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Titel: Julian Assange weiterhin im Justizlabyrinth

Datum: 19. November 2021 um 16:42 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie, Länderberichte
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Es ist nun drei Wochen her, dass die letzte Anhörung im Fall Julian Assange am Londoner High Court stattfand. Die Richter gaben keinen Termin für ihren Schiedsspruch bekannt, ließen aber wissen, dass es bis zu 6 Wochen dauern könne. In der Zwischenzeit haben die Behörden die Hochzeit von Julian Assange mit seiner Verlobten Stella Moris im Hochsicherheitsgefängnis im letzten Moment erlaubt. Sie war in dieser Woche in Paris, wo sich 39 französische Parlamentarier für Asyl für Assange in Frankreich ausgesprochen haben. Auch der UN-Sonderbeauftragte Nils Melzer ist weiterhin im Einsatz für Assange und fordert, dass die, deren Verbrechen Julian Assange aufgedeckt hat, endlich strafrechtlich verfolgt werden. Eine Zusammenfassung von Moritz Müller.

Rein nüchtern betrachtet sieht es nicht so gut aus für Julian Assange in seiner kleinen Gefängniszelle im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in London/Vereinigtes Königreich. Der Untersuchungsgefangene Assange sitzt hier seit nunmehr über zweieinhalb Jahren ein, keines Verbrechens verurteilt, trotzdem de facto in Isolationshaft und von den Behörden incommunicado (d.h. vom Verkehr mit der Außenwelt abgeschnitten) gehalten. Zum Schweigen gebracht, wie so viele, die sich in heutiger Zeit kritisch über ihre Regierungen und deren Machenschaften äußern.

Die Konzernmedien im Westen zeigen dafür gern in Zusammenarbeit mit ihren Regierungen auf unliebsame Länder oder unliebsame Regierungen, doch nicht nur der Fall Assange zeigt, dass auch im Westen das Establishment über seine Macht wacht und nicht will, dass unbequeme Tatsachen ans Licht kommen. Stephen Donziger, Daniel Hale, Reality Winner, Chelsea Manning, Edward Snowden und Catherine Gun sind nur die Spitze eines Eisbergs, dessen Ausmaße man sieht, wenn man unter die hübsche Oberfläche der „liberalen Demokratien“ schaut.

Leider ist Julian Assange auch nicht der Einzige, der im Vereinigten Königreich unter menschenunwürdigen Haftbedingungen zu leiden hat, wie dieser Artikel von Helen Mercer (auf Englisch) aufzeigt. Hier nur einige Punkte:

  • Seit 1900 hat sich die Zahl der Gefangenen von 86/100.000 auf 173/100.000 Einwohner verdoppelt.
  • 58% der Gefängnisse gelten als überfüllt.
  • Es wird weniger Geld pro Gefängnisplatz ausgegeben und es ist weniger Personal beschäftigt als vor 10 Jahren.
  • Die meisten Gefangenen verbringen die meiste Zeit in ihrer Zelle:

    „Uns wurde mitgeteilt, dass die Gefangenen acht Stunden pro Tag aus ihren Zellen herauskommen sollen, dass das Gefängnis aber nicht genügend Personal und Platz hat, um dies zu schaffen. Bis vor kurzem kamen einige Gefangene nur jeden dritten Tag aus ihrer Zelle heraus, um zu duschen oder zu telefonieren, abgesehen von der Zeit, in der sie ihre Mahlzeiten abholen oder sich kurz bewegen konnten. Der Mangel an Zeit außerhalb der Zelle, so erfuhren wir, schränkt den Zugang der Gefangenen zu frischer Luft und Sonnenlicht sowie ihre Fähigkeit ein, körperlich aktiv zu bleiben. Wenn Gefangene arbeitslos sind, so wurde uns gesagt, können sie 22-23 Stunden pro Tag in ihrer Zelle verbringen.“

  • Weil zu wenig Personal da ist, verpassen viele Gefangenen ihre nötigen Arzttermine.

Andererseits wurde Julian Assange laut seinem Vater John Shipton nun gegen Covid 19 geimpft. John Shipton ließ auch durchscheinen, dass sich die Frage der Freiwilligkeit, wie so vieles im Gefängnis, erübrigt hatte bzw. relativ war. Man hatte gehofft, dass Assange nach Jahren im Botschaftsasyl ohne Sonnenlicht und Zugang zu Zahnarzt und Krankenhaus im Gefängnis bessere medizinische Betreuung bekommen würde, doch das, was man von seinem Gesundheitszustand mitbekommen kann, ist eher ernüchternd und wirft kein gutes Licht auf die zuständigen Behörden.

