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Titel: „Faktenschlacht“ gegen Hersh – spielen wir doch mal Gericht

Datum: 29. Juni 2017 um 11:08 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Seymour Hershs großer Artikel zum vermeintlichen Giftgasangriff in Syrien hat nicht nur bei Lesern der NachDenkSeiten großes Interesse hervorgerufen. Auch die umstrittenen „Faktenfinder“ der Tagesschau haben sich des Themas angenommen und riefen auch gleich die „Faktenschlacht um Chan Scheichun“ aus – eine selten dumme Formulierung, da weder Hersh noch seine Kritiker über Fakten verfügen. Es geht vielmehr um Inidzien, deren Bewertung und vor allem um subjektive Einschätzungen. Wenig überraschend ist auch, dass die Tagesschau unter dem Deckmantel der Objektivität wieder einmal sehr subjektiv die Position der westlichen Regierungen übernimmt. Wie wenig dies mit vorbildlichem Journalismus zu tun hat, zeigt ein Gedankenspiel: Tun wir doch mal so, als handele es sich hier um ein Gerichtsverfahren. Sie werden staunen. Im Anhang finden Sie auch noch einige interessante Leserzuschriften zum Thema. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  1. Beweisstück – der OPCW-Bericht

    Die Faktenfinder der Tagesschau haben sich bei ihrer „Faktenschlacht“ vor allem auf die Untersuchungen der OPCW als vermeintlichen „Beweis“ für einen Giftgasanschlag und damit als Widerlegung des Hersh-Artikels gestützt. Die jüngste Version dieses Berichtes behauptet zwar in der Tat, in Gewebeproben von Opfern und weiteren Proben vor Ort Substanzen gefunden zu haben, die auf einen Sarin-Einsatz deuten. Das Problem an diesem Beweisstück ist jedoch, dass nie ein anerkanntes Untersuchungsteam vor Ort war. Wer genau die Proben inmitten der von Islamisten besetzten Stadt genommen hat, ist unbekannt. Dass es eine Kriegspartei war, ist zumindest sehr wahrscheinlich. Ausgewertet wurden die Proben zwar von einem OPCW-akkreditierten Labor. Dieses Labor untersteht jedoch dem türkischen Gesundheitsministerium und die Türkei ist selbst eine Kriegspartei. Würde irgendein ordentliches Gericht ein solches Beweisstück akzeptieren? Wohl kaum. Wir haben es hier nicht mit einem starken Beweis, sondern mit einem schwachen Indiz zu tun.

  2. Motiv

    Bei einem Strafgerichtsverfahren spielt auch die Frage eine zentrale Rolle, ob der Tatverdächtige überhaupt ein Motiv hatte. Die Faktenfinder der Tagesschau ignorieren diesen Punkt vollkommen. Das ist kein Wunder, passen sämtliche Gedanken zu diesem Punkt doch einfach nicht ins Bild der „offiziellen Version“. Im Gegenteil. Die Frage des Motivs ist vielmehr ein sehr starkes Entlastungsargument. Die syrische Regierung hätte nun einmal weder diplomatisch, noch politisch, noch militärisch, noch strategisch oder taktisch einen Vorteil durch einen Giftgasangriff in der Region Idlib.

    Auf der anderen Seite hätten die Islamisten gleich eine Handvoll guter Motive, der Regierung einen Giftgasangriff in die Schuhe zu schieben. Damit hätte man nämlich einen Keil zwischen Assad und seinen großen Verbündeten Russland getrieben und gleichzeitig die USA wieder „auf Kurs“ gebracht. Kurz vor dem vermeintlichen Giftgasanschlag hatte Präsident Trump noch verkündet, es könne auch eine Lösung „mit Assad“ geben, die Syrer müssten über ihre Zukunft selbst entscheiden. Das hatte vor allem in der EU zu massivem Widerspruch geführt. Wenige Tage nach dem Vorfall in Chan Scheichun vollzogen die USA eine 180°-Wende. Nun hieß es, es „könne keine Lösung mit Assad“ geben. Für die Islamisten war diese Wende natürlich der Hauptgewinn. Die Motivfrage ist somit ein sehr starkes Entlastungsargument.

