die durch den Regenbogen symbolisierte Toleranz in sexuellen Fragen.

Dass die Regenbogenfarben in unseren Medien und in der politischen Öffentlichkeit so viel diskutiert und gewürdigt worden sind, hat auch damit etwas zu tun, dass diese Forderung auch den Bessergestellten und den gut verdienenden Journalistinnen und Journalisten nicht weh tut. Wenn aber beispielsweise Manuel Neuer ein Armband für eine gerechtere Verteilung der Einkommen getragen hätte, dann hätten viele Meinungsführer die Nase gerümpft. Er wäre nicht für seine „Haltung“ gelobt worden wie in diesem Artikel der Süddeutschen Zeitung: ‚Lob für Manuel Neuer: “Was mit Haltung alles möglich ist”‘. Wenn das Stadion mit dem Schriftzug „Nie wieder Krieg“ geziert worden wäre, dann hätte mindestens Marietta Slomka gemeckert – und die in München üppig vertretene Rüstungswirtschaft sowieso.

Selbstgerecht und geschichtsvergessen.

Dazu drei Hinweise:

  1. Fangen wir mit den neuesten Begebenheiten an: die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat noch im Juni 2017 der Ehe für alle eine Absage erteilt und im Deutschen Bundestag dagegen gestimmt. Siehe hier in diesem Video. Überhaupt haben Politikerinnen und Politiker der CDU und der CSU dem Fortschritt in der Gleichstellung sexuell verschiedenorientierter Menschen Widerstand geleistet. Deshalb ist es besonders selbstgerecht und unehrlich, wenn jetzt Merkel und von der Leyen die Vorreiter bei der Verurteilung Ungarns sind. Sie sollten sich zurückhalten und bedenken, wie lange Deutschland und insbesondere Westdeutschland gebraucht hat, um sich von ausgesprochen kritisch zu betrachtenden sexuellen Zwängen und Ungerechtigkeiten zu verabschieden.
  1. Zum § 175 des Strafgesetzbuches zitiere ich ausnahmsweise und der Einfachheit halber den Text aus Wikipedia. Es geht dabei um die Bestrafung erwachsener Menschen wegen sexueller Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts. Erst 1989 wurde dieser Paragraf gestrichen:

    § 175 des deutschen Strafgesetzbuches (§ 175 StGB) existierte vom 1. Januar 1872 (Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuches) bis zum 11. Juni 1994. Er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Bis 1935 verbot er auch die „widernatürliche Unzucht mit Tieren“ (von 1935 bis 1969 war dies nach § 175b strafbar). Insgesamt wurden etwa 140.000 Männer nach den verschiedenen Fassungen des § 175 verurteilt. Am 1. September 1935 verschärften die Nationalsozialisten den § 175, unter anderem durch Anhebung der Höchststrafe von sechs Monaten auf fünf Jahre Gefängnis. Darüber hinaus wurde der Tatbestand von beischlafähnlichen auf sämtliche „unzüchtigen“ Handlungen ausgeweitet. Der neu eingefügte § 175a bestimmte für „erschwerte Fälle“ zwischen einem und zehn Jahren Zuchthaus.

    Die DDR kehrte 1950 zur alten Fassung des § 175 zurück; der § 175a wurde weiterhin angewendet. Ab Ende der 1950er Jahre wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen nicht mehr geahndet. 1968 setzte die DDR ein komplett neues Strafgesetzbuch in Kraft, das in § 151 gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugendlichen sowohl für Frauen als auch für Männer unter Strafe stellte. Mit Wirkung vom 1. Juli 1989 wurde dieser Paragraph ersatzlos gestrichen. Die Bundesrepublik Deutschland hielt zwei Jahrzehnte lang an den Fassungen der §§ 175 und 175a aus der Zeit des Nationalsozialismus fest. 1969 kam es zu einer ersten, 1973 zu einer zweiten Reform. Seitdem waren nur noch sexuelle Handlungen mit männlichen Jugendlichen unter 18 Jahren strafbar, wogegen das Schutzalter bei lesbischen und heterosexuellen Handlungen bei 14 Jahren lag. Erst nach der Wiedervereinigung wurde 1994 der § 175 auch für das Gebiet der alten Bundesrepublik ersatzlos aufgehoben.

