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Titel: Gauck und die „Bekloppten“: Die Verrohung der Kommunikation

Datum: 13. September 2021 um 11:31 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Ex-Bundespräsident Joachim Gauck hat einen großen Teil der Bürger als „Bekloppte“ bezeichnet, weil sie andere Auffassungen vertreten als er. Was früher breite Entrüstung ausgelöst hätte, erscheint inzwischen fast normal. Diese Gewöhnung an eine sprachlich-politische Verrohung ist gefährlich. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am Samstag sagte Gauck in Rostock mit Bezug auf den Teil der Bürger, der zögert, sich die neuen Corona-Impfstoffe injizieren zu lassen:

„Dann ist ja auch schrecklich, dass wir in einem Land leben, in dem nicht nur Bildungswillige leben, sondern auch hinreichende Zahlen von Bekloppten.“

In diesem Artikel soll es aber nicht um die Impf-Debatte gehen: Zum Charakter der aktuellen Impf-Kampagne und des – entgegen der eigenen Beteuerungen installierten – indirekten Impf-Zwangs ist (vorerst) alles gesagt (etwa hier oder hier). Außerdem schwingen sich momentan fast täglich Politiker oder Journalisten dazu auf, bei dem Thema eine gesellschaftliche Spaltung zu verschärfen. Jeden dieser Beiträge einzeln zu kommentieren, ist momentan nicht zielführend.

Verrohung der Kommunikation „verführt“ zu verbalen Ausfällen

Auf die Äußerungen von Gauck soll hier aus zwei Gründen trotzdem eingegangen werden: Die aktuellen Tendenzen der politisch-gesellschaftlichen Verrohung sind so weit fortgeschritten, dass sie (Ex-)Politiker wie Gauck geradezu verführen, mit großer Leichtfertigkeit einen großen Teil der Bürger zu diffamieren – diesen allgemeinen Tendenzen, die die moralischen Grenzen der politischen Kommunikation verschieben und es offenbar „erlauben“, Andersdenkende öffentlich als verrückt zu markieren, muss prinzipiell Einhalt geboten werden. Sie sind gefährlich. Der zweite Grund ist, dass sich gerade die Person Gauck als Bundespräsident mit einem Pseudo-Kampf gegen „Hasssprache“ hervorgetan hat: Nun selber aus exponierter Position Andersdenkende als verrückt zu bezeichnen, und sie damit in der Debatte für vogelfrei zu erklären, ist darum ein besonders schwerer Fall von Heuchelei.

Dies ist wie gesagt kein Artikel pro oder kontra das Impfen. Die Tendenzen der Verrohung in der politischen Kommunikation gab es bereits vor Corona: Außenpolitisch hat sich das etwa in groben und unseriösen Darstellungen von politischen Konkurrenten wie Putin, Assad oder Chavez geäußert. Innenpolitisch sei etwa die schon lange praktizierte Taktik erwähnt, Regierungskritiker oder sogar Friedensdemonstranten pauschal als „rechts“ oder mindestens als Teil einer „Querfront“ einzuordnen. Sprachlich ist unter anderem bei diesen Themen schon lange eine Verschärfung durch prominentes Personal in Politik und Medien festzustellen. Darum soll der Text ein eher allgemeiner Warnruf sein, sich nicht von den momentan nochmals zuspitzenden Tendenzen der Verrohung tragen zu lassen – egal, welche Position man vertritt, und selbstverständlich auch bei anderen Themen als Corona.

Es ist ein Appell an die gesellschaftliche Verantwortung, an die guten Sitten und an den gesunden Menschenverstand, der doch schon längst laut sagen müsste: Momentan ist eine gesellschaftliche Erosion im Gange, wenn sie zum Erdrutsch wird, ist es zu spät, um zu reagieren.

„Hasssprache“ von ganz oben?

Die tiefen Spaltungen seit Corona kommen schließlich noch hinzu zur bereits vorher bestandenen sozialen Spaltung. Und die ist teils von jenen Politikern zu verantworten, die nun auch beim Impf-Thema einen Keil zwischen die Menschen treiben wollen. So hat etwa Gauck auch als Aktiver die wirtschaftsliberale Ausrichtung der Regierungspolitik der vergangenen Jahre nie angemessen in Frage gestellt. Statt dessen hat er sich daran beteiligt, die aus dieser Politik der sozialen Spaltung erwachsende Bürger-Wut als Ursache und nicht als ein aus der praktizierten Politik erwachsendes Symptom zu bezeichnen. Der Kampf gegen „Hasssprache“ ist nach dieser Logik wichtiger als der Kampf gegen die sozialen Ursachen des „Hasses“.

