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Titel: Sozialstaat auf Abruf: Die neue Grundsicherung ist ein Rückschritt mit System
Datum: 28. Mai 2025 um 11:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Die geplante Reform des Bürgergelds, wie sie im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD skizziert ist, markiert keine sozialpolitische „Weiterentwicklung“, wie es die Regierungssprache nahelegt – sondern eine technokratisch verbrämte Rückabwicklung solidarischer und ethischer Prinzipien. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – das ist eine strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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1. Ein Systemwechsel im Schatten Orwell’scher Neusprech-Rhetorik
Hinter Begriffen wie „Lebensleistung“, „Vermittlungsvorrang“ und „Fördern und Fordern“ verbirgt sich ein Sanktionsapparat, der an die autoritären Grundzüge der Agenda 2010 anschließt und zugleich auf eine repressive Absicherung der Lohnarbeitsgesellschaft zielt.
Mit der Umbenennung des Bürgergelds in „neue Grundsicherung für Arbeitssuchende“ wird nicht nur ein symbolpolitischer Reset versucht. Es ist eine semantische Operation mit politischer Stoßrichtung: Der Rückgriff auf das Modell der Arbeitsverpflichtung als zentrales Strukturprinzip sozialer Sicherung. Der Staat soll nicht mehr in erster Linie schützen – sondern selektieren, konditionieren und sanktionieren.
2. Was geplant ist: Die Neuauflage der sozialen Repression
Die zentralen Eckpunkte dieser Reform offenbaren ein klares Machtverhältnis vom Herrn zum Knecht:
Das Bundesverfassungsgericht hatte 2019 unmissverständlich geurteilt, dass Sanktionen im SGB-II-System nicht zu einer vollständigen Entziehung existenzsichernder Leistungen führen dürfen, weil sie das Gebot der Menschenwürde verletzen. Ein vollständiger Leistungsentzug widerspricht damit dem sozialstaatlichen Minimalprinzip und der aus Artikel 1 in Verbindung mit Artikel 20 GG abgeleiteten Pflicht des Staates, ein soziokulturelles Existenzminimum sicherzustellen.
Indem die Koalition dennoch einen solchen Mechanismus einführt, verschiebt sie das Verhältnis von „Fördern und Fordern“ in Richtung einer Disziplinierungspolitik, in der Grundrechte konditional werden. Der Entzug materieller Existenzgrundlagen wird als regulärer Hebel zur Durchsetzung arbeitsmarktpolitischer Zielvorgaben begriffen – ohne Rücksicht auf individuelle Zumutbarkeit, strukturelle Hindernisse oder psychosoziale Belastungen. Dies ist verfassungsrechtlich fragwürdig und normativ hoch bedenklich.
Was als Rationalisierung des Leistungsrechts verkauft wird, führt in Wahrheit zu einer selektiven Finanzialisierung sozialer Absicherung: Wer mehr „verwertbares“ Kapital aus seinem bisherigen Leben mitbringt, darf länger behalten. Wer nichts hat, muss sofort alles offenlegen. Das untergräbt Vertrauen und schwächt Teilhabe – die Langzeitwirkung ist eine stille Erosion sozialer Kohärenz.
Mit der geplanten Rückkehr zur alten Anpassungsformel wird die Entwicklung der Regelsätze künftig wieder von der realen Inflationsdynamik entkoppelt. Die Maßnahme erfolgt in einem Moment anhaltender Teuerung und trifft ausgerechnet jene Haushalte, deren Konsum fast ausschließlich dem existenziellen Bedarf dient. Statt auf einen nachvollziehbaren Inflationsausgleich zu setzen, wird ein statisches Berechnungsverfahren reaktiviert, das strukturell hinter der tatsächlichen Preisentwicklung zurückbleibt. Die Folge ist ein schleichender Verlust an Kaufkraft für die untersten Einkommensgruppen – und damit ein „Konsumverzicht aus Zwang“.
Ökonomisch ist die Maßnahme kurzsichtig. Denn Mikroausgaben dieser Gruppen entfalten makroökonomische Wirkung: Sie fließen direkt in den Binnenkonsum, wirken stabilisierend in Krisenzeiten und tragen zur Nachfrage in preissensiblen Sektoren bei. Ihre Beschneidung schwächt somit nicht nur die individuelle Teilhabe, sondern auch die konjunkturelle Resilienz. Während der Staat Milliarden in konjunkturelle Stimuli und Subventionen für Unternehmen investiert, wird ausgerechnet bei jenen gekürzt, die jeden Euro unmittelbar ausgeben müssen.
