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Titel: Griechenland nach den Kommunalwahlen (II)

Datum: 24. November 2010 um 15:11 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Europäische Union, Griechenland, Länderberichte, Wahlen
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In einem Beitrag vom 22. November gab uns Niels Kadritzke eine Einschätzung der politischen Lage in Griechenland nach den dortigen Kommunalwahlen vom 7. und 14. November.
Eine anschauliche Illustration der griechischen Verhältnisse bieten die folgenden Auszüge aus Interviews mit jungen Nicht- und Protestwählern, die von der Athener Zeitung Kathimerini einen Sonntag nach dem zweiten Wahlgang publiziert wurden („Warum wir nicht gewählt haben“).
Die acht interviewten jungen Frauen und Männer sind gewiss nicht voll repräsentativ für ihre Altersgruppe, weil sie vorwiegend aus der Mittelschicht stammen und eine qualifizierte Ausbildung haben. Aber ihre Argumente geben Auskunft über das Lebensgefühl einer Altersgruppe, die sich schon heute als „verlorene Generation“ wahrnimmt. Niels Kadritzke

Natali Papadopoulou, 22 Jahre (studiert an einem Kolleg für Kommunikation und Werbung, wohnt bei den Eltern)
Das letzte Mal habe ich bei den Parlamentswahlen von 2007 gewählt, damals gab ich meine Stimme der Pasok, aber das wirklich nur, weil meine Eltern Pasok-Anhänger sind. Seitdem habe ich nicht mehr gewählt. Ich informiere mich zwar, damit ich das Wichtigste mitkriege. Aber ansonsten habe ich das Interesse an der Politik verloren, seit mir klar geworden ist, dass der Zustand des Landes unannehmbar ist, dass ich aber nichts machen kann, um diesen Zustand zu ändern.
Die meisten meiner Altersgenossen wählen auch nicht; weil sie zu lahm sind, oder weil sie es für zwecklos halten, oder auch weil sie einfach nicht ausreichend über die Probleme informiert sind. Ich persönlich will auf keinen Fall meine Stimme einem Politiker geben – und damit einer Partei – zu dem ich kein Vertrauen habe und von dem ich auch nicht glaube, dass er etwas bewirken kann… Das einzige, was mich vielleicht mobilisieren könnte, wäre die Kandidatur eines Freundes oder Bekannten, den ich womöglich unterstützten würde.
Natürlich wollen meine Eltern mir meine Wahlabstinenz ausreden… Aber ich habe kapiert, dass die Politik nur aus Worten und Versprechen besteht. In der Praxis sehe ich, wie die Älteren nur um ihre Renten fürchten, während die Jüngeren an die drohende Arbeitslosigkeit denken. Ich überlege deshalb ganz ernsthaft, nach meinem Examen ins Ausland zu gehen, wo ich sicher bessere Chancen auf eine Arbeit und bessere Perspektiven habe.“

Giorgos Bilios, 25 Jahre (Absolvent einer Hotelfachschule, derzeit Kellner in einem Restaurant; wohnt bei seinen Eltern)
Meine Eltern haben mich immer zum Wählen angehalten, mit der Begründung, man müsse sich an den öffentlichen Dingen beteiligen… Dennoch bin ich entschieden gegen die Abhaltung von Wahlen unter diesen Bedingungen. Das Klima in Griechenland ist in letzter Zeit katastrophal und ich sehe keinen einzigen Grund, an den Wahlen teilzunehmen, und das gilt auch für Parlamentswahlen. Auch Nichtwählen ist für mich eine Meinungsäußerung, und zwar die einzig mögliche, wenn mich keiner der Kandidaten überzeugt… Für mich ist das eine völlig bewusste Entscheidung. Überall machen Geschäfte zu, die jungen Leute haben – im besten Fall – 500 Euro an Einkommen, es gibt Tausende Arbeitslose mit akademischem Abschluss. Und die Politiker? Sie schieben sich nur gegenseitig die Schuld zu, aber keiner bekennt sich zu seiner Verantwortung. Wen soll ich denn da unterstützen? Und warum?“

