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Titel: Corona-Demonstrationen: Journalismus „fern aller Qualitätsstandards“

Datum: 5. Mai 2023 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Interviews, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
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Der Medienjournalist Timo Rieg hat sich intensiv mit der Berichterstattung der Medien über die Corona-Demonstrationen auseinandergesetzt. In einer „umfassenden Fallsammlung“ hat Rieg zahlreiche Beispiele dokumentiert, die zeigen, dass Journalisten ihrer Aufgabe nicht gerecht geworden sind. Rieg ist auf „schwere Qualitätsmängel“ gestoßen. Im NachDenkSeiten-Interview liefert er einen Einblick in die Abgründe der Corona-Berichterstattung. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Rieg, in Teilen der Bevölkerung kam die Pandemiepolitik nicht gut an. Es gab Demonstrationen und Gegenwehr. Wie sind die Medien mit den Kritikern der Maßnahmen umgegangen?

Das Auffälligste ist sicherlich, dass Kritik an der Corona-Politik inhaltlich so gut wie gar nicht dargestellt wurde. In den Medien tauchten vor allem Schlagworte wie „Corona-Kritiker“ auf, was schon sprachlich Nonsens ist. Oder es wurden eben alle als „Querdenker“ bezeichnet, obwohl das eine spezielle Gruppierung ist. Oder als „Impfgegner“, was für viele, vermutlich die meisten Kritiker, ebenfalls ein völlig falsches Label ist.

Wie meinen Sie das?

Als in sämtlichen Medien über die erste große Demonstration in Berlin vom 1. August 2020 berichtet wurde, ging es um Verstöße gegen Auflagen der Ordnungsbehörde, um Auseinandersetzungen mit der Polizei, mal um ein einzelnes Plakat oder einen winzigen Auszug aus einer Rede eines Demonstranten. Aber was da insgesamt gefordert oder konstruktiv vorgeschlagen wurde, auch was es an ‚internen‘ Widersprüchen und Auseinandersetzungen gibt, wurde nicht berichtet. Es wurden also schon einige der simplen W-Fragen nicht beantwortet, die jeder Praktikant in einer Lokalredaktion lernen sollte: Wer (hat demonstriert)? Was (wurde gefordert, ist geschehen, war zu beobachten)? Wie (wurde protestiert)? Warum (gehen die Menschen auf die Straße, nehmen zum Teil weite Anreisen und Kosten in Kauf)?

Medien haben also berichtet, aber sie haben die Inhalte aus dem Munde der Demonstranten gar nicht richtig aufgegriffen?

Sie werden sich mit kaum einem Bericht über Proteste auch nur annähernd ein Bild vom tatsächlichen Geschehen machen können. Der RBB wusste beispielsweise schon vorab – wenig nachrichtlich – zu berichten: „Wanderzirkus der Corona-Leugner kommt in die Stadt“. Da bräuchte es dann schon ein gutes Standing, nach der Demo zu sagen: „Entschuldigung, da waren wir vielleicht etwas voreilig, unter den 20.000 oder 30.000 Demonstranten waren ganz offensichtlich nicht nur Corona-Leugner.“ Deshalb war ich dann zum Beispiel bei der zweiten Berliner Großdemonstration als Beobachter vor Ort, um meine Eindrücke mit der Medienleistung abzugleichen.

Was heißt das denn, wenn Demonstrationen zu den schwersten Grundrechtseingriffen, die die Republik jemals gesehen hat, von Medien nicht sauber inhaltlich erfasst werden? Also was bedeutet das auch im Hinblick auf die Demokratie?

Journalismus wird in allen Lehrbüchern und auch in den Politik- und Rechtswissenschaften als essenziell für jede Demokratie angesehen – weil ihm die Aufgabe zukommt, Orientierungsangebote zu machen und damit den gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen. Journalismus hat die relevanten Tatsachen und das ganze Spektrum an Meinungen zu diesen Tatsachen abzubilden. Wenn er das nicht tut, ist die Gesellschaft orientierungslos – oder, was noch schlimmer ist, aufgrund von Einseitigkeit, Unvollständigkeit, Fehlerhaftigkeit etc. sogar desorientiert, also falsch „informiert“.

Was haben Sie selbst auf der zweiten Großdemonstration am 29. August 2020 in Berlin gesehen?