Der beschlossene Mechanismus der Regelsatzanpassung mutiert damit zur fiskalpolitischen Stellschraube – zulasten der Ärmsten. Es ist ein indexpolitischer Blindflug, der soziale Härte verstetigt und wirtschaftspolitisch kontraproduktiv ist. Gerade in einer fragilen Gesamtwirtschaft ist diese Maßnahme ein Risiko: für den sozialen Frieden wie für die Konsumdynamik.
3. Wer die Zeche zahlt: Die Schwächsten – und das bewusst
Die Reform trifft nicht „die Arbeitslosen“ im Allgemeinen. Sie trifft besonders verletzliche Gruppen mit systematisch eingeschränkten Ressourcen:
Die Folgen sind gravierend: Stigmatisierung, soziale Isolation, psychische Belastung und der Rückzug aus öffentlichen Räumen. Sozialpolitik wird zur Disziplinierungspolitik – mit dramatischen Implikationen für das Menschenbild in der Demokratie.
4. Bürgergeld als Systemandrohung: Ein Damoklesschwert für Beschäftigte
Die geplanten Reformen haben eine strukturelle Nebenwirkung: Sie stärken das Bürgergeld nicht als soziale Absicherung – sondern als staatliche Drohkulisse. Bereits heute dient die Grundsicherung als stilles Druckmittel, um Erwerbstätige im Niedriglohnsektor gefügig zu halten. Die Angst vor Abstieg und Jobverlust wirkt disziplinierend. Wer „aufstockt“, steht unter doppeltem Druck – ökonomisch und moralisch.
In dieser Logik wird nicht etwa der Arbeitsmarkt reformiert, sondern die Erwartung an den Einzelnen gesteigert, jede noch so schlechte Beschäftigung zu akzeptieren. Diese strukturelle Erpressbarkeit ist kein Kollateralschaden – sie ist menschenverachtendes Kalkül.
5. Psychosoziale Folgen: Der Rückbau des Existenzrechts
Wer Armut administriert statt sie zu bekämpfen, produziert seelische Verwundung. Die Forschung der letzten 25 Jahre belegt eindeutig: Armut ist ein Stressfaktor mit chronischer Wirkung – sie erhöht das Risiko für Depressionen, Angststörungen und soziale Isolation. Die geplanten Leistungskürzungen und das Sanktionsregime werden diesen Druck verschärfen – und vor allem bei Kindern, Jugendlichen und Alleinstehenden zu langfristigen psychischen Schäden führen.
Die „erlernte Hilflosigkeit“, wie sie psychologische Studien beschreiben, ist kein individuelles Versagen – sie ist das Resultat struktureller Aussichtslosigkeit. Der Staat entzieht den Menschen nicht nur Geld – er entzieht ihnen Handlungsspielraum, Würde und Zugehörigkeit.
6. Rhetorik der Täuschung: Von Lebensleistung und Eigenverantwortung
Die Regierung spricht von „Leistungsgerechtigkeit“. Gemeint ist: Wer nicht leisten kann oder darf, erhält auch keine Solidarität mehr. Die Rede von „Lebensleistung“ bedeutet faktisch: Wer in den falschen Jahrzehnten krank war, Kinder erzogen oder keine durchgehende Erwerbsbiografie hat, wird bestraft.
Es ist eine subtile Form der sozialen Selektion. Unter dem Vorwand „Eigenverantwortung“ zieht sich die Gesellschaft aus der Verantwortung zurück. Sozialstaat wird zur Rückversicherung der Starken.
7. Die SPD und das gespaltene Erbe
Dass diese Reformen mitgetragen werden von der SPD, ist nicht einfach ein politischer Widerspruch – es ist ein Verrat an ihrem historischen Anspruch. Lars Klingbeils Behauptung, die SPD wolle wieder „Arbeiterpartei“ sein, wirkt vor diesem Hintergrund wie Hohn. Wer Sozialabbau organisiert und zugleich das rhetorische Banner der Gerechtigkeit schwenkt, dem droht nicht nur der Verlust des Rückhalts – sondern seiner politischen Identität.
