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Titel: Entlassungen, Kontosperren, Verachtung wegen der Nationalität, Boykotte, Ausschlüsse – dem Russen soll es an den Kragen gehen

Datum: 2. März 2022 um 9:12 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Sind wir nun alle Feinde Russlands und lehnen russische Menschen, Waren und Ideen ab? Stimmt ja, weil Russland einen bösen Staatschef hat und Krieg führt. Einen Krieg, der nicht erst seit Februar 2022 im Gang ist, das nebenbei. Egal. Die Ablehnung nimmt derart Fahrt auf, dass einem der Atem stockt. Nach zwei Jahren Pandemie und ja ebenso atemloser bis heute teils schier undenkbar gewesener und doch umgesetzter Maßnahmen folgt jetzt ein neues Fieber, das viele Menschen zu ergreifen scheint – allein, bringt uns das als Völker der Welt wieder zusammen? Von Frank Blenz

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Eine Welle rollt, die es in sich hat. Wer nicht gegen Russland ist, ist draußen, scheint der Grundsatz des neuen Fiebers zu sein. In vielen Lebensbereichen fiebert es. Aus allen Lagen wird agiert. Einwände, Vorsicht, Maß – sie sind keine gefragten Ansätze gerade.

In der Kultur: Lapidar im schönsten Feuilleton heißt es bei der aktuellen ARD-Sendung „Titel, Thesen, Temperamente“:

Einer der prominentesten Putin-Unterstützer im Kulturbetrieb hierzulande ist seinen Job los: München hat sich von Valery Gergiev, dem Chefdirigent der Münchner Philharmoniker getrennt. Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte ihm zuvor ein Ultimatum gestellt, sich bis Montagnacht vom Angriff des russischen Militärs auf die Ukraine zu distanzieren. Dies verstrich kommentarlos.

In weiteren Kulturnachrichten ist zu lesen, dass große US-Filmstudios Russland boykottieren. So gibt es in den Kinos von Moskau bis Wladiwostok keine Filmstarts bekannter Produktionen. Russische Künstler werden in Geiselhaft genommen, viele Auftritte platzen von Venedig bis New York. Künstler sind auf der Biennale der Lagunenstadt nicht gern gesehen, die New Yorker Metropolitan Opera will mit Russen, wenn sie nicht explizit Putingegner sind, nichts mehr zu tun haben. Konzerte von ausländischen Künstlern in Russland werden massenweise abgesagt. Die Europäische Rundfunkunion hat beschlossen, Russland aufgrund der Angriffe auf die Ukraine aus dem diesjährigen Eurovision Song Contest auszuschließen.

Auch im Sport, im Sportbusiness, in der Sportpolitik kommt man so richtig in Fahrt, obschon bei der Olympiade jüngst in China derlei Konsequenz und Courage nicht gefragt schienen. Nun aber – Feuer frei: Russland wird ausgeschlossen, wo immer es möglich ist, die Paralympics – wohl ohne russische Athleten. Schalke 04 spielt ohne russischen Sponsornamen (Gazprom) auf den Trikots. Polens Nationalmannschaft und weitere Teams wollen keine Qualifikationsspiele gegen Russland austragen. Fußballfans hierzulande fragen in sozialen Netzwerken dann auch mal (zurückhaltend):

Was können denn die russischen Fußballer dafür? Die müssen das ausbaden, was ihr Präsident verzapft.