Der Protest war bunt, vielfältig, sehr heterogen – wie das eigentlich bei allen größeren Demos ist. Die Kritik an der Politik war absolut nicht aus einem Guss. Sie kam ja nicht aus einer Partei oder einer sonstigen strukturierten Gruppe. Und dann stand ich beispielsweise in einer Gruppe von Gegendemonstranten, die in Sprechchören gegen „Corona-Leugner“ und „Nazis“ skandierten. Nur: Die konnten den großen Demonstrationszug gar nicht sehen, weil ein riesiges Polizeiaufgebot dazwischenstand. Die Parolen konnten sich also gar nicht auf die tatsächlichen Demonstranten beziehen, sie und ihre Botschaften waren weder zu sehen noch zu hören.

In der Medienforschung schlägt sich diese brutale Vereinfachung dann so nieder, dass die Forderungen nach mehr und die nach weniger staatlichen Eingriffen zusammengefasst werden als „Kritik“. So gesehen sollte dann aber wohl jeder Bürger irgendwie Politik-Kritiker sein, denn niemand wird mit allem zufrieden sein.

Was ist Ihnen noch aufgefallen?

Kritiker der Corona-Politik sind in den Medien stets „die Anderen“, nicht „wir“, nicht die Community der Schreibenden, Sendenden und ihres Publikums. Damit geht dann zwingend auch die Unterscheidung von vernünftig und unvernünftig einher, denn „wir“ sind natürlich immer die Vernünftigen, „wir“ stehen auf der richtigen Seite.

Sie meinen also, dass in den Redaktionen niemand sozusagen aus der Perspektive eines Journalisten berichtet hat, der das Anliegen der Demonstranten teilt?

Die Forderung nach Objektivität im Journalismus wird ja inzwischen offen attackiert: Das sei gar nicht möglich, eine Fiktion. Stattdessen sollten Journalisten Haltung zeigen, also sich klar positionieren. Ich habe bestimmt nichts gegen klare Positionen. Aber der Job des Berichterstatters ist es, so zu informieren, dass Medien-Konsumenten bei eigener Inaugenscheinnahme nicht zu einem grundlegend anderen Bild kämen. Kein Journalist muss das Anliegen der Demonstranten teilen, aber er muss es objektiv darstellen, er muss ganz klassisch recherchieren – beobachten und Fragen stellen. Stattdessen werden ständig Meinungen und persönliche Glaubenssätze verbreitet.

Zu Ihrer Untersuchung. Schildern Sie uns bitte, wie diese aufgebaut ist? Was haben Sie gemacht?

Nachdem ich in den ersten Wochen schier fassungslos die Berichterstattung verfolgt habe und nicht glauben konnte, wie fern aller Qualitätsstandards da gerade gearbeitet wird, habe ich für einen Essay in der Fachzeitschrift journalistik begonnen, Beispiele sehr offensichtlicher Qualitätsdefizite in den Artikeln und Sendungsbeiträgen zu sammeln.

Weil ich darin schon nur einen Bruchteil meines Materials unterbringen konnte, habe ich eine ausführliche Artikelserie für Telepolis geschrieben und dazu kontinuierlich weiteres Material gesammelt, um strukturiert einzelne Qualitätsaspekte wie Richtigkeit, Vollständigkeit oder Repräsentativität durchzugehen. Für das nun vorliegende Paper habe ich all das nochmal zusammengefasst, überarbeitet, gestrafft und um weitere markante Fallbeispiele ergänzt. Außerdem habe ich Redaktionen und einzelne Journalisten zu ihren Beiträgen befragt, um zu verstehen, wie es zu dem kam, was meiner Ansicht nach klare Qualitätsdefizite sind.

Gut, also wie ging es weiter?

Fragen zu ihren Beiträgen beantworten Journalisten leider recht selten – das kenne ich als Medienjournalist allerdings schon seit 30 Jahren. Ich kann natürlich keine quantitativen Aussagen treffen, da ich nur Einzelfälle gesammelt und ausgewertet habe. Es gab keine repräsentative Stichprobe, sondern eben das Material, das mir so aufgefallen ist. Wobei ich zu einzelnen Ereignissen dann schon sehr umfangreich gesucht habe, um mir ein Bild von der Vielfalt – oder eben leider oft Einfalt – der Berichterstattung zu machen. Es geht mir um Fallbeispiele für verbreitete Fehler und Unzulänglichkeiten, die zu diskutieren sind. Und da fand sich für jeden Aspekt reichlich Material. Insgesamt habe ich etwa 2.000 Artikel und Sendungsbeiträge mit Qualitätsdefiziten in der Corona-Berichterstattung archiviert. In der derzeitigen Fassung meines Papers habe ich circa 10 Prozent davon verwendet. Es ist ein Diskussionsangebot, jeder kann die Fälle selbst prüfen. Ich biete eine erste Kommentierung an. Aber ich bin völlig offen für andere Sichtweisen.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?

