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Titel: Keine Zukunft ohne Vergangenheit: Ein Leben mit russischem Pass in der Ukraine

Datum: 9. Dezember 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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Ganz unerwartet habe ich gestern den Mann einer Bekannten kennengelernt, der seit 1997 in Kiew lebt. Nennen wir ihn Alex. Er ist Russe mit russischer Staatsbürgerschaft und unbefristeter Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine. Seine Frau, Natascha, hat einen ukrainischen Pass, auch sie ist Russin und lebt seit vierzig Jahren in Kiew. Spätestens seit 2014 ist die Ukraine gespalten – und diese Spaltung geht durch die Familien. Alex konnte es bis gestern nicht glauben, dass er diesem ganzen Wahnsinn entkommen konnte! Die letzten neun Monate waren äußerst schwierig: Man muss genau darauf achten, was man sagt, jedes zu schnelle Wort kann einem zum Verhängnis werden. Auf keinen Fall durfte Alex seinen russischen Pass bei sich haben. Von Maria Popow[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Seit neun Monaten fährt er mit dem Fahrrad zur Arbeit, weil er in öffentlichen Verkehrsmitteln ständig kontrolliert wird. Im Herbst und Winter wird es schwierig – es ist kalt und dunkel, er hat dauernd Bronchitis. Aber es gibt keine Alternative. Alex muss mehrere Brücken unterqueren, auch dort gibt es Patrouillen. Alles was er zeigt, ist sein Führerschein und Arbeitsausweis, wo man nicht von ableiten kann, dass er die russische Staatsangehörigkeit besitzt. Alex muss sich immer entschuldigen, dass er den Pass zu Hause vergessen hat. Er lebt ständig mit der Angst aufzufliegen. Es ist nicht die Furcht vor russischen Bomben und Raketen, sondern Alex kann jeden Moment verraten und geschnappt werden.

Quelle: Symbolbild Russischer Pass – Shutterstock / vovidzha

Auf seiner Arbeitsstelle wissen alle, dass er die russische Staatsbürgerschaft hat. In Kiew gibt es überall große Schilder mit der Aufschrift „Liefere den Feind – hier!“ und einem QR-Code, den man mit dem Handy herunterladen kann, und sofort den „bösen“ Nachbarn, den verhassten Kollegen oder sogar einen Verwandten „ausliefern“ kann, dessen Wohnung oder Eigentum man im Auge hat. Menschen werden verhaftet und viele kehren nicht zurück.

Ich frage, ob es viele Leute wie ihn mit einem russischen Pass gibt. Alex sagt, er kenne niemanden. Vor dem Krieg hat er sich eine Wohnung in der Nähe von Kiew gekauft, aber die offizielle Eintragung noch nicht erledigt. Die Sachbearbeiterin in der Verwaltung sieht seinen roten Pass und sagt: „Seien Sie vorsichtig mit diesem Pass. Sie können festgenommen werden!“ Es gebe in der Region Tschernihiw ein Lager, in dem alle Russen mit einer Aufenthaltserlaubnis festgehalten werden.

Alex:

„Sie hat mir sogar gesagt, wie dieses Lager heißt. Ich habe sofort meine Beine in die Hand genommen! Die Wohnung kann warten!“

Es ist nicht möglich, die ukrainische Staatsangehörigkeit auf die Schnelle zu erhalten, um überhaupt rauszukommen. So haben Natascha und Alex entschieden, über Ungarn und Deutschland in die Niederlande zu gehen, wo die erwachsenen Kinder sind. Vorab rufen sie das ungarische Konsulat in Uzhgorod an, um herauszufinden, ob generell ein Visum benötigt wird. Gott sei Dank ist mit einer ukrainischen Aufenthaltserlaubnis ein 30-Tage-Aufenthalt ohne Visum möglich. Über private Kanäle finden sie einen Minibus und einen Fahrer, der solche Fahrten ein- bis zweimal im Monat durchführt.

An der ukrainisch-ungarischen Grenze werden die Pässe der Insassen zur Überprüfung eingesammelt. Der Grenzposten schaut auf den roten russischen Pass und wird aggressiv: „Was ist das?! Was ist das für ein…?“ Alle schweigen. „Habe ich recht?“ – er spricht seine Frau an, die neben ihm sitzt, sie hat einen anderen Namen und einen ukrainischen Pass. Sie nickt mit dem Kopf. Der Grenzposten dreht sich um und geht.