8. Politische Logik moralischer Verwahrlosung: Kalkulierte Verwundbarkeit als Regierungsprinzip
Was eine demokratisch legitimierte Regierung dazu bringt, eine Sozialpolitik zu betreiben, die psychisch belastet, existenziell bedroht und sich von der Idee der Menschenwürde abkoppelt, lässt sich nicht allein durch politische Pragmatik oder fiskalische Zwänge erklären. Vielmehr deutet vieles auf einen strukturell verankerten, moralisch indifferenten Zugriff auf soziale Verwundbarkeit hin – eine Verrechtlichung der Zumutung, die durch legislativen Zynismus kaschiert wird und systematisch entwürdigende Lebensverhältnisse schafft.
Diese Politik vollzieht sich mit offenkundigem Wissen um ihre sozialen Folgen. Sie verkennt nicht, sondern kalkuliert die Eskalation von Notlagen: die psychische Destabilisierung durch chronischen Existenzstress, die Isolation durch soziale Ausgrenzung, das erhöhte Erkrankungsrisiko in Armut. Das staatlich kodifizierte Fordern und Sanktionieren verkommen so zur Chiffre eines institutionellen Sadismus, in dem Sozialgesetzgebung nicht mehr schützt, sondern diszipliniert.
Psychologisch betrachtet liegt dem ein Verdrängungskomplex zugrunde, der Verantwortung externalisiert: Nicht politische Versäumnisse, sondern das Verhalten der Armen wird problematisiert. Ein Mechanismus projektiver Schuldabwehr – flankiert von entmenschlichenden Diskursen über „Leistungsunwillige“. In der politischen Kommunikation wird der Sozialstaat rhetorisch als Hilfeinstanz verteidigt, faktisch jedoch als Druckregime konzipiert. Die semantische Umetikettierung des Bürgergelds zur „neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“ ist hierfür exemplarisch.
Demokratietheoretisch ist dieses Vorgehen ein Indikator für eine politische Entkoppelung von Verantwortung. Die Regierung agiert nicht mehr im Modus der sozialen Repräsentation, sondern der selektiven Steuerung: Menschen werden zu adressierbaren Einheiten einer wirtschaftspolitischen Nutzenlogik. Die soziale Position der Menschen wird als individuelles Versagen gelesen. In dieser Logik gilt: Kalkulierte Verwundbarkeit ist kein politisches Versagen, sondern ein Steuerungsinstrument.
Gesetze, Verwaltungsakte und die Sprache offizieller Dokumente spiegeln diese Haltung wider – nicht als Exzess, sondern als System. Die menschenrechtliche Schwelle zur Würde wird nicht unterschritten, sondern administrativ nivelliert. Der Sozialstaat erscheint nicht mehr als Ausdruck gemeinsamer Solidarität, sondern als Instrument der sozialen Auslese durch formalisierte Verknappung.
Dies ist keine politische Randerscheinung, sondern eine breitflächig etablierte strukturelle und moralische Bankrotterklärung. Sie bricht mit dem demokratischen Versprechen gleicher Achtung – nicht aus ökonomischer Notwendigkeit, sondern aus einem ideologisch verformten Staatsverständnis, das die Bedürftigkeit des Einzelnen als störende Abweichung normativer Erwerbsbiografien behandelt. Der Sozialstaat wird nicht repariert, sondern fundamental umgeschrieben – als Dienstleister eines permanenten Mangels, der nicht behebt, sondern normiert. Damit steht nicht nur die Integrität sozialstaatlicher Institutionen infrage, sondern die demokratische Legitimität selbst.
9. Was gebraucht würde: Eine sozialstaatliche Kurskorrektur
Was also fehlt, ist nicht Disziplinierung, sondern Absicherung:
10. Fazit: Die neue Grundsicherung ist kein Fortschritt – sie ist die Refeudalisierung des Sozialen.
In einer Zeit multipler Krisen bräuchte es eine starke soziale Infrastruktur. Was stattdessen geliefert wird, ist ein Regelwerk der sozialen Härte. Das Bürgergeld wird zur Zumutung – nicht allein für die Betroffenen, sondern für das demokratische Selbstverständnis dieses Landes.
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