    Im Volksmund wurden Homosexuelle gelegentlich als „175er“ bezeichnet. Gleichzeitig nannte man den 17. Mai (17.5.) den „Feiertag der Schwulen“. Heute finden anlässlich der Streichung der Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten der WHO am 17. Mai 1990 am selben Tag Aktionen zum Internationalen Tag gegen Homophobie, Biphobie, Interphobie und Transphobie statt.

    https://de.wikipedia.org/wiki/%C2%A7_175

  1. Es brauchte gleich mehrere Jahrzehnte, bis die Ehefrauen in Deutschland mit den Ehemännern gleichgestellt worden sind. Die Unterschiede betrafen vor allem die Arbeitserlaubnis. Aber auch andere Regelungen wie etwa die Abwesenheit eines Zugewinnausgleichs lasteten auf der versprochenen Gleichberechtigung.

    Ich zitiere im Folgenden aus einem Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung:

    27.6.2018

    Gleichberechtigung wird Gesetz

    Am 1. Juli 1958 trat das “Gesetz über die Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts” in Kraft. Eine wichtige Wegmarke – doch bis heute werden Frauen benachteiligt.

    Gesetzliche Vormachtstellung des Mannes aus der Kaiserzeit

    In der Nachkriegszeit galten in der Bundesrepublik in vielen Bereichen noch die Gesetze der Kaiserzeit: Zum rechtlichen Verhältnis von Frauen und Männern war im Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) von 1896 klar geregelt, dass der Mann das Oberhaupt der Familie war, er hatte in allen ehelichen Angelegenheiten in letzter Instanz die alleinige Entscheidungsbefugnis. Im Paragrafen 1354 des BGB von 1896 stand wörtlich: “Dem Manne steht die Entscheidung in allen das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffenden Angelegenheiten zu; er bestimmt insbesondere Wohnort und Wohnung.”

    In den Nachkriegsjahren bestanden für Frauen außerdem noch weitere rechtliche Abhängigkeiten von ihren Ehemännern: So durften Ehefrauen nur mit Zustimmung ihres Gatten ein Konto eröffnen. Es war ihnen zudem untersagt, gegen den Willen ihres Mannes eine Erwerbsarbeit aufzunehmen. Der Mann konnte seiner Gemahlin sogar den Schlüssel zur gemeinsamen Wohnung abnehmen.

    Erster Schritt auf einem langen Weg

    Eine umfassende, formale Gleichberechtigung von Mann und Frau konnte das sogenannte Gleichberechtigungsgesetz von 1958 allerdings noch nicht erreichen – hier folgten in den nachfolgenden Jahrzehnten weitere rechtliche Reformen: So besteht z.B. seit 1968 in Deutschland ein gesetzlicher Mutterschutz für berufstätige Frauen. 1970 wurde das Sorgerecht der Mütter sowie der Unterhaltsanspruch gegenüber den Vätern gestärkt.

    Erst 1977 beseitigte eine erneute Reform des Ehe- und Familienrechts im BGB die Regelung, dass Frauen nur arbeiten durften, solange sie die Familie nicht vernachlässigten.

    https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/271712/gleichberechtigung

Insbesondere der christdemokratische Teil der politisch Verantwortlichen hat zu verantworten, dass es in Westdeutschland so lange gebraucht hat, bis die Frauen einigermaßen gleichgestellt worden sind. Deshalb ist es besonders unglaubwürdig, wenn die gleichen politischen Kräfte jetzt besonders laut beklagen, dass andere Länder und Völker noch länger brauchen….

Dass jetzt mithilfe des Symbols des Regenbogens der Vorgang in Ungarn wie immer wieder auch sonstige homophoben Ereignisse hochgespielt werden, bestätigt den Verdacht, dass dies auch geschieht, um von den eigenen Versäumnissen auf diesem Gebiet abzulenken….


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