Nach einiger Zeit werden die Pässe zurückgegeben und alle atmen erleichtert auf. Sie fahren weiter. Alex sagt zu seiner Frau: „Nun … das war der Zoll, jetzt gibt es Grenzbeamte, wir müssen unsere Beine breit machen. Sie wickeln meinen roten Lappen auf und stecken ihn mir in den Arsch!“ Aber der Fahrer sagt: „Wir sind schon durch, jetzt kommt Ungarn, jetzt kommen ungarische Grenzschutzbeamte.“ Die grüßen höflich auf Russisch: „Guten Abend“ und auf den russischen Pass zeigend fragen sie: „Wo ist das Visum?“ Alex erzählt ganz aufgeregt, dass er mit dem Konsul telefoniert hat und alles in Ordnung sein sollte. Sie hören lange zu und dann wendet sich einer ab und sagt: „Der Konsul ist eine Kurva (Hure)!“ Aber sie werden durchgelassen.

Um drei Uhr nachmittags sind sie in den Bus gestiegen und am Abend des nächsten Tages rufen sie mich an, ob sie bei mir übernachten können. Natascha und Alex fürchten, nie in Holland anzukommen! Der Fahrer fährt seit 30 Stunden und hat nur 20 Minuten geschlafen! Der Kleinbus muss keinen großen Umweg machen, hält kurz bei mir an und fährt mit zwei weiteren Passagieren weiter nach Amsterdam. Ob sie da wohl angekommen sind?

Sie erzählen: In Kiew gibt es momentan keine Straßenbeleuchtung. Beleuchtet wird nur das Denkmal für die Opfer des Holodomor. Dies sei ein anderes Thema, bei dem diese nationale Katastrophe der UdSSR zu einem Instrument des Kampfes gegen das verhasste Russland gemacht werde, wobei vergessen werde, dass die Hungersnot auch die Menschen in Nordkasachstan, Sibirien und Zentralrussland getroffen habe. Alex: „Was soll das?! Alles wird in den Ofen gegen den gehassten Feind geworfen!“ Ich frage: „Wann hat das angefangen?“ Er sagt, dass das „Moskalyaku na Gilyaku“ schon vor 2014 war, aber damals wurde das alles nicht ernst genommen. Niemand dachte daran, dass es eines Tages Realität werden würde und die Doktrin und Ideologie der Ukraine.

Wir fragen uns: „Hätte es gestoppt werden können? Wann war der Punkt ohne Wiederkehr überschritten?“ Natascha meint: „Ja, dieser Krebs wuchs jedes Jahr, metastasierte in den Köpfen und Seelen der Menschen, die in der Ukraine leben…“ Seit Oktober gebe es in Kiew sehr oft Stromausfälle. Manchmal sogar für drei Tage. Sobald wieder Elektrizität da ist, springen sie auf und laden alle Telefone und Powerbanks auf. Das Wichtigste für Alex ist die Aufladung seiner Fahrradlampe! Sie kochen Wasser und machen die Thermoskanne damit voll, aber morgens ist das Wasser schon wieder kalt. Abendessen gibt’s bei Kerzenlicht mit kalten Konserven. Diejenigen, die einen Gasherd besitzen, haben es leichter.

Bis Oktober, als die Russen nach der Explosion der Krimbrücke Raketenangriffe auf militärische Anlagen und die Infrastruktur starten, unterschied sich das Leben in Kiew praktisch nicht von der Vorkriegszeit, sagen Natascha und Alex. Gegenüber ihrem Haus liegt der Dnjepr, mit vielen Restaurants und Cafés. Abends – ständige Partys, teure Autos, junge Leute feiern. „Was für junge Leute? – frage ich, – es gibt doch die allgemeine Mobilisierung?“

„Ja, es gibt sie, aber diese jungen Leute haben Eltern, die sie freikaufen können. Vorladungen werden an alle in der U-Bahn, auf der Straße, an Studenten, Arbeiter, aber nicht in den Nachtclubs verteilt.“

Alex sagt, Kiew sei eine russischsprachige Stadt. „Fast alle sprechen Russisch. Sogar 2014/2015 gibt es im ukrainischen Fernsehen einen Bericht über den Fall, dass ein Flüchtling aus dem Donbas irgendwie in die Westukraine gelangt war und dort irgendwo Russisch sprach und ihm der Mund aufgerissen wurde. Der Bericht verurteilte diesen Vorfall. Tja, dann ging sowieso alles schief. Poroschenko unterzeichnete ein Sprachverbotsgesetz, Selenskyj versprach bei den Wahlen, dass jeder frei Russisch sprechen könne, aber er hat sein Versprechen nicht umgesetzt.“

