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Titel: Emran Feroz: „Die deutschen Regierungen haben den brutalen ‚War on Terror‘ Washingtons mitgetragen“

Datum: 7. Oktober 2021 um 10:20 Uhr
Rubrik: Interviews, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Am 7. Oktober vor 20 Jahren begann die Invasion Afghanistans. Vor kurzem haben die USA und ihre Verbündeten das Land am Hindukusch verlassen (die NachDenkSeiten berichteten). Der Journalist und Bestseller-Autor Emran Feroz findet im Interview mit den NachDenkSeiten klare Worte zum „Afghanistan-Desaster“ und rechnet auch mit der deutschen Politik ab: „Auch hier muss man hart sein und die Fakten beim Namen nennen: Deutschland hat den brutalen „War on Terror“ Washingtons mitgetragen und in diesem Kontext die Öffentlichkeit regelmäßig hinters Licht geführt.“ Ein Interview über das Verhalten des Westens, Propaganda, Manipulation und das, was Journalisten im Zusammenhang mit Afghanistan „bis heute ungern“ hören. Von Marcus Klöckner.

20 Jahre sind seit der Invasion der USA in Afghanistan vergangen.
Was hat der Krieg Ihrem Land gebracht?

Abgesehen von Leid und Armut so gut wie nichts, wie man nun beobachten kann. Das mag hart klingen, doch es beschreibt meiner Meinung nach einen Großteil der Realität vor Ort. Die absolute Mehrheit der afghanischen Bevölkerung hat von dem NATO-Einsatz und dem „War on Terror“ der Amerikaner nicht profitiert. Die Profiteure waren in erster Linie kleptokratische Zirkel, die mit Hilfe des Westens an die Macht gebracht wurden, um sich und ihre Sippschaft persönlich zu bereichern. All dies hat unter anderem auch zu der Rückkehr der Taliban geführt.

Die so genannte „Weltgemeinschaft“ hat mindestens zugeschaut oder hat den Krieg eben unterstützt. Nach den Anschlägen in den USA hieß die Losung, ausgegeben von George W. Bush: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“. Die Bundesregierungen waren „dafür“, haben mitgemacht.
Gibt es etwas, was Sie deutschen Politikern vorhalten?

Auch hier muss man hart sein und die Fakten beim Namen nennen: Die deutschen Regierungen haben den brutalen „War on Terror“ Washingtons mitgetragen und in diesem Kontext die Öffentlichkeit regelmäßig hinters Licht geführt. Ende 2019 wurden die sogenannten Afghanistan Papers veröffentlicht. Darin wurde deutlich, dass die US-Politelite die eigene Bevölkerung regelmäßig belogen hat, um den Krieg in Afghanistan weiterhin zu rechtfertigen. Ich würde das auch auf andere NATO-Staaten wie Deutschland ausweiten. Hinzu kommt, dass die Bundeswehr am Hindukusch auch als Täter agierte und Zivilisten tötete, etwa 2009 in Kunduz.

Wir alle erinnern uns noch an die Aussage des SPD-Politikers Peter Struck, wonach die deutsche Freiheit am Hindukusch verteidigt werde. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich diese Aussage noch mal vor Augen führen?

Es handelte sich hierbei um eine extrem populistische Floskel, um den Krieg in Afghanistan fortzuführen. Umso paradoxer ist die Tatsache, dass Struck und Leute dieser Art vor den Realitäten vor Ort permanent die Augen schlossen und diese verdrängten. Diese Einstellung, ja, diese Ignoranz hat uns zum heutigen Tag geführt, weshalb es nicht sein kann, dass man nun weiterhin weich mit den Verantwortlichen in Berlin und anderswo umgeht.

Reden wir über Manipulation und Propaganda. Der Krieg in Afghanistan musste von den NATO-Staaten gut „verkauft“ werden, die Bevölkerungen mussten von der Notwendigkeit der Einsätze überzeugt werden.
Haben Sie Beispiele für Propaganda und Manipulation der westlichen Seite?