Lila Pitteri, 26 Jahre (studiert Philologie an der Universität Athen, hat schon eine Ausbildung als Fotografin hinter sich, wohnt bei ihrer Mutter)
Bei allen früheren Wahlen habe ich mitgemacht, seit ich 18 bin. Ich halte das grundsätzlich auch für richtig und gut. In letzter Zeit bin ich aber so enttäuscht von dem Zustand des Landes, dass ich jetzt nicht mehr wählen gegangen bin…. Obwohl dies keine Parlamentswahlen waren, hatten alle Kandidaten eine Partei hinter sich, die ihre Entscheidungen beeinflusst. Nach gründlichem Nachdenken kam ich zu dem Schluss, dass ich keinen dieser Leute wählen will. Ich hatte das Gefühl, dass es keinerlei Bedeutung hat: die Gesicherter ändern sich, aber ansonsten bleibt alles beim Alten…
Mit meinem Nichtwählen habe ich glaube ich dazu beigetragen, der allgemeinen Enttäuschung Ausdruck zu geben. Es stimmt zwar, dass besonders viele junge Leute so gedacht haben, aber nicht nur die Jungen sind weggeblieben, meine Mutter etwa hat auch nicht gewählt, aus denselben Gründen wie ich. Ich bin jetzt 26 und weiß, dass ich wahrscheinlich keine Arbeit finde und von 600 Euro leben muss. Für wen soll ich denn stimmen? Für den, der mir die Flügel stutzt und mir meine Träume nimmt? Für den, dem es gleichgültig ist, dass die meisten Jugendlichen aus Griechenland weg wollen?
Natürlich gibt es auch die Nichtwähler, die schlicht keinen Bock haben: die alles vom Kanapee aus verfolgen und nur an den nächsten Kaffee und an den nächsten Einkaufsbummel denken. Wenn man denen das Einkommen kürzt, grummeln sie nur. Das sind die passiven Nichtwähler, ich gehöre zu den aktiven, die mit dem Nichtwählen ihre Wut ausdrücken.“

Velissarios Prassas, 26 Jahre (hat einen Fachhochschulabschluss für die Restauration von Gebäuden, arbeitet als Angestellter in einer Firma)
Ich habe auch an den letzten Wahlen nicht teilgenommen. Mich repräsentiert keiner der Kandidaten. Ich glaube auch nicht, dass sich was ändert. Aber es stimmt auch nicht, dass man mit Nichtwählen nur die Verhältnisse perpetuiert. War es denn früher besser, als wir noch nicht so viele Nichtwähler hatten?
Ich denke, wer wählen geht, erwartet für seine Stimme eine Gegenleistung; damit hat er sich schon auf das Klientelsystem eingelassen. Immer wird es Politiker geben, die irgendwas verteilen, und diejenigen, die sich eine Begünstigung versprechen. Das ist es, was die herrschenden Verhältnisse perpetuiert – nicht die Wahlabstinenz.
Andererseits halte ich es für einen Fehler, für einen Kandidaten zu stimmen, der von einer der kleineren Parteien unterstützt wird, nur um das Zweiparteiensystem nicht zu stärken. Auch die kleineren Parteien haben ja keine substantiellen Ideen…. Ich bin keineswegs Nichtwähler, weil ich nicht informiert bin. Ich kannte alle Kandidaten, aber ich wollte ihn eben nicht meine Stimme geben. Man muss ja nicht 50 Jahre alt werden, um das System abzulehnen. Allerdings hat mich doch eines verblüfft: dass trotz der vielen Nichtwähler die Politiker sich noch als Sieger gefeiert haben – und zwar ausnahmslos alle.