Außerdem ruft John Shipton dazu auf, beim Blick auf und beim Einsatz für seinen Sohn nicht die Dinge zu vergessen, die Wikileaks aufgedeckt hat und dass es hier um mehr als die Person Assange geht.

Es gibt mittlerweile einen Film über John Shipton und seinen Einsatz für seinen Sohn. Der Film wurde produziert von Assange Bruder, Gabriel Shipton. Den Regisseur Ben Lawrence habe ich im September 2020 am Rande des Auslieferungsverfahrens am Old Bailey getroffen und was er mir über den Film erzählte, lässt mich gespannt sein.

Letzte Woche bestätigte Stella Moris, dass sie und Julian Assange jetzt doch im Gefängnis heiraten dürfen, nachdem sein Anwaltsteam rechtliche Schritte angedroht hatte. Falls Stella Moris den Namen Assange annimmt, wird sich der Hinweis, dass sie seine Verlobte ist, von nun an erübrigen. Das wird die Berichterstattung über ihn vereinfachen und Stellas Profil im Kampf für seine Freiheit schärfen.

Es ist bewundernswert, wie sie dies alles durchsteht und dabei tapfer an seiner Seite ist. Als die zwei sich kennenlernten, hatte Julian Assange schon rechtliche Schwierigkeiten und trotzdem wurde aus der Anwalt-Mandant-Beziehung nach einigen Jahren in der Botschaft auch eine Liebesbeziehung. Hut ab vor Stella Moris, die hier ihren geraden, aber auch steinigen Weg geht.

Laut Presseberichten werden auch einige Gäste an der Zeremonie teilnehmen dürfen. Falls fotografieren erlaubt sein wird, könnte die Öffentlichkeit einen Eindruck davon bekommen, wie es um den Zustand von Julian Assange bestellt ist. Laut den Berichten von der Verhandlung vor drei Wochen, wo Julian Assange nicht persönlich anwesend sein durfte, machte er in der kurzen Zeit, während der er per Videozuschaltung erschien, einen beklagenswerten Eindruck.

Man fragt sich, wie die Personen, die dafür verantwortlich sind, tagtäglich ihr Tun vor sich selbst rechtfertigen. Aber wir Menschen sind mit ausgeprägten Verdrängungsfähigkeiten ausgestattet, was in manchen Fällen gut und nötig ist, andererseits aber auch fatale Folgen haben kann.

Für die weitere rechtliche Entwicklung im Fall Assange gibt es mehrere Möglichkeiten, die der US-Journalist Joe Lauria in diesem äußerst lesenswerten Artikel aufzeigt. Hier nur einige der Kernaussagen:

  1. Falls der Berufungsantrag der US-Ankläger abgelehnt wird, können diese wiederum Berufung vor dem Supreme Court einlegen. Ob sie dies dann tun, ist eine Frage, die nicht leicht zu beantworten zu sein scheint, aber andererseits fast auf der Hand liegt. Die Obama-Administration gab vor 10 Jahren an, Assange nicht anklagen zu wollen, weil hier das in der US-Verfassung verankerte Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit tangiert würde.

    Auch der damalige Vizepräsident Biden äußerte sich seinerzeit dergestalt. Seitdem sind aber auch die „Demokraten“ in den USA nicht gut auf Assange zu sprechen, weil Wikileaks 2016 E-Mails von Hillary Clinton veröffentlicht hat, die Anstandslosigkeit und Geldgier bei Clinton und im Apparat der Demokratischen Partei offenlegten. 2017 veröffentlichte Wikileaks mit Vault 7 Informationen über die gesetzeswidrigen Machenschaften der US-Geheimdienste.

    Somit ist es wahrscheinlich, dass die Biden-Administration den Kurs der Trump-Administration fortsetzt und Assange weiter mit juristischen Mitteln verfolgt. Es gibt im Englischen das bezeichnende Wort „lawfare“, zusammengesetzt aus „law“ (Gesetz) und einem Teil von „warfare“ (Kriegsführung), das man lose als „Rechtskrieg“ übersetzen kann und welches im Fall Assange zuzutreffen scheint.

    Falls die USA in die Berufung gehen, überlegt das Assange-Team laut Aussage seines Bruders, beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Kautionsantrag zu stellen, weil Assange schon über zwei Jahre in Untersuchungshaft sitzt. Ob die Behörden des Vereinigten Königreichs eine etwaige Entscheidung zugunsten Assanges honorieren und umsetzen, muss man nach dem, was bisher geschah, leider sehr bezweifeln.