Schwere Qualitätsmängel finden sich vermutlich in allen Medien. Denn in meiner Fallsammlung ist alles vertreten, von kleinen Lokalredaktionen bis zu den Leitmedien. Und es sind leider gerade die großen Leitmedien, die sich besonders schwertun, Qualitätsdefizite einzugestehen. Um ein Beispiel zu nennen: Der Spiegel hielt an einer Falschberichterstattung über die erste Berliner Großdemonstration auch nach zahlreichen Hinweisen aus dem Publikum und zwei Presseanfragen von mir fest. Erst meine Eingabe bei der neu eingerichteten Ombudsstelle führte zu einer Korrektur – allerdings ohne Fehlereingeständnis. Solche Fallbeispiele müssten eigentlich für einen Eklat sorgen, aber selbst Richtigkeit als ein sehr leicht prüfbares Kriterium scheint keine allzu große Bedeutung im Journalismus zu haben.

Was wurde noch sichtbar?

Der Medienjournalismus ist sehr fokussiert auf ethische Probleme – die aber immer Ansichtssache sind, weil es sich um Meinungen handelt. Der zweite Schwerpunkt sind Falschmeldungen, also unrichtige Tatsachenbehauptungen. In Summe erscheinen mir aber andere Qualitätskriterien gewichtiger zu sein: die Vollständigkeit etwa, Meinungsvielfalt, die Repräsentativität. Letztlich lassen sich dabei alle Defizite auf mangelhafte Recherche zurückführen. Denn ich mache ja bei meinen Checks nichts anderes als zu recherchieren: Ich stelle Fragen zu den veröffentlichten Beiträgen, zunächst mir selbst, danach zu allem noch unklaren Anderen. Und wenn ich diesen Fragen nachgehe, komme ich regelmäßig zu anderen Bildern als in den kritisierten Beiträgen.

Haben Sie Beispiele?

Ende 2021 twitterte Prof. Christian Drosten nach Verärgerung über Interviewaussagen im Deutschlandradio:

„Wer glaubt, durch eine Infektion sein Immunsystem zu trainieren, muss konsequenterweise auch glauben, durch ein Steak seine Verdauung zu trainieren.“

Aus dieser Mini-Behauptung machten zahlreiche Medien eigenständige Meldungen, Tenor: Drosten zerlegt Querdenker-Thesen. Recherche dazu fand nicht statt. Dabei sollten auch medizinisch oder biologisch nicht speziell Vorgebildeten Zweifel an Drostens Behauptung kommen. Ein Blick in Fachorgane wie die Ärzte-Zeitung zu den Stichworten ‚Immunsystem‘ und ‚trainieren‘ fördert denn auch Hunderte Artikel zutage, in denen ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, das Immunsystem zu trainieren – von einem Blick in die Fachliteratur ganz abgesehen. Jeder kann sich auch fragen, was wohl das Geheimnis ist, dass zwar die Urlauber in südlicheren Ländern aufs Essen mit Durchfall reagieren („Montezumas Rache“ genannt), die einheimische Bevölkerung aber wohlauf ist. Sind das andere Menschen? Oder hat sich schlicht ihr Verdauungssystem an die aus Touristen-Sicht ungenügende Küchenhygiene gewöhnt, ist es trainiert? Die Sache war aber noch doller.

Was meinen Sie?

Nur zwei Tage zuvor lief die gegenteilige Meldung in einigen Medien. Tenor dort: Geimpfte sollten ihr Immunsystem trainieren, indem sie keine Maske tragen. Einige Medien haben es dann geschafft, einfach beides in einen Artikel zu packen. Aber geklärt wurde nicht, wer da gerade Quatsch erzählt, denn beides konnte ja nicht stimmen.

Also dieser Widerspruch ist Journalisten nicht aufgefallen?