Spyros Samaras, 24 Jahre (organisiert nach einem BWL-Studium kulturelle Veranstaltungen, wohnt noch bei den Eltern)
Wählen würde ich nur dann, wenn es darum ginge, extreme Entwicklungen zu verhindern. Zum Beispiel um zu verhindern, dass ein Kandidaten durchkommt, der von den Chrysi Avghi-Leuten unterstützt wird. Bei Parlamentswahlen würde ich allerdings vielleicht mitwählen; das ist was anderes, weil die Stimmen für die kleinen Parteien den großen das Leben schwer machen.
Die meisten von uns, die nicht gewählt haben, haben einfach genug von der Korruption des Systems und von dem System selbst. Um es drastisch auszudrücken: Ich bin Nichtwähler, weil mein Stolz es nicht zulässt, mich zu einem politischen Omeletts verarbeiten zu lassen – wobei die Griechen die Eier sind, die man bekanntlich zerschlagen muss, um ein Omelette zu machen.“

Kelly Schaleki, 24 Jahre (hat VWL studiert und hat einen Angestelltenjob)
Ich wünschte mir einen Bürgermeister, der die Vergeudung von Steuergeldern einschränkt und die ganze Stadt umkrempelt, damit sie effektiver regiert und für ihr Bürger bewohnbarer wird. In meinen Augen heißt das, den öffentlichen Dienst umzubauen (nicht abzubauen) und die Vergabe der finanziellen Mittel ganz neu zu gestalten und zu kontrollieren. Ich habe dieses Jahr zum ersten Mal nicht gewählt, weil ich nicht weiß, welcher der Kandidaten bereit und fähig ist, solche Vorstellungen umzusetzen…. Wenn ich meinen engeren Freundeskreis betrachte, ist es kein Zufall, dass immer mehr junge Leute sich bewusst von der Politik abwenden: Ihre Enttäuschung mündet eben in Gleichgültigkeit.

Antonis Avlonitis, 20 Jahre (Student der Informatik und Kommunikationswissenschaft an der Ägäis-Universität in Samos)
Dies war das erste Mal, das ich hätte wählen sollen. Ich bin deshalb auch an meinen Wohnort Athen gefahren, aber am Ende habe ich mich zum Nichtwählen entschieden, weil ich mich durch keine der Wahlliste repräsentiert fühlte. Das Grundproblem in meiner Kommune ist, dass alles, was sie anpackt, nicht richtig gemacht wird. Und dass die meisten Ankündungen bloße Worte bleiben, die von den Kandidaten, sobald sie gewählt sind, wieder vergessen werden. Würde ich zur Wahl gehen, wäre die einzige Alternative, einen „weißen“ oder ungültigen Stimmzettel abzugeben. Aber diese Stimmen stärken (in der ersten Runde) den führenden Kandidaten, und ich wollte auf keinen Fall die Kandidaten der großen Parteien unterstützen. Aber das Nichtwählen ist auch eine Stimmabgabe. Es ist eine starke Botschaft an die Machthaber, vor allem, wenn viele Wähler die Teilnahme verweigern. Bei uns zu Hause gibt es viele politische Diskussionen, wobei alle sagen, was sie von den gegenwärtigen Zuständen halten. Das hat dazu geführt, dass dieses Mal weder meine Eltern noch mein Bruder gewählt haben.“

(Interviews von Vasilias Dimitrakopoulos, Atho Dimoula und Semina Sarantopoulou, Beilage vom 21. November, Seiten 36-42)

Anmerkung WL: Wenn ich meine eigenen Kinder (24 und 28 Jahre) befrage, wie sie oder ihre Freundinnen und Freunde die politischen Parteien bei uns einschätzen und welche Meinungen sie über die Möglichkeit haben, durch eine Stimmabgabe bei Wahlen die Zustände bei uns im Land zu verbessern, dann weichen deren Urteile im Großen und Ganzen nicht von denen der hier zitierten jungen Leute in Griechenland ab.
Auch sie meinen, dass es bei uns ungerecht zugeht, dass sich die Chancen für die Jungen verschlechtert haben, dass mächtige Interessengruppen ohne Rücksicht auf die Interessen der Mehrheit die Politik bestimmen, dass der einzelne Wähler mit seiner Stimme keinen Einfluss ausüben kann, dass die großen Parteien am Tropf der Lobbyisten hängen oder dass CDU und SPD keine wirkliche politische Alternative anbieten, sondern im Grunde nur für ein „Weiter-so“ eintreten.
Wer hat denn die Reformen gemacht, die die CDU/FDP-Koalition jetzt nur radikaler umsetzt, fragte mich mein Sohn. Und ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen.


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