  3. „Gutachter“

    Schon beinahe peinlich ist die Auswahl der angeblichen Experten, die das Faktenfinder-Team aus dem Hut zaubert, um Seymour Hersh zu diskreditieren. An erster Stelle nennt man hier „Eliot Higgins“, den man als „Investigativ-Journalisten“ vorstellt und damit auf eine Stufe mit Hersh hebt. Das ist jedoch absurd. Higgins ist ein Blogger, der sein „Wissen“ unter anderem aus Rambo-Filmen hat. Higgins „investigative Recherche“ beschränkt sich vor allem auf das Sichten von YouTube-Videos und Facebook- und Twitter-Einträgen … mit anderen Worten, er ist eher ein Durchlauferhitzer für PR als ein Journalist, der sich auf vertrauenswürdige Quellen stützt. Higgins ist kein Hersh, sondern ein Anti-Hersh. Sein Geld verdient Higgins übrigens vor allem als „Senior Fellow“ der transatlantischen Lobbyorganisation „Atlantic Council“. Als neutraler Gutachter kann er somit ganz sicher nicht gelten.

    Nicht weniger skurril ist der zweite „Experte“ der Faktenfinder: James Kirchick, der vom Faktenfinder-Team neutral als Journalist, der unter anderem für die Washington Post geschrieben hat, vorgestellt wird. Kirchick ist jedoch auch „Fellow“ bei der Lobbygruppe „Foreign Policy Initiative“, die von altbekannten NeoCons wie Robert Kagan und William Kristol geleitet wird, die als „Vordenker“ der US-Kriege der Bush-Ära in die Geschichte eingingen. Progressive US-Medien wie Salon bezeichnen Kirchick daher auch als „Falken“ und „Neokonservativen“. Dass Kirchick vor allem ein „Russenfresser“ ist, ist ebenfalls bekannt. Auch Kirchick taugt nicht einmal im Ansatz als neutraler Experte. Er und Higgins sind Partei und es ist schon beinahe tragisch, dass die Faktenfinder sich ebenfalls als Partei inszenieren, wo sie dem Publikum doch Neutralität und Objektivität vorgaukeln.

Im Zweifel für den Angeklagten

Wie Sie sicherlich bereits selbst erkannt haben, würde ein derartiges Gerichtsverfahren schnell eingestellt. Es gibt keine Beweise, sondern nur schwache Indizien. Es gibt kein Motiv, sondern die Motivfrage entlastete de facto sogar den Angeklagten. Hinzu kommt, dass die „Gutachter“ alles andere als neutral sind und selbst einer Konfliktpartei angehören.

Es wäre Aufgabe der Faktenfinder, diese Zweifel deutlich darzustellen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Wäre der Faktenfinder-Artikel ein „Gutachten“, dann wäre es ein sehr parteiisches Gutachten der Anklageseite. Vor Gericht ist so was natürlich erlaubt, jedoch würde niemand ernsthaft den Anspruch erheben, dass so etwas „neutral“ oder gar „objektiv“ sein könne.

Vorfälle wie der vermeintliche Giftgasangriff von Chan Scheichun entziehen sich nun einmal einer faktischen Bewertung. Ein Fakt ist ein nachweisbarer, wahrer oder anerkannter Sachverhalt. Solche Sachverhalte gibt es hier jedoch bei sorgfältiger Prüfung nicht. Wie soll man eine „Faktenschlacht“ ausfechten, wenn es gar keine erkennbaren Fakten gibt? Da sind dann auch die Faktenfinder überfordert. Und wieder einmal stellt sich die Frage, warum der NDR überhaupt ein derartiges Format bedient? Dass die „Faktenfinder“ dem Image der Tagesschau schweren Schaden zufügen, dürfte mittlerweile noch nicht einmal ein Kai Gniffke ernsthaft bestreiten.

Anhang: Leserzuschriften zum Artikel „Seymour Hersh zu Assads angeblichem Giftgasangriff und Trumps angeblichem Vergeltungsschlag“


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