Da gibt es leider nur allzu viele. Der Krieg im Irak galt bei vielen als Vergehen, während man jegliches Handeln in Afghanistan verteidigte. Da ging es dann um die Befreiung der afghanischen Frau. Das Bild der Burka tragenden Afghanin ist omnipräsent geworden, auch in diesen Tagen. Es wird direkt mit einem vermeintlichen Befreiungsakt seitens westlicher Akteure in Verbindung gebracht. Der gesamte „War on Terror“ in Afghanistan wurde von westlicher Seite regelmäßig reingewaschen. Für die meiste Gewalt machte man ausschließlich innerafghanische Akteure verantwortlich. Dabei waren es US-Drohnenpiloten, die zwanzig Jahre lang zahlreiche Menschen in afghanischen Dörfern terrorisierten und per Knopfdruck in die Luft jagten.

Dieser vermeintlich präzise Krieg wird von führenden Politikern weiterhin verharmlost. Man will uns weiterhin weismachen, dass man erfolgreich „Terroristen“ bekämpft habe. Währenddessen sitzen viele prominente Ziele in der neuen Taliban-Regierung. Ich frage mich Folgendes: Wenn all diese Männer leben, wer wurde dann überhaupt getötet? Die Antwort ist klar: Hauptsächlich afghanische Zivilisten. Davon haben wir allerdings meist nichts mitbekommen, weil wir gleichzeitig mit Hollywood-Propaganda und Ähnlichem vollgepumpt wurden. Der „gute Krieg“ hat sich auch in der Popkultur durchgesetzt und dazu geführt, dass viele Menschen in Europa oder in den USA nicht gewusst haben, was in Afghanistan passiert. Selbst in der Green Zone in Kabul haben sich viele Menschen, darunter auch Afghanen selbst, diese Dinge reingezogen, sodass sie am Ende nicht mehr wussten, was zwanzig Kilometer weiter passiert ist.

Welche Rolle haben die Medien gespielt?

Ich denke, es ist wichtig, die Rolle der Medien etwas aufzuteilen. Als der US-Krieg in Afghanistan begann, rührten viele Medien in westlichen Staaten die Kriegstrommel. Der „Kreuzzug“ Bushs wurde kaum hinterfragt. Man wollte nicht als „Verräter“ abgestempelt werden. Innerhalb kürzester Zeit wurde ein einfaches Schwarz-Weiß-Bild gemalt. Es gab nur noch „gut“ und „böse“. Dies war auch beim Irak-Krieg der Fall, wo viele bekannte Medien, die viele von uns weiterhin konsumieren und bewundern, Lügen verbreiteten. Ein gutes Beispiel hierfür ist der renommierte „New Yorker“, der Heilige Gral des westlichen Journalismus. Wer heute noch in diesem Magazin landet, hat praktisch seine Karriere gekrönt. Dabei hat der „New Yorker“ bewusst Lügen verbreitet, um die Invasion des Irak zu rechtfertigen. Als das Ganze rauskam, gab es kaum Konsequenzen. Ähnliche Dinge haben sich auch im Kontext von Afghanistan ereignet. Gleichzeitig gab es nicht zuletzt in den US-Medien viele wichtige Recherchen, die die Gräuel des Krieges deutlich machten. Dieser konstruktive Journalismus hat sich vielerorts allerdings nicht immer durchgesetzt, wie die letzten Tage und Wochen wieder einmal verdeutlicht haben.

Als sich gerade die NATO-Staaten aus Afghanistan zurückgezogen haben, war das Desaster für jeden offensichtlich. Meine Beobachtung ist: Medien haben einerseits zwar in der Folge dann relativ kritisch berichtet, ihre eigene hochproblematische Berichterstattung im Zusammenhang mit dem Krieg bleibt aber unangetastet. Wie sehen Sie das?

