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Titel: Mehr ist weniger: Der Mindestlohn wird zweimal aufgeschrumpft

Datum: 28. Juni 2023 um 9:30 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Der Mindestlohn wird angehoben, von zwölf Euro auf 12,41 Euro, später auf 12,82 Euro. Die zuständige Kommission hat dies mit der Mehrheit der Arbeitgeber gegen den Widerstand der Beschäftigtenvertreter durchgesetzt – ein einmaliger Vorgang. Die Gewerkschaften beklagen eine kümmerliche Zugabe und rechnen mit „enormen Reallohnverlusten“. Bundesarbeitsminister Heil will die Empfehlung trotzdem umsetzen. Nichts anderes war zu erwarten. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Berg kreißte und gebar eine Maus – beziehungsweise zwei Mäuschen. Nach langen, bis in die Nacht auf Montag reichenden Verhandlungen hat die Mindestlohnkommission eine Anhebung der gesetzlichen Lohnuntergrenze in zwei Schritten beschlossen. Zum 1. Januar 2024 soll diese von aktuell zwölf Euro auf 12,41 Euro angehoben werden. Stufe zwei „zündet“ dann zum Jahresanfang 2025 und „beschert“ noch einmal 41 Cent, womit pro geleisteter Arbeitsstunde 12,82 Euro fällig werden. Ein „schlechter Scherz“, befand Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbandes VdK, und das ist noch ein mildes Urteil. Für Millionen Geringverdiener in Deutschland ist der Entscheid ein Schlag in die Magengrube und eine enttäuschte Hoffnung mehr nach etlichen Monaten im finanziellen Dauernotstand. Im Vorfeld waren Hausnummern in der Größenordnung von 14 Euro und mehr diskutiert worden, und nicht wenige mögen sich einen zweiten „Doppelwumms“ versprochen haben. Geworden ist‘s: ein Doppelplumps.

Wobei schon der „Doppelwumms“ der Sorte Olaf Scholz rückblickend bestenfalls ein beschränkter Segen war für den „kleinen Mann“, der seiner Sozialdemokratie angeblich so am Herzen liegt. Für die einfachen Verbraucher bremsten die Energiepreisbremsen die Preise zwischenzeitlich auf hohem Niveau – 40 Cent pro Kilowattstunde beim Strom, zwölf Cent pro kWh beim Gas. Und sie halten die Kosten trotz drastisch gefallener Marktpreise offenbar künstlich oben, weshalb das Kartellamt Dutzende Versorger wegen Missbrauchs von Staatshilfen überprüft. Die Industrie dagegen profitiert längst wieder von sinkenden Preisen und war mit den Bremsen – beim Strom 13 Cent, beim Gas sieben Cent – auch deutlich besser bedient. Die Wirtschaft macht eben stets den besseren Schnitt, in Normal- und in Krisenzeiten.

Mehr ist weniger

Als schlimmen Ausrutscher haben die Kapitallobbyisten die Aufstockung des Mindestlohns von 10,45 Euro auf zwölf Euro zum 1. Oktober 2022 empfunden. Ausnahmsweise hatte nicht die mit den Tarifpartnern besetzte Mindestlohnkommission den Satz festgelegt, sondern die Bundesregierung qua Gesetz. Die Zielgröße steht so im Koalitionsvertrag der Regierungsparteien. Auf maßgebliches Betreiben der SPD sollte der Mindestlohn auf diesem Wege „armutsfest“ gemacht werden. Allerdings war der Ampelkontrakt am Tag der Umsetzung schon zehn Monate alt und damit längst von der Zeit mit einer gewaltigen Energie- und Inflationskrise überholt. Zwölf Euro Stundenlohn waren vielleicht vor dem Ukraine-Krieg halbwegs angemessen. Angesichts der beispiellosen und bis heute anhaltenden Teuerung kam die Zugabe aber nicht nur mit monatelanger Verspätung, sondern hat sich in ihrer Wertigkeit schon wieder umgehend verflüchtigt.

So zu tun, als hätte die Politik das Füllhorn über den Menschen ausgeschüttet, ist ein Akt der Täuschung. Schätzungsweise 5,8 Millionen Niedriglöhner haben von der Maßnahme profitiert, wie das Statistische Bundesamt errechnet hat. Womit fast 15 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse zuvor unterhalb der Zwölf-Euro-Marke lagen. Der erklärte Anspruch, im unteren Einkommensspektrum armutsfeste Löhne zu schaffen und massenhaft Werktätige über die Armutsschwelle zu hieven, wurde dagegen nicht eingelöst. Das allein mit dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen zu begründen, greift deutlich zu kurz. Und wäre die Sache so einfach, ließe sich bei vorhandenem politischen Willen mit einem erneuten gesetzgeberischen Eingriff reagieren. Dass sich Gesetze dieser Tage im Schweinsgalopp durchdrücken lassen, hat die Koalition ja wiederholt bewiesen. Aber der politische Wille fehlt. Vielmehr hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) bereits klargestellt, die Empfehlung der Kommission per Verordnung umzusetzen. Täte er es nicht, gäbe es gar keine Erhöhung, behauptete er, was „angesichts der Inflationsentwicklung nicht verantwortbar“ sei.

Freut Euch gefälligst!