Und jetzt, wie Alex sagt, sprechen alle in dem Laden, wo er gearbeitet hat, Russisch, ein Kunde kommt – sie wechseln sofort zu Ukrainisch, manchmal vergessen sie es und einige Kunden beschweren sich: „Warum sprechen Sie kein Ukrainisch?!“ Alex ist empört darüber, dass die Leute überhaupt keine normale Sprache sprechen. Die jungen Leute können überhaupt nicht korrekt schreiben. „Sprichst du diese Sprache?“ „Stell dir vor – nein! Aus Prinzip! Ich will nicht! Nein, natürlich, ich lebe dort seit 30 Jahren, und wenn es wirklich nötig ist, mache ich einen sehr korrekten Satz, aber ich spreche nur Russisch.“

Frühmorgens und abends ist es stockdunkel auf den Straßen! Menschen laufen mit reflektierenden Bandagen und Taschenlampen herum. Es ist beängstigend, wie viele private Waffen im Umlauf sind. Russland bombardiert die Infrastruktur und Militäranlagen, und jeder weiß, dass diese Bomben wohl eher nicht in Wohngebiete fliegen werden, niemand achtet auf die Explosionen, das Leben in der Stadt geht weiter wie gewohnt – jeder versucht, sich irgendwie anzupassen und einfach zu überleben. Der Arbeitsplatz von Alex ist zwei Kilometer vom Panzerreparaturwerk entfernt. Es wurde für diese Zwecke umgebaut. Einmal sieht er dort mit eigenen Augen eine russische Rakete fliegen.

„Ich war erstaunt, wie tief sie fliegt, mit dickem Bauch und solchen Flügeln. Ich habe gesehen, wie sie zwischen hohen Gebäuden manövriert, sich um sie herum beugt und zielstrebig auf das Ziel zusteuert! Ein schrecklich faszinierendes Spektakel! Man konnte vermuten, dass sie lebendig wäre! Erst wenn du es mit eigenen Augen siehst, beginnst du zu verstehen, wie beängstigend das alles ist! Im März, als Kiew umzingelt ist, ist meine Frau auf den Balkon gegangen, und dann sind drei russische Kampfflugzeuge ganz tief vorbeigeflogen! Und sie fing sofort an, ihre Koffer zu packen.“

Natascha ist seit dieser Zeit in Amsterdam. „Aber ich musste hier bleiben, wegen meinem Pass. Wenn sie jetzt nicht hierher gekommen wäre, um mich rauszuholen, weiß ich nicht, wie ich weitergelebt hätte. Meine Frau ist wohl eine Dekabristin!“, sagt er lachend. (Als Dekabristen wurde die Teilnehmer an dem Offiziersaufstand für eine konstitutionelle Verfassung in Russland im Jahre 1825 bezeichnet.)

Zunächst wurde das Panzerreparaturwerk nur am Wochenende bombardiert, um die dort arbeitenden Zivilisten nicht zu verletzen. Aber in letzter Zeit ist natürlich alles härter geworden. Ich frage, was denkt der normale Bürger über all das? Alex sagt, dass alle den Mund halten, alle haben Angst, etwas zu sagen. Wenn man das Thema irgendwie anspricht, weichen sie aus. Bei seiner Arbeit gebe es einen Mann, der fast offen sagt, dass er davon träumt, die Rote Armee zu begrüßen! „Wahrscheinlich hat er auch schon eine rote Fahne parat“! – Alex lacht und sagt, dass jeder diesem Mann verzeiht, dass der schon ein bisschen seltsam sei. Er erzählt von einer Nachbarin, wie sie über die Ukrainer geschimpft hat, die Bandera-Anhänger waren, – „sie sollen überhaupt nicht aus den Kellern kommen, da krepieren oder verhungern“, dass sie das erleben sollten, was die Bevölkerung vom Donbas in den letzten acht Jahren erlebt hat. Und er fragt sie: „Hör zu, du sitzt selbst in dieser ganzen Scheiße!“ Und sie antwortet: „Ich werde ausharren und überleben! Und es ist mir egal, aber sie müssen büßen!“

Natascha und Alex haben Freunde, mit denen sie offen reden können. Eine Freundin behauptet, dass im Haus, wo sie lebe, fast die Hälfte genauso denken würde. Aber viele schweigen. Ich frage, gibt es diejenigen, die ganz hartnäckige Patrioten sind – für Bandera, Selenskiy? Alex sagt, jede Menge:

„Es reicht, zwei Tage vor dem Fernseher zu sitzen, um ein flammender Anhänger von Bandera und Selenskjiy zu werden. Du kannst dir nicht vorstellen, was für einen Müll sie da erzählen! Ich sehe schon seit mehreren Jahren nicht mehr fern, eine normale Psyche kann es nicht ertragen. Ich habe Beispiele – die klügsten, gebildeten Menschen! Und wie sie sich veränderten! Ich suche alles aus dem Internet, YouTube, aber in letzter Zeit ist alles entweder geblockt oder zensiert und du findest fast keine normalen Informationen mehr.“