Im deutschen Blätterwald lesen sich die Überschriften wie Urteilsverkündungen – gegen die, die als Putinversteher abgestempelt werden. Widerrede? Ja nicht. Sonst…

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Und es geht auch an der Basis, also bei den Menschen im Land, ordentlich zur Sache:

Baden-Württemberg: Restaurant sperrt russische Gäste aus – mit schlimmen Folgen, Restaurant in Baden-Württemberg sorgt mit Zutrittsverbot für Russen für Aufsehen

Wie T-online berichtet, schrieb das Restaurant auf der Homepage, dass man Menschen mit russischem Pass als „unerwünscht“ ansehe. Weiter sei zu lesen gewesen, dass der „‚normale‘ russische Staatsbürger keine Schuld am kriminellen Handeln der russischen Regierung“ trägt. Es sei aber die Zeit gekommen, ein Zeichen zu setzen. Das Zutrittsverbot für russische Staatsbürger würde als ein Beitrag verstanden, „damit unsere Kinder in einem friedlichen Europa leben können“. Statement nach Shitstorm: Restaurant reagiert auf Vorwürfe Scharfe Worte, die auf noch schärfere Kritik stießen. In den sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook reagierten die Menschen mit Entsetzen auf diese Aktion. „Pfui, wer bei Ihnen noch einkehrt, sollte sich schämen“ und „No-Go. Man kann das Regime und seine Unterstützer hassen, aber doch nicht pauschal alle Russen“ hieß es aufseiten der User. Das Restaurant reagierte auf die heftige Ablehnung und nahm den Beitrag von der Homepage. Der Betreiber des Lokals schrieb auf Facebook und der Homepage später, es sei ein Fehler gewesen, die Kritik am russischen Präsidenten wegen des Überfalls auf die Ukraine an der Nationalität festzumachen.

Der Warenboykott ist ein weiteres Fieber, das seine Temperatur erhöht. Fundstück soziale Medien:

Bars weltweit verbannen russischen Wodka – stattdessen ukrainischer Alkohol – Während das Volk der Vergangenheitsbewältigungsweltmeister überall Schilder aushängt “kein Verkauf an Russen” (was könnte besser demonstrieren, dass die neue Scheiße exakt die alte Scheiße ist ?) verzweifeln die “Russenversteher” gerade.

Große Ketten machen mit:

Netto boykottiert russische Produkte

Aus Protest gegen den Krieg in der Ukraine hat die Discounterkette Netto alle Produkte aus Regalen genommen, die in Russland hergestellt wurden. Das betrifft neben Süßigkeiten auch Wodka.

Eine Beobachtung bei einfachen Menschen, auf der Straße – hier die Könige der Landstraßen – die LKW-Fahrer. Einer schreibt (Fundstück soziale Medien):

Ich bekomme immer mehr PN-Nachrichten von Kollegen, dass sie mit russischen Kraftfahrern gesprochen haben, angeblich sind schon Handykarten gesperrt und sie bekommen kein Geld mehr aus den Automaten. Außerdem sollen keine Aufträge mehr an russische Unternehmen gegeben werden???? Das heißt, wenn sie ihre Vorräte aufgebraucht haben, stehen sie ohne etwas da! Habt ihr auch solche Information oder hat jemand ähnliche Fälle wahrgenommen? Die Kollegen können nichts für ihre Regierung und haben so etwas nicht verdient! Es wäre schön wenn ihr Augen und Ohren offen haltet, wir sind keine Egoisten und könnten irgendwie helfen.

Die Tourismusbranche mischt mit, Fundstück:

Die Achterbahn „Blue Fire“ im Europapark wird von „Nord Stream“ gesponsert. Aufgrund des Konflikts zwischen der Ukraine und Russland fordern Fans eine Namensänderung.

Die Liste der Boykottmaßnahmen ist lang – sie richtet sich an einen Adressaten: Russland. Die Boykotte zielen auf einen Schaden für die Menschen im größten Land der Welt. Selbst schuld? Warum haben sie einen wie Putin als Führer? Es ist stattdessen zu ahnen, dass das Frühjahr 2022 nicht nur eines von andauernden Kriegen ist, die Verrohung der Gesellschaften weltweit und hierzulande ist in vollem Gange, die Fieberkurve zeigt nach oben so wie die Kurven der Krisengewinner. Und sonst? Inflation in Deutschland steigt auf 5,1 Prozent (Handelsblatt.de).

Titelbild: Grand Warszawski/shutterstock.com


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