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Titel: Es waren mehr als 13.000

Datum: 1. März 2023 um 16:31 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Friedenspolitik, Strategien der Meinungsmache, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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Am vergangenen Wochenende riefen Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer mit dem „Manifest für Frieden“ zu einer Kundgebung in Berlin am Brandenburger Tor auf. Im Vorfeld wurde diese Veranstaltung in vielen Medien angegriffen, doch tausende Menschen, die für „Frieden schaffen ohne Waffen“ auf die Straße gingen, ließen sich davon nicht abhalten, berichteten Ala Goldbrunner und Christian Goldbrunner für die NachDenkSeiten, die vor Ort waren. Frank Blenz weilte ebenfalls in Berlin, erlebte die Demonstration, Gegendemonstrationen, schaute sich Reaktionen von Medien an. Fazit: „Es war ein guter Tag für eine erwachende, endlich stärker werdende und somit nicht mehr zu leugnende Friedensbewegung. Dagegen war es ein weiterer schwarzer Tag für die Leitmedien des Landes einschließlich der Öffentlich-Rechtlichen.“

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„5.000 Besucher, dass ich nicht lache“

In Berlin, Samstag, 25. Februar gegen 15 Uhr, stehe ich auf der Straße des 17. Juni, etwa 200 Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Dicht gedrängt um mich erlebe ich frohe, stolze, hellwache Menschen aller Generationen, die dem Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer „Kommt alle!“ gefolgt sind. Mitunter blicken einige der Demonstranten auf ihre Smartphones, um Neuigkeiten einzuholen, unter anderem mögliche erste Wortmeldungen und Infos zu dieser wichtigen Kundgebung im Herzen Berlins, direkt vor dem Tor, vor dem einst ein US-Präsident einen Sowjetpräsidenten aufgefordert hatte, dieses zu öffnen, was 1989 tatsächlich geschah, der „Kalte Krieg“ schien vorbei. „5.000 Besucher sagt Spiegel, dass ich nicht lache“, ruft ein älterer Mann plötzlich lachend aus, seinem Nachbarn rutscht ebenfalls ein ironisches Lachen heraus. Das hätten sie wohl gern, dass es nur so wenige sind, bemerken beide. Sie fragen sich, warum Spiegel und Co. überhaupt kleinrechnen, kleinreden und schlechtreden? Es geht doch um das Wichtigste, um Frieden, höre ich von ihnen. Ich sehe ihr Kopfschütteln. Ein junger Mann windet sich durch die Menschenmenge, als würde er Slalomski fahren, eifrig teilt er kleine Aufkleber aus: „Schwerter zu Pflugscharen“ steht darauf. Die runden Teile gehen weg wie warme Semmeln, währenddessen weit vorn am Brandenburger Tor Sahra Wagenknecht „Freunde und Freundinnen sagt“ und das Schneetreiben nachlässt.

Das Stichwort „Besucherzahl“ rumort immer noch, später ist zu erfahren, dass es darüber Differenzen gibt, bei denen, die dabei sind, und bei denen, die darüber berichten. Vor Ort komme ich als Zeitzeuge ganz unbefangen zum Schluss, dass es in der Summe mehr als 30.000 Menschen sind, die den Weg zur Kundgebung finden, vorbeischauen, dabei sind, auch die Zaungäste. Und ja, die wenigen Gegenprotestanten zähle ich auch mit. Sichtbar für alle ist, dass die Straße des 17. Juni bis zum Sowjetischen Ehrenmal voller Leute ist, dass entlang der abgesperrten Straße viele Menschen in den Parkanlagen und auf den schlammigen Wegen all den Reden zuhören, dass es ein reges Kommen und Gehen gibt und dass auf den Straßen und Zugängen rund um den Platz am Brandenburger Tor kaum ein Durchkommen möglich ist. Das ist auch dem Fakt geschuldet, dass die Polizei das Gelände abgesperrt hat, was später von Nichtleitmedien (Junge Welt) als rechtswidrige Abriegelung kritisiert wird.

Wohltuende diplomatische Wortwahl

Das Zuhören tut gut. Sahra Wagenknecht, Alice Schwarzer sowie weitere Redner finden durchweg ruhige, besonnene Worte zu einer überaus brenzligen Situation. Russland wie auch die USA als Kontrahenten des großen Konflikts werden nicht per se als Bösewichte definiert, die gewählten Formulierungen bauen Brücken, so wie es wohl der Sprache der Diplomatie entspricht. Viel Beifall brandet auf, als Sahra Wagenknecht kritisch und ruhig bemerkt, dass Friedensinitiativen von China und von Brasilien kämen und nicht aus Europa, aus Deutschland gar.

Wagenknecht klagt auch an. Die Politikerin findet, dass die Regierung nicht im Namen der Bevölkerung spricht, der Kanzler nicht und dass auch die Außenministerin nicht im Namen der Bevölkerung spricht. Von wegen Amtseid. Laut und vielstimmig tönt die Rücktrittsforderung über den Platz: „Baerbock weg!“ Was Wunder, denke ich, wenn man daran denkt, dass diese Frau, unsere Ministerin, in Atombunkern in Helsinki herumhopst wie ein Kind und sich derlei Bauten hier wünscht. Wagenknecht hat passende Worte dafür, ein Entkommen nach einem Atomschlag ist aus einem Bunker unmöglich.