In den getrennt erschienenen Meldungen offenbar nicht. Aber einige Medien haben ihre Online-Artikel sukzessive ergänzt und dabei einfach beide Positionen dargestellt. Das klingt fair, ist aber Humbug, weil es sich dabei gerade nicht um Meinungen, sondern um Tatsachenbehauptungen handelt. Beide Professoren hatten ja behauptet: So, wie ich es sage, ist es wahr. Damit sollte der Journalismus sein Publikum nicht alleinlassen. Noch deutlicher kann doch ein Thema nicht nach Recherche rufen.

Doch der Professor, von dem die zweite Aussage stammt, Cornel Fraefel aus der Schweiz, sagte mir auf Anfrage, kein einziger Journalist habe bei ihm nachgefragt. Jeder darf selbst googeln, wie viele Medien die Steak-Aussage von Drosten verbreitet haben – und wie viele davon recherchiert haben, was nun stimmt und was nicht bzw. wo das Missverständnis liegt. Am Ende sucht sich dann jeder das raus, was sein Weltbild bestätigt. Das hilft uns als Gesellschaft aber nicht weiter.

Wie erklären Sie sich, dass Medien sich so verhalten haben?

Auch wenn es sehr besserwisserisch klingen mag, aber im Hinblick auf die von mir untersuchten Fallbeispiele wird einfach nicht professionell gearbeitet. Alle Qualitätsdefizite, die ich dokumentiert habe, wären vermeidbar gewesen, wenn simple und allseits bekannte Handwerksregeln auch angewendet würden. Unterscheidung von Tatsachen einerseits und Meinungen über Tatsachen andererseits zum Beispiel. Jede Tatsachenbehauptung zu belegen, wenigstens intern – es passt nicht alles in Artikel oder gar Radiobeiträge. Zu jeder Meinung auch Gegenpositionen suchen. Die Relevanz der eigenen Story prüfen mit dem Mut, die bisher geleistete Arbeit in die Tonne zu kloppen.

Da sind wir doch an einem wichtigen Punkt. Sie sagen es selbst: „allseits bekannte Handwerksregeln“. Es ist doch nur logisch, dass Journalisten im Grunde genommen ihr Handwerk beherrschen. Wenn Journalisten aber so massiv gegen journalistische Regeln verstoßen, und zwar – das ist meine Beobachtung – gerade dann, wenn es um große politische und gesellschaftliche Themen geht, dann würde ich von Vorsatz ausgehen. Journalisten verstoßen gegen die journalistischen Regeln aus taktisch-weltanschaulichen Gründen (siehe dazu auch dieses Interview). Wie sehen Sie das?

Journalisten beanspruchen, eine besondere gesellschaftliche Rolle zu spielen. Sie wurden in der Pandemie nicht müde, von ihrer Systemrelevanz zu sprechen. Aber wenn es dann mit der professionellen Rolle nicht klappt und stattdessen die normale Bürgerrolle eingenommen wird, wenn Journalisten auf ihre Ängste genauso reagieren wie alle ihre Mitmenschen, anstatt mit Erkenntnisinteresse völlig ergebnisoffen zu recherchieren, dann haben wir wohl ein Problem im Mediensystem. Das gilt natürlich auch für die Gegenposition: Nur zu glauben, Lockdowns könnten nicht sinnvoll helfen, ist ebenso wenig hilfreich. Es muss recherchiert werden – mit dem Mut zu sagen, dass man etwas noch nicht weiß.

Es gibt zu diesem Thema übrigens eine sehr interessante Aussage von Kai Gniffke. Freimütig erzählt er in vertrauter Runde, dass es auch in den Nachrichtenformaten der ARD bisweilen einen „missionarischen Eifer“ gibt (siehe Video ab 0:32)

Missionarischen Eifer gibt es immer, wenn man von der Richtigkeit einer Position überzeugt ist – da nehmen wir beide uns sicher nicht aus. Allerdings sollten wir alle dennoch – und insbesondere als Journalisten und Medienforscher – stets offen sein für andere Sichtweisen, für andere Argumente, also Tatsachen, und andere Meinungen, nämlich Bewertungen dieser Tatsachen. Deshalb müssen Journalisten in jedem Stadium recherchieren. Wenn schon alles klar ist, braucht es auch keinen Journalismus mehr – dann können PR-Abteilungen übernehmen. Und zu Corona wurde von Anfang an bis heute viel zu wenig recherchiert, es wurden nicht einmal die ganz naheliegenden Fragen geklärt. Stattdessen gab es Überzeugungen, die mangels Fakten in weiten Teilen quasi Glaube waren.

