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Titel: Ist nur Russland schuld an den hohen Gaspreisen?

Datum: 5. August 2022 um 12:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Banken, Börse, Spekulation, Energiepolitik, Gestaltete PDF, Ressourcen
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Olaf Scholz ist extra nach Mühlheim an der Ruhr gereist, um sich medienwirksam vor der Turbine ablichten zu lassen, die derzeit Gegenstand einer Posse zwischen Deutschland und Russland ist. Die Botschaft ist klar: Weil Russland mit uns seine Spielchen spielt und zu wenig Gas liefert, müssen wir uns auf einen harten und vor allem teuren Winter einstellen. Doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Es ist richtig, dass die russischen Erdgaslieferungen seit Mitte Juni massiv zurückgegangen sind. Aber das allein erklärt nicht die horrenden Preise, die deutschen Verbrauchern ab Herbst abverlangt werden. Eine mindestens genau so große Schuld daran trägt die Liberalisierung des europäischen Gasmarkts und die völlig dysfunktionale Preisbildung an den Energiebörsen. Gasproduzenten und Spekulanten machen einen Milliardenreibach mit der Not und der deutschen Volkswirtschaft gehen die Lichter aus. Aber Hauptsache, man hat einen Schuldigen und der sitzt in Moskau. Von Jens Berger.

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Die deutsch-russische Gaspartnerschaft hat eine lange Geschichte. Bereits in den späten 1950ern waren es deutsche Stahlkonzerne, die sich über die US-Exportverbote hinweggesetzt haben und durch ihre Röhrenlieferungen die Erschließung der westsibirischen Öl- und Gasvorkommen erst möglich gemacht haben. 1962 drängten die USA die Adenauer-Regierung, den Export von Großrohren in die Sowjetunion durch ein Embargo zu beenden. Dieses Embargo wurde 1969 durch die neue Regierung Willy Brandt aufgehoben und ein Jahr später waren es die westdeutschen Konzerne Mannesmann und Ruhrgas, die – finanziert von der Deutschen Bank – das Jahrhundertgeschäft mit der Sowjetunion abschlossen, das die Grundlage für die Versorgung der Bundesrepublik und später anderer westeuropäischer Staaten mit russischem Erdgas über das immer größere Pipelinenetz darstellte.

Der Preis für das russische Gas wurde dabei bis in die späten 1990er ausschließlich über langfristige Preisklauseln bestimmt, die sich vor allem am Ölpreis orientierten und damit Planungssicherheit für Ein- und Verkäufer sowie die Stadtwerke und deren Endkunden boten. Dass die Preise dabei durch die Monopolstruktur auf dem Markt etwas – einige Quellen schätzen 20 Prozent – zu hoch war, war eine Randnotiz, mit der alle Beteiligten leben konnten. Doch in den 1990ern kam im Westen der Irrglaube auf, der Markt könne alles besser regeln. So wurde 1998 durch die Energierechtsnovelle der EU der EU-Binnenmarkt für Erdgas formal liberalisiert, doch erst sieben Jahre später gab auch die Bundesregierung richtig Gas bei der Liberalisierung. Man gründete 2005 die Bundesnetzagentur, 2006 wurden alle Endkundenverträge für kartellrechtswidrig erklärt und 2007 öffnete dann der Gashandel im Spot- und Terminmarkt an der Leipziger Energiebörse EEX.

Waren 2010 nur 15 Prozent der Lieferverträge zwischen Gazprom und ihren europäischen Kunden an den Börsenpreis für Erdgas gekoppelt – der Rest waren Altverträge mit Ölpreisbindung – waren es 2015 bereits 87 Prozent. Heute werden wohl fast alle Lieferverträge zwischen Gazprom und ihren deutschen Kunden eine Preisklausel haben, die den Gaspreis an den Börsenpreis für Erdgas koppelt. Und genau das ist der eigentliche Grund für die hohen Gaspreise, die ja bereits vor dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine deutlich angezogen sind. Denn obwohl heute alle Lieferungen anhand des Börsenpreises bepreist sind, werden nur 30 Prozent der Lieferungen tatsächlich über die Börse gehandelt. 70 Prozent gehören zum Volumen eben jener langfristigen Lieferverträge zwischen Gazprom und europäischen Großhändlern, die ihrerseits die Endkunden direkt oder indirekt über die Stadtwerke versorgen. Der größte Teil der Gasmenge wird also gar nicht an der Börse gehandelt, aber dennoch anhand des Börsenkurses bepreist.