Wir unterhalten uns und ich erzähle Alex und Natascha, was die westliche Presse schreibt. „Der verrückte Putin hat die friedliche Ukraine angegriffen, und dies ohne irgendwelche Provokationen von Seiten der Ukraine!“ Alex lacht lange und laut! „Ja,“ sagt er, „ganz ohne Grund! Keine Provokationen! Was ist mit Odessa, Zugres, Lugansk, dem Beschuss von Zivilisten in Donezk? Die Ukraine wollte die Republiken Donezk und Lugansk am 26. Februar dem Erdboden gleichmachen! Und jeder weiß das in der Ukraine! Der Donbass war schon 2014 nicht ukrainisch – die gesamte Infrastruktur war mit Russland verbunden – Renten, Strom, Banken, Gas. Was haben sie gedacht? Dass sie ungestraft töten, demütigen, foltern können? Dachten sie, dass die Antwort niemals kommen würde? Die müssen so naiv sein!“

Ich erzähle Alex und Natascha die Geschichte der Ukraine, die deutschen Schulkindern in den Kopf gestopft wird: Die Ukraine kämpfe seit Jahrhunderten für ihre Unabhängigkeit! Dass der ukrainische und der russische Zar miteinander kämpften! An dieser Stelle verschluckte Alex sich fast:

„Ukrainischer Zar! Unglaublich! Das Wort Ukraine gab es bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts überhaupt nicht! Es war der Stadtrand! Deshalb sagt jeder – in der Ukraine (am Stadtrand – an okraine) und nicht in der Ukraine. Lenin verlieh ihnen Staatlichkeit und gab ihnen die ursprünglichen russischen Ländereien des industriellen Donbass. Stalin gab die Westukraine und Transkarpatien, Chruschtschow die Krim! Und sie zerstören ihre Denkmäler! Was haben Puschkin, Lermontow, Dostojewski damit zu tun? Und jetzt verbieten sie bald die orthodoxe Kirche!“

„Es läuft der Krieg und sie verabschieden ein Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe! Zusammen mit diesem Gesetz verabschiedeten sie ein Gesetz, dass alle Immobilien russischer Bürger in der Ukraine beschlagnahmt werden.“

Alex setzt sich, fasst sich mit den Händen an den Kopf und wiederholt die ganze Zeit: „Nein, ich kann einfach nicht glauben, dass ich diesem Mordor entkommen bin! Es ist hart, dort zu leben! Es ist einfach Wahnsinn!“ Und ich ahne, was er meint. Er meint nicht den Krieg, sondern diesen Angstnebel, der die ganze Ukraine überzieht.

Und es werde und es könne keinen Widerstand geben! Weil mindestens seit Odessa am 2. Mai 2014 jeder verstanden hat, dass jeder jeden straflos umbringen kann, wenn er etwas gegen dieses Regime sagt oder sich wehrt. Ich frage, ob es stimmt, dass man jedem das Handy wegnehmen könne, um zu sehen, welche Kanäle man liest und was man schreibt.

„Ja, das stimmt. Sie können Mobiltelefone überall und sofort ohne große Begründung konfiszieren. Als ich entschieden habe, über die Grenze zu gehen, habe ich alles vom Handy und Computer gelöscht, absolut alles!“

Ich sehe ihn an und finde, er sieht aus wie ein zum Tode Verurteilter, der plötzlich begnadigt wurde. Und ich denke, wieviele solcher Leute sitzen da und warten nur darauf, dass dies alles ein Ende hat. Wenn die Hauptideologie eines Staates nicht die Schöpfung, sondern die Zerstörung ist, wenn Hass der scheinbar große Motor des Lebens ist, dann zerstört sich der Staat von innen heraus. Hass war noch nie kreativ. Versuche, aus einigen Fetzen eine eigene Geschichte zu erschaffen, getrennt von Russland, sollen den Erfolg bringen? Es ist, als würde man seine Familie, seine Eltern verstoßen und neue für sich erfinden. Ich kann Alex verstehen: Es gibt für die Ukraine keine Zukunft, ohne eine selbstkritische, aufrichtige Reflexion der Vergangenheit.“

Titelbild: shutterstock / Fire-fly


[«*] Der Name ist ein Pseudonym. Die Autorin ist Russin mit ukrainischen Wurzeln. Sie lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und möchte aus Gründen der persönlichen Sicherheit anonym bleiben. Der Redaktion ist der reale Name bekannt.


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