Zahlreiche Journalisten haben inzwischen bekannt, dass die „Bilder von Bergamo“ für sie eine Art Erweckungserlebnis waren und sie fortan der Ansicht waren, nun sei nicht die Zeit für Meinungsvielfalt, sondern für Warnungen, für eine kollektive Bekämpfung der Pandemie nach dem von der Regierung vorgegebenen Muster. Leider waren die „Bilder von Bergamo“ selbst eine große Medienfehlleistung. Denn das Publikum – einschließlich vieler Journalisten – hat irgendwas gespeichert in der Art: Tausende Tote in einem größeren Dorf, da sind Menschen gestorben wie die Fliegen. Tatsächlich ging es bei den Militärlastern um 60 Särge in einer Stadt mit etwa 120.000 Einwohnern. Mit der korrekten Zahleneinordnung wäre das schlicht gar keine Meldung gewesen. So aber wurde es ein ikonisches Bild der Pandemie.

In einem BR-Bericht zu den Fotos aus Bergamo heißt es:

In Wahrheit war das Militär nicht etwa eingesetzt worden, weil Berge von Leichen nicht anders hätten transportiert werden können. Die Anzahl der Verstorbenen war damals nicht höher als bei manchen Grippewellen in Italien (Stand April Anfang 2020). Es war die Angst vor dem „Killervirus“ genannten Erreger. Um Fakten zu schaffen, beschloss man die sofortige Einäscherung der an COVID Verstorbenen. Normalerweise werden in Italien aber nur die Hälfte aller Verstorbenen eingeäschert. Deshalb reichten die Kapazitäten des Krematoriums in Bergamo nicht aus und die Leichen mussten in umliegende Orte transportiert werden.“

Können wir festhalten: Es fehlt oft an eigenen und vor allem auch unvoreingenommenen Recherchen?

Absolut. Dass Redaktionen auf Recherche verzichtet und quasi nur Regierungsmeinungen verbreitet haben, wurde schon in der Anfangsphase der Pandemie vereinzelt aus der Medienwissenschaft kritisiert – von einer Mehrheit allerdings gerechtfertigt, Stichwort „Verantwortungsethik“, was aber ein Zirkelschluss ist. Denn ich kann ja nicht auf Diskussionen verzichten wollen, ohne zuvor alle Positionen geklärt zu haben und damit wenigstens argumentieren zu können, dass es nur eine alternativlose Handlungsoption gibt. Die Vielfalt von Möglichkeiten, auf die Pandemie zu reagieren, wurde nie in den Medien abgebildet und offen diskutiert. Und es bleiben genügend Grundsatzpositionen, bei denen niemand einen Generalkonsens erwarten kann, etwa: Paternalismus („Der Staat trifft die richtigen Entscheidungen für alle“) versus Selbstbestimmung („Wenn ich als Pflegeheimbewohner meine Angehörigen auch auf das Risiko einer tödlichen Infektion hin sehen möchte, dann ist das meine freie Entscheidung“).

Der journalistische Missionseifer ist längst belegt – sowohl durch Studien, die nach der Vielfalt gesucht haben, als auch durch drastische Fallbeispiele. Julian Reichelt hat gesagt, er habe als BILD-Chefredakteur von seiner Verlegerin Friede Springer die Order erhalten, den Regierungskurs zu stützen – er habe das aber abgelehnt. Marc Walder, Geschäftsführer des großen Schweizer Ringier-Verlags, hat seinerseits tatsächlich an alle Medien seines Hauses die Parole ausgegeben:

„Wir wollen die Regierung unterstützen durch unsere mediale Berichterstattung, dass wir alle gut durch die Krise kommen.“

Es ist also keine Verschwörungsidee, Medien hätten darauf verzichtet, ihren Job zu machen und stattdessen Regierungs-PR verbreitet: Es ist für einzelne, aber sehr bedeutsame Fälle eindeutig belegt. Und das ist ganz offensichtlich passiert, schlicht, weil Journalisten nicht journalistisch gearbeitet haben.

Timo Rieg auf Twitter: twitter.com/Helgolaender

Titelbild: shutterstock.com/New Africa


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