  2. Falls dem Berufungsantrag der USA stattgegeben wird, könnte Assange den Supreme Court anrufen, um in Berufung zu gehen, und dort für die Aufrechterhaltung des Urteils der ersten Instanz kämpfen. Auch dies würde weitere Monate im Gefängnis bedeuten, falls der High Court nicht Freilassung auf Kaution anordnet.
  3. Der Fall könnte an die erste Instanz, das Bezirksgericht, zurückgeschickt werden, falls der High Court befindet, dass Verfahrensfehler gemacht wurden. Der High Court würde dann das Bezirksgericht beraten, wie der Fall zu bewerten ist. Es geht hierbei um die Frage, ob die Bezirksrichterin Baraitser Gesetze richtig angewendet hat.

Baraitser wurde im September wegbefördert und der Rechtsexperte Alexander Mercouris sieht das als ominöses Zeichen, denn wenn der Fall an Baraitser zurückgegangen wäre, wäre die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder zumindest in Teilen zugunsten Assanges entscheidet, groß gewesen. Nun, mit einem anderen Richter, wäre der Ausgang ungewisser.

Assange befindet sich in einem „rechtlichen“ Irrgarten und jede Wendung, die seine Haft verlängert, ist schlecht für ihn und seine Angehörigen, wohingegen seine Peiniger sich zurücklehnen und das Leben in Freiheit genießen können, in dem Wissen, dass Verbrechen, die mit dem Segen der Regierungen geschehen, höchstwahrscheinlich nicht geahndet werden.

Der UN-Sonderbeauftragte beschreibt dies sehr gut in diesem kurzen Videoclip. Wie könne über eine Auslieferung verhandelt werden, wenn Assange noch nicht einmal für die zwei Tage am High Court verhandlungsfähig war? Wie könne eine Auslieferung an die USA erwogen werden, wo nicht die (Kriegs-)Verbrecher verfolgt werden, sondern die Zeugen dieser Verbrechen und die, die darüber berichten?

Außerdem rät Melzer zur Zurückhaltung beim Enthusiasmus über den Wechsel auf der Richterbank, der kurz vor der Verhandlung am High Court erfolgte. Viele Beobachter hatten sich positiv über die Einsetzung von Lord Chief Justice Ian Burnett geäußert, weil dieser in einem ähnlichen Fall den des Hackings angeklagten Lauri Love aus gesundheitlichen Gründen nicht ausgeliefert hatte. Melzer weist darauf hin, dass Burnett, der der höchste Richter im Land ist, hiermit einen Präzedenzfall geschaffen hatte, den ein untergeordneter Richter nicht ignorieren könne, wohingegen Burnett selbst durch eine nuancierte Sicht einen neuen Präzedenzfall schaffen könne.

Als Schlag ins Gesicht der britischen Justiz sieht Alexander Mercouris die Ankündigung von Chefankläger James Lewis, der vor Gericht tatsächlich sagte, dass, wenn der laufende Auslieferungsantrag abgelehnt würde, die USA einfach ein neues Verfahren einleiten würden. Wenn das Vereinigte Königreich wirklich ein unabhängiger Staat wäre, dann müsste eine solche Bemerkung Konsequenzen nach sich ziehen. Leider scheint das Vereinigte Königreich ein eigenes Interesse daran zu haben, Assange zum Schweigen zu bringen bzw. ein Exempel an ihm zu statuieren.

Manchmal bekommt man den Eindruck, als sei in diesem Fall der negative Weg das Ziel und gar nicht unbedingt die Auslieferung Assanges, sondern sein für interessierte Personen sichtbares Leiden halb im Verborgenen.

Ob noch genügend Menschen in der derzeitigen politischen Situation zu einer klaren Sicht finden und die „richtigen“ Dinge tun, bleibt nur zu hoffen. Eine wirklich unabhängige Presse könnte ihren Anteil an einer offenen Diskussion über die Probleme, die die Menschheit vor sich hat, haben. In diesen Zeiten der Selbstzensur und Political Correctness scheinen wir weit entfernt davon.

Zum Glück haben wir bald wieder den schottischen Journalisten Craig Murray an unserer Seite. Er wurde im Mai aus fadenscheinigen Gründen verurteilt und sitzt seit Anfang August in Edinburgh im Gefängnis. Er soll laut Aussagen seiner Unterstützer am 30. November aus der Haft entlassen werden. Dann hat Julian Assange wieder die Fürsprache eines weiteren Freundes zurück.


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