Wann wird Gas eigentlich überhaupt über eine Börse gehandelt? Hier kommt die Betriebswirtschaft ins Spiel. Die Abnahme von Gas ist nicht konstant und der Einkauf ist daher schwer zu planen. Haben wir einen milden Winter, wird von den Haushalten wesentlich weniger Gas verbraucht und der Verbrauch der Industrie ist konjunkturabhängig. Die Gaslieferverträge der großen Importeure haben jedoch eine „Take-or-Pay“-Klausel – das heißt, sie müssen die vertraglich vereinbarte Menge auch dann bezahlen, wenn sie gar nicht so viel abnehmen. Daher haben sie einen Anreiz, nur so wenig Gas über langfristige Verträge abzusichern, wie sie garantiert loswerden. Fällt der Winter kälter aus, müssen sie die nötigen Zusatzmengen an der Börse kaufen. Und wenn – wie während des Corona-Lockdowns – die Konjunktur einbricht und die Industrie so wenig abnimmt, dass es trotz niedriger Kalkulation dazu kommt, dass man zu viel eingekauft hat, wird das überschüssige Gas an der Börse verkauft. Diese Mechanismen führen dazu, dass die Börsenpreise für Gas – auch ganz ohne Manipulation – volatil sind und bei Änderungen der Rahmenbedingungen übermäßig nach oben oder unten ausschlagen. Daher macht die Liberalisierung und die Bepreisung über eine Börse bei Gas auch gar keinen Sinn; es liegt schließlich nicht an der Effizienz der Marktteilnehmer, sondern ausschließlich an externen Faktoren wie dem Klima und der Konjunktur, ob es einen Bullen- oder Bärenmarkt gibt. Und diese Rahmenbedingungen gelten für alle Marktteilnehmer und führen so zu Rückkoppelungen und grotesken Preisbewegungen.

Nur wer das versteht, versteht auch, warum die Gaspreise im letzten Jahr plötzlich durch die Decke gingen. Durch die global wieder anziehende Konjunktur stiegen die Börsenpreise, da sich viele Versorger offenbar nicht ausreichend über langfristige Verträge abgesichert hatten. Nun erwartete man im Westen, dass Russland über die bestehenden langfristigen Lieferverträge hinaus zusätzlich große Mengen an Gas nach Europa transportiert, das dann über die Börsen eingekauft werden kann. Doch diesen Gefallen tat Gazprom dem Westen nicht. Warum auch? Da die großen Volumen der langfristigen Verträge ja mittlerweile – übrigens gegen den Wunsch Gazproms(!) – an den Börsenpreis gekoppelt waren, hatte Gazprom nicht das geringste betriebswirtschaftliche Interesse daran, den Börsenpreis durch zusätzliche Lieferungen wieder nach unten zu bewegen und sich so selbst zu schaden. Im Westen hieß es jedoch, dies sei eine ausgeklügelte Erpressung, um die Genehmigung von Nord Stream 2 zu beschleunigen. Entweder man hat hierzulande überhaupt nicht verstanden, in welche Falle man sich durch die Liberalisierung des Marktes und die Bepreisung langfristiger Verträge anhand des Börsenkurses gebracht hat, oder man hat dies sehr wohl verstanden, wollte jedoch mit dem ausgestreckten Finger auf Putin vom eigenen Versagen ablenken.

Quelle: Bundesnetzagentur

Und dann kamen der Krieg und die offenen Drohungen der EU, möglichst schnell ein Gasembargo gegen Russland zu verhängen. Die Preise an den Börsen gingen durch die Decke und es herrschte absolute Unsicherheit, wie sich die physischen Gaslieferungen in absehbarer Zukunft entwickeln würden. Nun wollte im Sommer kein Versorger oder Großhändler, der noch halbwegs bei Verstand ist, größere Mengen zum Börsenpreis einkaufen. Man darf sich das so vorstellen: Im Sommer herrscht auf dem Gasmarkt normalerweise Flaute, da die Haushalte wenig Gas verbrauchen. Versorger nutzen die niedrigen Preise dann, um Volumen für den Winter bereits einzukaufen und in den Gasspeichern einzulagern. Doch in diesem Sommer gehen die Preise durch die Decke und wenn Gazprom im Herbst plötzlich doch wieder alle Förderhähne aufdreht und der Preis an den Börsen kollabiert, würden die Versorger, die im Sommer zu Höchstpreisen Gas eingekauft und eingelagert haben, massive Verluste machen. Es kam, wie es kommen musste: Der Markt brach zusammen und wieder gab man nicht der Privatisierung und der Kopplung des Gaspreises an den Börsenpreis für Gas die Schuld, sondern Russland.

Mittlerweile ist es fragwürdig, ob Gazprom zurzeit die bestehenden Lieferverträge bedient. Da auf der Abnehmerseite jedoch durch die Eingriffe der Netzagentur sich die Rahmenbedingungen ebenfalls geändert haben, kann man hierzu als Außenstehender, der keinen Einblick in die Verträge hat, wenig sagen. Was jedoch passiert ist, ist, dass die Bundesnetzagentur im Einklang mit dem ausgerufenen Gasnotstand seit Beginn Juni den Einkauf von Gas unter eine Art Zwangsverwaltung gestellt hat. Die Firma Trading Hub Europe (THE), eigentlich ein kleinerer, vorrangig technischer Dienstleister im Gasmarkt, hat nun die hoheitliche Aufgabe, den Markt sprichwörtlich leerzukaufen und die nationalen Gasspeicher mit der technisch maximalen Menge pro Tag zu füllen. Das sind 504.000 Megawattstunden pro Tag – mehr als aus Russland zurzeit geliefert wird. Auf den Preis soll THE dabei nicht achten, sondern blindlinks zu jedem aufgerufenen Preis einkaufen. Das Gros der Importe kommt aktuell aus Norwegen, den Niederlanden und Belgien; Letzteres sind vor allem LNG-Lieferungen, die über Antwerpen ins Verbundnetz eingespeist werden. Deutschland kauft also derzeit ohne Sinn und Verstand den Markt leer.

