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Titel: EU-Chefdiplomat Borrell: „Wie die Konquistadoren müssen wir eine neue Welt erfinden“

Datum: 6. Dezember 2022 um 11:09 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Europäische Union
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Die blutige Eroberung (Conquista) des südamerikanischen Subkontinents durch die vorwiegend spanischen Konquistadoren, die den Tod von Millionen Ureinwohnern sowie die Auslöschung ganzer Hochkulturen zur Folge hatte, als Vorbild für die Neuausrichtung der Europäischen Union. Diesen vielsagenden Vergleich bemühte der aktuelle EU-Außenbeauftragte und ehemalige Präsident des EU-Parlaments, der spanische Sozialdemokrat Josep Borrell, bei eine Rede Anfang Dezember vor lateinamerikanischen Abgeordneten. Es ist nicht der erste verbale Fehltritt des EU-Chefdiplomaten. Erst vor wenigen Wochen hatte er für weltweite Empörung gesorgt, als er in einer offen rassistischen Analogie die EU mit einem Garten verglich, während der Rest der Welt ein wilder Dschungel sei, der versuche, in den Garten einzudringen. Von Florian Warweg.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Chef der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, hat bei der Eröffnung des EuroLat-Treffens, einer institutionalisierten Zusammenkunft von 100 Abgeordneten des Europäischen Parlaments und 50 lateinamerikanischen Parlamentariern, die „Entdecker und Eroberer“ Amerikas als Vorbilder der EU für die „neuangebrochene Zeit“ angeführt:

„Wir leben in einem perfekten Sturm, und um diesen Sturm zu navigieren, können wir die Routen und Karten der Vergangenheit nicht gebrauchen. Wie die Entdecker und Konquistadoren müssen wir eine neue Welt erfinden. Und wir müssen unseren strategischen Kompass neu kalibrieren und uns dabei der Geschichte bewusst werden, um das Ausmaß der Veränderungen zu verstehen, vor denen wir stehen.“

Weiter führte der 75-jährige Chefdiplomat der EU aus:

„Wir hatten uns gerade von der Pandemie erholt, und wieder einmal überrascht uns die Geschichte mit einem schrecklichen, traumatischen Ereignis, nämlich einem erneuten Krieg an den Grenzen Europas, den wir schon vergessen zu haben glaubten. Und es ist sicherlich 70 Jahre her, dass wir Europäer unsere Schwerter gekreuzt haben, wie die spanischen Klassiker des Goldenen Zeitalters zu sagen pflegten. Doch nun werden leider nicht weit von hier, 2.000 Kilometer von Brüssel entfernt, an den Grenzen Europas die Bevölkerung der Ukraine und ihre zivile Infrastruktur von Putins Russland militärisch und, wie ich hinzufügen möchte, kriminell bombardiert.“

Sie lesen richtig. Der Chef der EU-Diplomatie sieht nicht nur die blutige „Conquista“ mit nach seriösen Schätzungen 15 Millionen Toten alleine im südlichen Teil des amerikanischen Kontinents und Zerstörung indigener Hochkulturen wie der Azteken und Inkas als Vorbild für die EU an, er bezeichnet auch den Zweiten Weltkrieg mit seinen geschätzten 65 Millionen Opfern, davon alleine 27 Millionen Sowjetbürgern, verniedlichend „als wir Europäer unsere Schwerter gekreuzt haben“. Dazu noch der Verweis auf das „Goldene Zeitalter“ (Siglo de Oro), also grob die Phase 1550 bis 1660, in welcher Spanien, befeuert durch die gnadenlose Ausbeutung der Gold- und Silberminen nach der Eroberung des heutigen „Lateinamerikas“, zu einer der bedeutendsten politischen und wirtschaftlichen Mächte der Welt heranwuchs.

