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Titel: Wir brauchen endlich große sozialpolitische Würfe in Deutschland

Datum: 18. Oktober 2017 um 11:49 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wahlen
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Die Sondierungsgespräche von CDU/CSU, FDP und Grünen werden, je nach Perspektive und Interessenlage der Beobachter, mit sehr unterschiedlichen Hoffnungen und Befürchtungen betrachtet werden. Umweltaktivisten werden eine deutlich andere Sichtweise einnehmen als Automobilhersteller oder Energiekonzerne, Marktliberale eine andere als Soziallobbyisten und Wohlfahrtspfleger, denen es im Wesentlichen um die Bekämpfung von Armut und den Zusammenhalt dieser Gesellschaft geht. Für sie ist auch nach den Wahlen noch völlig klar: Ohne Projekte wie eine bedarfsdeckende Kindergrundsicherung oder eine armutsverhindernde Rentenreform, wie die Schaffung preiswerten Wohnraums oder einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor für Langzeitarbeitslose, den Ausbau sozialer Infrastruktur in den Kommunen und der zu all dem notwendigen stärkeren Besteuerung sehr hoher Einkommen und großer Vermögen lässt sich Armut nicht wirklich bekämpfen. Von Ulrich Schneider[*].

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es wird ohne solch durchgreifenden Projekte auch nicht gelingen, den Menschen das Gefühl sozialer Sicherheit zurückzugeben, das Gefühl, dass man sich um sie kümmert. Stattdessen wird die zerstörerische Ungleichheit der Lebensbedingungen in Deutschland weiter zunehmen. Die Menschen in Deutschland würden sozial und politisch immer weiter noch auseinanderdriften. Sicher sind Phänomene wie Pegida und AfD nicht monokausal allein durch den armutspolitischen und sozialstaatlichen Rückzug seit der Jahrtausendwende zu erklären. Doch wird kaum jemand ernsthaft leugnen wollen, dass ein robusterer Sozialstaat und ein sozialerer Arbeitsmarkt, als wir ihn heute noch haben, es Demagogen am rechten Rand erheblich schwerer gemacht hätten, auf der Flüchtlingsproblematik ihre braune Suppe zum Kochen zu bringen.

Nun fällt vielleicht ausgerechnet dem kleinsten der möglichen Koalitionspartner nolens volens eine Schlüsselrolle in den anstehenden Sondierungsgesprächen zu, geht es um den künftigen Zusammenhalt dieser Gesellschaft. In den Wahlprogrammen von Union und FDP finden sich nun einmal keine Kindergrundsicherung, armutsfeste Renten, geschweige denn bessere Hartz-IV-Leistungen oder gar eine stärkere Besteuerung Reicher, um all das möglich zu machen. Von den möglichen Jamaika-Koalitionären sind ganz allein die Grünen mit solchen ebenso anspruchsvollen wie notwendigen Vorhaben in den Wahlkampf gezogen. Die Union sieht dagegen vor 2030 ausdrücklich keinen Bedarf, am Rentensystem etwas zu ändern, die FDP setzt in alter Manier auf die vermeintlich heilenden Kräfte des Marktes und will sogar die Mietpreisbremse wieder abschaffen, die die Grünen endlich zum Funktionieren bringen wollen. Und beide, Union und FDP, versprechen Steuerentlastungen für mittlere bis höchste Einkommen und sprechen sich gegen jegliche Steuererhöhung aus. Wie da etwas zusammengehen soll, beantwortet sich in der Tat alles andere als von selbst.

So ist es nur normal, dass Sozialverbände, Gewerkschaften, Verbraucherschützer oder Mietervereinigungen nun ganz besonders aufmerksam verfolgen, wie sich die Grünen in den Sondierungsgesprächen verhalten werden, welche Priorität Soziales neben Ökologie und Umweltfragen haben wird, wie stark sich die Sondierer am Ende machen werden für ihre grünen Vorstellungen von einer gerechteren, sozialeren und mehr inklusiven Gesellschaft, für ihre sozialpolitischen Projekte, mit denen sie im Wahlkampf geworben haben, und für einen entschlossenen Kampf gegen die Armut, den sie sich auf die Fahnen geschrieben haben, insbesondere gegen die Kinderarmut.