Ich würde niemals politische Gegner als Bekloppte bezeichnen, egal bei welchem Thema. Wer das tut, ist nicht an Argumenten oder Lösungen interessiert, sondern der möchte suggerieren, bei der betreffenden Frage seien die rationalen Debatten beendet und es gebe nur noch die Trennung zwischen Vernunft und Irrsinn. Beim Thema Corona könnte diese Darstellung nicht weiter von der Realität entfernt sein: Es sind die Verteidiger der Lockdown-Politik, denen zusehends die Argumente ausgehen. Aus diesem Grund scheuen sie die argumentative Debatte und darum sollen Diskussionen am besten gar nicht erst zugelassen werden – mit der Begründung, die Gegenseite habe eben nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Andersdenkende als Verrückte zu markieren, ist eine Strategie, die man eigentlich aus dem Repertoire von Diktatoren kennt. Wer Hasssprache in Kommentarspalten beklagt, sie aber dann von ganz oben (als „Vorbild“) praktiziert, hat jede gesellschaftliche Verantwortung abgelegt. Besonders aufreizend ist zusätzlich, dass solche Ausfälle auch noch mit dem angeblichen Streben nach gesellschaftlicher „Verantwortung“ (Volksgesundheit) gerechtfertigt werden, was eine (mittlerweile) nicht mehr zu haltende Position ist. Dazu kommt, dass sich gerade jene, die sich seit Corona permanent auf „die Wissenschaft“ berufen, in weiten Teilen irrational und ohne wissenschaftliche Evidenz argumentieren.

Gauck 2016: „Deutsche meines Alters und noch Ältere haben erlebt, wie Hass zu Staatspolitik geworden ist.“

Problematisch – aber auch charakteristisch für den Zustand der aktuellen Debatten – ist, dass es keine angemessen scharfen Reaktionen auf Gaucks Ausfall gibt (wenn ich solche übersehen haben sollte, bitte ich um einen Hinweis). Die „Frankfurter Rundschau“ (FR) etwa beschreibt den Akt, Millionen von Andersdenkenden als „bekloppt“ zu bezeichnen, als völlig normalen politischen Standpunkt:

„Damit stellte er den Impfgegnern, selbsternannten Querdenkern und Corona-Leugnern nicht nur ein vernichtendes Zeugnis aus. Vielmehr sprach er ihnen mit seiner Gleichsetzung mit „Bildungsunwilligen“ implizit auch das Vermögen ab, sich mit Fakten auseinanderzusetzen. Die Betitelung als „Bekloppte“ ließ anschließend kaum einen Zweifel daran, wie wenig Verständnis Gauck für jene aufbringt, die sich und andere mit ihrer Unvernunft in Gefahr bringen.“

Auf Twitter lösten Gaucks Worte laut FR gar „viel Zustimmung aus“. Kritik kommt laut Artikel vor allem von der „extremen Rechten“. So tolerant ist man bei anderen öffentlichen Beschimpfungen nicht, etwa wenn es um die vielbeschworene „Hasssprache“ im Internet geht, die bereits für zahlreiche Angriffe auf das Recht der freien Meinungsäußerung herhalten musste – und deren Bekämpfung sich Gauck einst voll auf die Fahnen geschrieben hatte. Bereits 2016 hat Gauck etwa in einem Spiegel-Interview zum Thema „Hasssprache“ gesagt:

„Und so macht es mich mitunter fassungslos, wie manche Menschen andere Menschen beschimpfen. Natürlich haben sie das auch schon früher getan. Aber nun geschieht es auch noch vor aller Augen, der Ton wird, so scheint mir, immer rauher.“

Und weiter:

„Bei aller Leidenschaft für möglichst offene Debatten dürfen wir nicht vergessen, wie sehr unsere Geschichte auch mit einem vergifteten Vokabular verbunden ist. Das lässt sich nicht einfach wegwischen. (…) Deutsche meines Alters und noch Ältere haben erlebt, wie Hass zu Staatspolitik geworden ist.“

Titelbild: 360b / Shutterstock


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