Aufschlussreich erscheinen in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen sprachlichen Wertungen, die Borrell in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg (erinnert sei hier insbesondere an den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion unter euphorischer Beteiligung der spanischen „Blauen Division“ sowie den Holocaust) und die aktuellen Bombardements der ukrainischen Energieinfrastruktur durch die Russische Föderation vornimmt. Während Ersteres von ihm wie dargelegt mit dem euphemistischen Ausdruck „Klingen kreuzen“ unter Verweis auf „Klassiker“ eines einstigen „Goldenen Zeitalters“ umschrieben wird, nennt er bezeichnenderweise nur Letzteres „kriminell“.

Nach seiner Einschätzung zum Ukraine-Krieg wendete sich Borrell dann dem eigentlichen Thema des Treffens zu, den Beziehungen zwischen der EU und Lateinamerika. Dafür bemüht er ebenfalls einen Vergleich, den einer guten Ehe. Bezeichnend ist hier unter anderem, was laut dem obersten Diplomaten der EU eine gute Ehe ausmacht:

„Wie bei einem guten Ehepaar ist die Beziehung der gegenseitigen Abhängigkeit von gegenseitigem Nutzen. Und wir sollten uns freuen, dass wir von Anfang an eine Beziehung haben, die auf einem soliden Fundament steht. Wir haben das dichteste Netz an politischen, Kooperations- und Handelsabkommen mit Lateinamerika von allen Regionen der Welt. Unsere Unternehmen haben mehr in Ihre Volkswirtschaften investiert als in China, Indien, Japan und Russland zusammen. Wir haben in Lateinamerika mehr investiert als in all den anderen großen Volkswirtschaften der Welt.“

Die Behauptung des EU-Außenbeauftragten, dass die EU-Mitgliedsländer mehr in Lateinamerika investiert hätten als „in China, Indien, Japan und Russland zusammen“ ist nachweislich nicht korrekt. So tätigten deutsche Unternehmen in den letzten Jahren gerade einmal 2,6 Prozent ihrer weltweiten Direktinvestitionen in Lateinamerika. Die deutschen Direktinvestitionen für China liegen, um einen Vergleich zu haben, seit Jahren bei rund 7 Prozent. Ähnlich in der regionalen Ausprägung sind auch die Investitionsdaten anderer EU-Länder.

Das einzige EU-Land, welches wirklich signifikant in Lateinamerika investiert, ist Spanien, welches 33 Prozent seiner gesamten ausländischen Direktinvestitionen in Lateinamerika tätigt. Wenn der EU-Chefdiplomat in Brüssel also salbungsvoll von „wir“ spricht, meint er eigentlich ausschließlich das Königreich Spanien. Soviel zum europäischen Geist des Außenbeauftragten.

Abschließend forderte er eine stärkere Zusammenarbeit der Länder Lateinamerikas mit der EU, denn gemeinsam würden beide Regionen „ein Drittel der Stimmen in den Vereinten Nationen“ stellen sowie „14 Prozent der Weltbevölkerung und 22 Prozent des BIP“ präsentieren:

„Wir haben also eine hohe rechnerische Verantwortung gegenüber dem Rest der Welt, und wir können dieses Datum in der Geschichte nicht verpassen, welches der Krieg in der Ukraine eröffnet hat.“

Die geschilderte Entgleisung ist bei Weitem nicht der erste sprachliche Ausfall des EU-Chefdiplomaten. Während einer Veranstaltung der „European Diplomatic Academy“ in Brügge Mitte Oktober verglich Borrell Europa mit einem Garten, während der Rest der Welt ein Dschungel sei:

„Ja, Europa ist ein Garten. Alles funktioniert. Es ist die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt, die die Menschheit je geschaffen hat, alle drei zusammen […] Der größte Teil der übrigen Welt ist ein Dschungel, und der Dschungel könnte in den Garten eindringen.“