Quelle: Bundesnetzagentur

In den Wirtschaftswissenschaften weiß man, dass sich ein Preis immer aus Angebot und Nachfrage zusammensetzt; vor allem an den Börsen funktioniert der Preismechanismus exakt so. Richtig problematisch wird es immer dann, wenn man zwar marktwirtschaftliche Mechanismen zum Leitfaden erklärt, dann jedoch diese Mechanismen ignoriert und ohne Sinn und Verstand entgegen marktwirtschaftlicher Logik handelt. Wenn kein Importeur zu den aufgerufenen Preisen einkaufen will, sinkt die Nachfrage. Und wenn die Nachfrage sinkt und es zu einem Überangebot kommt, sinkt der Preis. Diese jetzige Blase wäre also gar nicht entstanden, hätte man nicht künstlich in den Markt eingegriffen. Wenn nun aber der Großteil der physischen Gasströme gar nicht über die Börse gehandelt wird, es außer der THE keinen Einkäufer an der Börse gibt und jeder Marktteilnehmer weiß, dass die THE am Ende des Tages ohnehin 504.000 Megawattstunden zu jedem Preis einkauft, der aufgerufen wird … was meinen Sie, in welche Richtung sich der Börsenpreis entwickelt?

Es ist daher auch kein Zufall, dass der Handelspreis, der vor dem Ausrufen des Notstands und vor der Einschaltung der THE als nationalen Großeinkäufer bei rund 80 Euro pro MWh lag, sich kurz danach nur noch in eine Richtung bewegt hat und heute – nur zwei Monate später – bei über 200 Euro pro MWh liegt. Der hohe Börsenpreis ist also eine direkte Folge des verhängten Gasnotstands und der Strategie, gigantische Mengen unabhängig vom Preis an der Börse einzukaufen.

Aber was soll man auch machen? Die norwegische Statoil, die niederländische Gasunie und die zahlreichen, meist US-amerikanischen LNG-Anbieter nutzen die Liberalisierung halt auf ihre Art und Weise und die Bundesregierung wird sie kaum zwingen können, ihr das begehrte Gas zu einem Sonderpreis zu verkaufen. Mit der Liberalisierung des Gasmarktes wurden die Rahmenbedingungen geschaffen, die jetzt zu einer tödlichen Falle für uns werden.

Stellt sich die spannende Frage, wer eigentlich die Rechnung der THE bezahlt. Geld hat das kleine Unternehmen natürlich nicht. Bezahlt wird das Gas an den Börsen mit der Kreditlinie, die die staatliche Förderbank KfW der THE zur Verfügung stellen muss – das sind großzügige 15 Milliarden Euro. Dieses Geld kommt für die THE im Herbst und Winter wieder rein – dann, wenn die Versorger das Gas aus den Speichern kaufen müssen, das der THE gehört. Und dieses Geld holen sich die Versorger dann natürlich von den Endkunden wieder. Kein Wunder also, dass viele Versorger schon jetzt prophylaktisch den Endkundenpreis mehr als verdoppeln. Das Geld, das momentan mit beiden Händen an der Energiebörse ausgegeben wird, ist also genau das Geld, das wir in den nächsten Monaten und Jahren als Aufschlag auf unserer Verbrauchsabrechnung wiederfinden. Rechnerisch sind es also wir, die zurzeit ohne Sinn und Verstand den Markt zu grotesk überteuerten Preisen leerkaufen.

Da freuen sich die Gaslieferanten aus den Niederlanden, Norwegen und den USA. Und dass bei einem derart dysfunktionalen Markt an der Energiebörse so mancher Trader sein Glück gar nicht fassen kann, kann auch als gesetzt angenommen werden. Wie soll es auch anders sein, wenn ein staatlich beauftragter und mit nicht endlichen finanziellen Mitteln ausgestatteter Amateureinkäufer an der Börse gegen professionelle Handelsabteilungen von Finanz- und Energiekonzernen zockt, die über alle nötigen Netzwerke, Algorithmen und jede Menge Know how verfügen? Auch deren Gewinne sind am Ende Teil unserer Gasrechnung. Aber schuld daran ist natürlich Putin; wer auch sonst?

Gäbe es denn eine Lösung für dieses Dilemma? Natürlich. Würde der Markt jetzt mit Gas geflutet, würde die Blase an den Gasbörsen binnen Sekunden zusammenbrechen. Auch hier überreagieren die Märkte nämlich gnadenlos. Ein Anruf in Moskau würde genügen. Und wenn man über seinen Schatten springen und die betriebsbereite Pipeline Nord Stream 2 öffnen würde, wäre der ganze Spuk mit einem Schlag vorbei. Doch das will die Bundesregierung ja nicht. Die Kosten für dieses Politikversagen zahlen ja am Ende ohnehin wir.

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Titelbild: © Bundesregierung/Kugler


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