Die Menschen lauschen aufmerksam und ruhig. Eine FDP-Politikerin und stramme, nachweislich sehr aktive Rüstungslobbyistin namens Strack-Zimmermann wird von Wagenknecht kritisiert. Die Buhrufe gegen diese Frau sind laut und deutlich zu hören. Die Hauptrednerin und Initiatorin formuliert dann persönliche Worte. Vor vielen Jahren erlebte sie die Angst vor einem großen Krieg, sie sah ein schlimmes Bild: einen Atompilz über Berlin. Dieses Bild verschwand, Sahra Wagenknecht spürte Erleichterung, gesteht sie, doch nun gibt es wieder diese Angst. Atompilz über Berlin …

Plakate, Zeichen, Gesten

Wie Ala und Christian Goldbrunner für NachDenkSeiten schon beschrieben, sind die Teilnehmer der Kundgebung sehr kreativ. Plakate, Handzettel, Transparente, Pappschilder, Skulpturen sind viele zu sehen. Ein Mann trägt einen Mopedhelm, auf dem eine Friedenstaube Platz genommen hat. Ein weiterer Demonstrant trägt ein Schild, das die Außenministerin eingekleidet in das Sternenbanner zeigte. „Drushba-Freundschaft“-Schilder sind zu sehen. Und nein, es sind keine hasserfüllten, hart polarisierenden Slogans und Begriffe zu lesen, deutliche Worte indes schon, wie beispielsweise die, dass unser westliches Militärbündnis der wirkliche „Hauptaggressor“ des Geschehens sei. Eine Familie hält ein Schild hoch, auf dem Totenzahlen von jüngeren bewaffneten Konflikten und Kriegen stehen. Die Zahl 13.000 steht hinter „Ostukraine 2014“. Inhalte wie „Meine Söhne bekommt ihr nicht“, „Reden statt Eskalieren“, „den Kriegstreibern nicht zuhören“, „Krieg und Rüstung killt Menschen und Umwelt“ sehe ich im Meer der Demonstranten.

General spricht nüchterne Tatsache aus

Bei allen Friedensrufen, bei allen Forderungen nach einem Ende des Krieges in der Ukraine liegt das „Wie“ und das „Wie weiter“ in der Luft. Die einen, die Waffenlieferungen befürworten, fordern Bedingungslosigkeit in Richtung Russland. Dem hält der Redner, Brigade-General a.D. Erich Vad, ein Wort entgegen, welches in den kommenden Wochen und Monaten Raum finden wird: Kompromiss. Vad vergleicht in seinen Ausführungen die Interessen Russlands mit denen der USA. Vad erinnert, dass die Amerikaner in den 1960ern ihr geostrategisch wichtiges „Vorzimmer“, die Karibik, nicht einer russischen Präsenz inklusive Atomwaffen überlassen konnten und wollten. Heute in 2023 könnten und wollten das die Russen mit ihrem Vorzimmer, dem Schwarzen Meer, ebenso nicht, so Vad.

Nach der Demo

Die Kundgebung neigt sich dem Ende zu, nach und nach begeben sich die Menschen nach Hause, vorbei an anderen Mitbürgern, auch an welchen, die die Intention von Wagenknecht und Schwarzer ganz und gar nicht teilen. So rufen offensichtlich ukrainische Gegendemonstranten offen und skandierend aus: „Scheiße. Scheiße. Scheiße.“ Am Abend schaue ich regionale Sendungen des RBB an, um eine Zusammenfassung, Bilder, O-Töne und Kommentare zu sammeln. Ein junger Reporter des RBB agiert eifrig im Umfeld der Demo, befragt Teilnehmer, Passanten. Schnell wird seine Ausrichtung klar, ich empfinde es wie eine latente Geringschätzung der Kundgebung, eine Abwertung von Teilnehmern, vor allem denen, die nicht der Meinungsmache seines Senders folgen. Eine Polizeisprecherin kommt zu Wort, die sogleich Bewertungen von Teilnehmern vornimmt und unter ihnen auch Corona-Maßnahmen-Gegner ausgemacht haben will. Gegner sein in diesem Land, das ist nicht leicht.

Sonntag in Berlin, ein Tag nach der Kundgebung am Brandenburger Tor. Ich unternehme einen Spaziergang durch Mitte. Der Buchladen in den Gängen des S-Bahnhofs Friedrichstraße hat eine komplette Auslage der Berliner Presse zu bieten, zu vermuten wäre vielleicht gewesen, auf Seite 1 Fotos von Sahra Wagenknecht und der Menschenmenge zu sehen, schließlich war die Kundgebung die politische Aktivität des Samstags. Nichts davon. Lediglich kleine „Einspalter“ sind für die Leserschaft vorgesehen, stelle ich fest. Und die Zahl 13.000. Es waren mehr, murmel ich vor mich hin.

Auf dem Vorplatz des Theaters Berliner Ensemble lege ich eine Pause ein, trinke Kaffee und sehe eine Statue, die den sitzenden Bertold Brecht darstellt. Daneben stehen zwei Säulen, auf der weise Worte des Dichters, Denkers und Theatermannes stehen. Von Karthago ist die Rede. „Das große Karthago führte drei Kriege. Nach dem ersten war es noch mächtig. Nach dem zweiten war es noch bewohnbar. Nach dem dritten war es nicht mehr aufzufinden.“ Ich sitze da, Brecht sitzt da, die Sonne scheint, ich merke, dass ein leises Lächeln mein Gesicht einnimmt, als würde ich mit mir im Reinen sein, weil ich mich für etwas wirklich Gutes einsetze. Ja, gestern war Demo in Berlin, es waren viele da, ich war auch dabei, um für Frieden und Verständigung einzutreten. Wie bei Brecht, hier aber gegen einen dritten Krieg. Und ich denke: Danke Sahra, Danke Alice, Danke Ihr vielen Mitbürger. Ich lese später noch, dass das „Manifest für Frieden“ inzwischen von bis zu 700.000 Menschen unterzeichnet wurde.


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