Weiter führte er dann aus, dass keine Mauer und kein Zaun der Welt den Garten schützen werden. Der Dschungel wachse zu schnell und die Mauer werde deshalb nie hoch genug sein. Die Europäer müssten deshalb hinaus in den Dschungel gehen:

„Andernfalls wird der Rest der Welt auf andere Weise und mit anderen Mitteln zu uns eindringen.“

Diese Auführungen klangen insbesondere im Globalen Süden wie vergessen geglaubte koloniale Diskurse aus dem 18. und 19. Jahrhundert. In dieser Zeit begründeten zahlreiche europäische Mächte ihr imperialistisches Agieren mit dem Verweis, dass sie Kultur und Zivilisation bringen würden und die „Barbaren“ daher kein Recht hätten, sich ihrer „zivilisatorischen Mission“ zu widersetzen.

„Die Garten/Dschungel-Metapher entspringt einer völlig inakzeptablen kolonialen Mentalität, nach der dem Westen das Recht zusteht, in andere Regionen einzufallen und sie zu besetzen“, erklärte beispielsweise der Sprecher des iranischen Außenministeriums, Nasser Kanaani.

Entsprechende Reaktionen gab es auch aus der arabischen Welt. Das Außenministerium der Vereinigten Arabischen Emirate bestellte zum Beispiel den Chef der diplomatischen Vertretung der EU ein, um eine Erklärung für Borrells „unangemessene und diskriminierende“ Äußerungen zu verlangen, die „dazu beitragen, das Klima der Intoleranz und Diskriminierung in der ganzen Welt zu verschlimmern“.

Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, kommentierte auf ihrem Telegram-Kanal:

„Borrell hätte es nicht besser sagen können: Das wohlhabendste System, das in Europa geschaffen wurde, hat sich von seinen Wurzeln in den Kolonien ernährt, die es erbarmungslos unterdrückt hat. Es war diese Logik der Segregation und die Philosophie der Überlegenheit, die die Grundlage für den Faschismus bildete“.

Der kubanische Analyst Randy Alonso Falcón erklärte:

„Anscheinend bereitet Europas Befolgung der Diktate Washingtons Borrell intellektuelle Verdauungsstörungen und treibt ihn zu unangebrachten imperialen und neokolonialen Ausbrüchen ‒ in einer Welt, die keinen weiteren Hegemonismus will.“

Borrell ist allerdings nicht der Schöpfer dieser Analogie gewesen, sondern hat sie sich, ohne dies allerdings entsprechend kenntlich zu machen, von dem US-amerikanischen Neokonservativen Robert Kagan „entliehen“. Dieser hatte die Dschungel-Metapher in seinem Buch „The Jungle Grows Back: America and Our Imperiled World“ (Der Dschungel wächst nach: Amerika und unsere bedrohte Welt”) benutzt, um die weltweite Dominanz der USA und die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder zu begründen.

Nur wenige Tage vor seiner Dschungel-Analogie hatte der EU-Außenbeauftragte zudem am 13. Oktober der russischen Armee mit kompletter Vernichtung gedroht.

Das führte dazu, dass selbst hochrangige EU-Diplomaten gegenüber dem Wallstreet Journal einräumen mussten, dass sie sich die Motivation für diese Aussage nicht erklären können:

„Ohne einschlägige Referenzen sprach er über Reaktionsmöglichkeiten, für die er nicht verantwortlich ist, mit Fähigkeiten, die er nicht hat. Wir können also nur rätseln.“

Der EU-Chefdiplomat gibt sich also nicht nur öffentlich imperial-kolonialen Träumereien hin, sondern plagiiert dafür auch noch reaktionäre Veröffentlichungen von US-amerikanischen Neocons und droht zudem ohne jegliches Mandat mit einer Militärmacht, über die er in keinerlei Weise verfügt. Besser kann man den derzeitigen Zustand der EU und seines Führungspersonals wohl kaum persiflieren.

Titelbild: shutterstock / Alexandros Michailidis


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