Ich sehe das ähnlich. Viele Reporter, die Afghanistan besuchten, waren extrem eurozentristisch. Sie wuchsen mit einem Weltbild auf, das sie nicht einfach ablegen konnten. Gleichzeitig gab es sprachliche und kulturelle Barrieren und ein verzerrtes Bild der Berichterstattung, etwa wenn aus dem Hotelzimmer oder dem sicheren Compound „berichtet“ wurde. Jene, die die eigentliche Arbeit gemacht haben, waren meist lokale Journalisten, die stets ihr Leben riskierten. Das hören die Verantwortlichen bis heute ungern.

Die USA und ihre Verbündeten waren 20 Jahre in Afghanistan. Plötzlich, zumindest von außen so wahrgenommen: wie auf Knopfdruck! hat das Bündnis das Land verlassen.
Würden Sie für uns bitte diese Entwicklung kritisch einordnen?

Die Stagnation war bereits in den Jahren zuvor sichtbar. Die meisten Gefechte wurden nur noch von afghanischen Akteuren ausgetragen, während die NATO-Truppen sich hinter ihren dicken Mauern versteckten. Ich denke, dass auch viele Soldaten immer mehr bemerkt hatten, wie sehr sie fehl am Platz waren. Führende US-Militärs wussten schon lange zuvor, dass sie die ländlichen Gebiete Afghanistans nie dauerhaft einnehmen könnten. Das hatte nicht nur mit den Taliban zu tun, sondern eben auch mit der dortigen Bevölkerung. Es herrschte der klassische Guerilla-Krieg. Ein weiterer Mann, der das eingesehen hatte, war Donald Trump, der die Verhandlungen mit den Taliban voranbrachte. Die Afghanen waren Trump egal. Er wollte nur wiedergewählt werden. Seine Einschätzung, dass der Krieg in Afghanistan nicht zu gewinnen sei und nur Ressourcen verschlingen würde, war allerdings gewiss nicht falsch.

Für die meisten Beobachter dürfte klar gewesen sein, was nach einem schnellen Rückzug westlicher Truppen passieren würde.
Als es dann so weit war, rieben sich Medienvertreter und Politiker öffentlich die Augen und waren erstaunt über das Tempo, mit dem die Taliban die Kontrolle übernommen haben.
War das denn wirklich so erstaunlich?

Die Einnahme Kabuls war etwas überraschend. Ich denke, das hat sogar die Taliban selbst überrascht. Doch alles andere war vorhersehbar. Die Taliban waren bereits Jahre zuvor in den Distrikten rund um die Provinzhauptstädte, die im August wie Dominosteine fielen, präsent. Sie haben dort aus dem Schatten heraus regiert. Der Moment des Abzugs wurde lediglich genutzt, um sich endgültig zu zeigen. Gleichzeitig war auch der Zustand der afghanischen Armee bekannt. Sie war von der Korruption der Kabuler Eliten durchtränkt, so wie praktisch alle anderen staatlichen Institutionen. Viele Soldaten hatten weder Nahrung noch Munition. Am Ende wurden viele von ihnen von ihren eigenen Führern, die sich jahrelang deren Gehälter einsteckten, verkauft.

Wie geht es nun den Menschen in Afghanistan?
Was sind Ihre Erfahrungen?

Viele blicken in eine ungewisse Zukunft. Die Taliban kontrollieren mittlerweile das ganze Land, sogar das Panjsher-Tal, was sie in den 90er-Jahren nicht erobern konnten. Demnach sind sie stärker denn je zuvor. Mehr und mehr Regierungen werden sie wohl akzeptieren, obwohl ihre jetzige Regierung selbst für afghanische Verhältnisse alles andere als inklusiv ist, das heißt: möglichst alle Bürger Afghanistans mit einbezieht. Gleichzeitig versuchen viele Afghanen, das Land zu verlassen. Sie stehen vor einer humanitären Katastrophe. Es drohen Hunger und ein harter Winter.

Lesetipp: Emran Feroz: Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror. Westend. 224. S. 18 Euro.


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