Die grünen Sondierer sind in einer denkbar schwierigen Situation, weit schwieriger als die der SPD 2013, als diese sich anschickte, mit der Union einen Koalitionsvertrag auszuhandeln. Es gelang ihr damals, eine ganze Reihe sozialdemokratischer Projekte und Themen in diesem Vertrag unterzubringen und in den folgenden Jahren sogar zu realisieren, was denn auch als ganz große Erfolge verkauft wurde: Mindestlohn, Rente mit 63, Kita-Ausbau, BAFöG-Reform, sozialer Wohnungsbau, Programme für Langzeitarbeitslose oder ein Teilhabegesetz für Menschen mit Behinderung. Das Problem jedoch: Da der Vertrag zugleich jegliche Steuererhöhungen ausschloss, waren die meisten Projekte eklatant unterfinanziert.

Die BAFöG-Reform schaffte es nicht einmal, die Preissteigerung auszugleichen, mit den Programmen für Langzeitarbeitslose wurden gerade mal drei Prozent der 1 Million Betroffenen erreicht, die Mittel für Kita-Ausbau und sozialen Wohnungsbau glichen dem berühmten Tropfen auf dem heißen Stein. Während der Beratungen für das Teilhabegesetz Behinderter ketteten diese sich aus Protest an das Berliner Spreeufer. Die Mietpreisbremse verfehlte genauso ihre erhoffte Wirkung wie der Mindestlohn, der zwar zweifelsfrei eine sozialpolitische Errungenschaft darstellt, nur, anders als erhofft, kaum Menschen aus der Armut herausführte. Es waren die berühmten politischen Kompromisse, die dazu führten, dass viele sozialdemokratische Projekte am Ende als halbherzig rüberkamen und ja auch in der Tat wirkungsschwach blieben. Stattdessen stiegen die Armut und die Kinderarmut weiter, wuchsen die Miet- und Wohnungsprobleme weiter und bangten sehr viele Menschen weiterhin um ihr Auskommen im Alter. Im Grunde bekamen die Wähler mit all diesen sozialdemokratischen Projekten vor Augen geführt, was eigentlich politisch alles zu leisten wäre in Deutschland, aber halt gar nicht oder nur sehr inkonsequent angepackt wird.

Die SPD wurde nicht müde, dieses Dilemma den Zwängen der Koalition und letztlich dem Koalitionspartner anlasten zu wollen. Nur verfing das beim Wähler ganz offensichtlich nicht. Sie zeigten sich keinesfalls dankbar gegenüber der so rührigen und zugleich kompromissbereiten SPD, sondern straften sie mit einer krachenden Wahlpleite bitter ab: das schlechteste Bundestagswahlergebnis seit den frühen Tagen der Bundesrepublik. Es dauert manches Mal lang, bis wir schließlich feststellen müssen, dass so manche Kompromisse, auf die wir so stolz sind, in Wirklichkeit doch Niederlagen waren.

Wir brauchen endlich große sozialpolitische Würfe in Deutschland. Wir kommen nicht um sie herum, soll Deutschland sich auf Dauer nicht selbst zerlegen. Wir brauchen eine Rentenpolitik, die die Menschen wieder an eine auskömmliche Rente glauben lässt, einen Familienlastenausgleich und ein Bildungssystem, das endlich die skandalöse Kinderarmut in Deutschland bekämpft. Wir brauchen einen Arbeitsmarkt, in dem der Mensch wieder zählt und sein Bedürfnis nach einem auskömmlichen Einkommen, Sicherheit und Planbarkeit, und wir brauchen eine Steuerpolitik, die den Menschen wieder das Gefühl gibt, es geht wenigstens halbwegs gerecht zu in diesem Lande.

Sollte eine Jamaika-Koalition das nicht hinbekommen, wären die parteipolitischen Verlierer eines solchen konservativ-ököliberalen Bündnisses am Ende vermutlich vor allem die Grünen. Ihre Anhänger, vor allem die links-bewegten, dürften am meisten enttäuscht sein. Die echten Verlierer wären jedoch die Menschen, die in den nächsten vier Jahren so dringend und endlich eine gute und mutige Sozialpolitik bräuchten.


[«*] Ulrich Schneider ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin.


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