Also sollen sich die Leidtragenden über den nominellen Zuschlag, der laut Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) einen „enormen Reallohnverlust“ bedeutet, gefälligst freuen. Auf dem Papier beläuft sich die Steigerung für 2024 auf „magere 3,4 Prozent, im zweiten Jahr sind es sogar nur 3,3 Prozent“, teilte der DGB mit. Derweil sinkt die Inflationsrate nur mäßig und beträgt aktuell immer noch über sechs Prozent. Übers ganze Jahr 2023 rechnen Experten mit einer Rate von 5,8 Prozent, und was das nächste Jahr bringt, steht in den Sternen. Dabei belastet die Teuerung über die Maßen Haushalte mit geringem Einkommen, weil ein Großteil ihres Geldes in die Finanzierung von Energie und Lebensmitteln fließt. Nach einer Auswertung der Hans-Böckler-Stiftung betrug für sie die Inflationsrate im Mai 6,9 Prozent, gegenüber 6,1 Prozent in der Gesamtsicht. Es sei beschämend, „dass die Arbeitgeber in dieser Situation mit den höchsten Teuerungsraten gerade bei den finanziell Schwächsten des Arbeitsmarktes sparen wollen“, monierte DGB-Vorstand Stefan Körzell.

Er selbst sitzt als einer von drei Beschäftigtenvertretern am Kommissionstisch und hatte für einen Wert von „zumindest 13,50 Euro“ gefochten. Der Sozialverband Deutschland (SoVD) plädierte schon im Frühjahr für einen Satz von 14,13 Euro, während die Partei Die Linke 14 Euro forderte. Dass daraus nichts wurde, ist einem einmaligen Vorgang geschuldet. Erstmals hat das Gremium nicht einvernehmlich entschieden, sondern mit der Mehrheit aus Arbeitgeberdelegation (drei Sitze) und der Kommissionsvorsitzenden Christiane Schönefeld von der Bundesagentur für Arbeit (BA). Wie das Handelsblatt schrieb, hätten die Gewerkschaften einen Kompromissvorschlag von 12,94 ab 2025 zurückgewiesen und sich „verzockt“. Für einen entgangenen Obolus von zweimal sechs Cent dem DGB den schwarzen Peter zuschieben zu wollen, zeugt von einiger Verschlagenheit. Körzell hingegen sagte: „Für eine Anpassung lediglich im Centbereich konnten wir auf keinen Fall unsere Hand reichen.“ Erhellend auch: Die Arbeitgeberseite hat nicht etwa die geltenden zwölf Euro, sondern die bis 30. September 2022 gezahlten 10,45 Euro zur Verhandlungsbasis gemacht, was der DGB-Mann „vollkommen aberwitzig“ nannte.

Armutsrepublik Deutschland

Was folgt aus dem Beschluss? Die Armut in Deutschland erreicht in jedem Jahr neue Rekorde. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes galten im Vorjahr 14,7 Prozent der Bevölkerung als „armutsgefährdet“, waren also faktisch arm. Fast 21 Prozent waren „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht“. In der Hauptstadt Berlin trifft dies bereits auf etwa jedes vierte Kind zu. Wachsende soziale Ungleichheit und die zunehmende Spaltung in Arm und Reich erachten inzwischen sogar wirtschaftsliberale Ökonomen als gravierende Probleme mit erheblicher gesellschaftlicher Sprengkraft. Während dieser Tage in vielen Branchen recht beachtliche Tarifsteigerungen durchgesetzt werden, die die Verluste durch die Inflation wenigstens annähernd kompensieren, wird das Heer der Niedriglöhner mit ihren Familien und Kindern noch weiter abgehängt und ihre Lage noch prekärer.

Von ihrem Sprung auf zwölf Euro konnten und können sie sich buchstäblich nichts kaufen, geschweige denn eine auskömmliche Altersversorgung aufbauen. Mit 41 Cent mehr pro Stunde ab nächstem Januar wird ihre Situation nicht besser, das Tempo ihres Kaufkraftverlustes wird sich allenfalls verlangsamen. Dabei täte der deutschen Wirtschaft eine stärkere Nachfrage gut, und gerade jene, die wenig zum Leben haben, geben das Wenige auch aus, statt es auf die hohe Kante zu legen. Die Erfahrung lehrt, dass höhere Löhne immer auch als Konjunkturmotor wirken und eben nicht als Jobkiller. Folglich hat sich auch das Schreckgespenst von massenhaft wegfallenden Arbeitsplätzen, das die Wirtschaftsverbände bei der Einführung des Mindestlohns vor über acht Jahren an die Wand gemalt hatten, rückblickend als Panikmache erwiesen. Von einer dadurch ausgelösten Entlassungswelle war weit und breit keine Spur. Im Gegenteil: Der Anteil der Niedriglohnempfänger, die weniger als 12,50 Euro verdienen, ist zwischen 2018 und 2022 sogar zurückgegangen, von 21 auf 19 Prozent. Das könnte auf einen Zusammenhang zwischen besseren Löhnen und besseren Aufstiegschancen hinweisen.

Respekt?

„Gute Löhne sind ein Ausdruck von Respekt“, hatte Olaf Scholz im Herbst aus Anlass des auf zwölf Euro erhöhten Mindestlohns verkündet. Wie ernst ist ihm das wirklich? Die Vizevorsitzende der Bundestagsfraktion Die Linke, Susanne Ferschl, hat am Montag auf das Unterlassen der Bundesregierung hingewiesen, eine Vorgabe der Europäischen Union zum Gesetz zu machen. Demnach müssten eigentlich 60 Prozent des mittleren Einkommens eines EU-Mitgliedsstaates die Untergrenze des jeweiligen Mindestlohns markieren. Das entspreche wenigstens 13,50 Euro, erläuterte Ferschl in einer Medienmitteilung. Bei dieser Bemessungsgrundlage wäre freilich die Zahl der Geringverdiener in Deutschland sehr viel größer und läge bei 11,2 Millionen oder 27 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse. Wer will denn so was? Die Ampel jedenfalls nicht und schaltet lieber auf Rot. Respekt für so viel Schamlosigkeit.

Titelbild: Nicoleta Ionescu/shutterstock.com


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