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Titel: Exklusivinterview „Ein höchst riskantes Spiel“ – General a. D. Kujat zu den Drohnenangriffen auf strategische Bomber Russlands
Datum: 2. Juni 2025 um 17:29 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Gestaltete PDF, Interviews, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
General a. D. Harald Kujat warnt vor den weitreichenden Folgen der Drohnenangriffe auf russische Bomber am Sonntag. Er bezeichnet die Attacke als „höchst riskantes Spiel“, das den Krieg ausweiten könnte. Kujat beleuchtet im Interview die militärische Bedeutung, mögliche westliche Beteiligung und die Eskalationsgefahr, die trotz laufender Verhandlungen weiter besteht. Das Interview mit Harald Kujat führte Éva Péli.
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Éva Péli: Herr General Kujat, wie schätzen Sie den Angriff der ukrainischen Drohnen auf die russische strategische Bomberflotte ein?
General a. D. Harald Kujat: Der ukrainische Angriff unterscheidet sich von den Drohnenangriffen der letzten Zeit. Es ist zweifellos ein gelungener „Coup“ der Ukraine. Trotz der offensichtlichen Erfolge hat dieser Angriff keine nennenswerten Auswirkungen auf die Lage an der Front oder die Verteidigung der Ukraine gegen russische Luftangriffe, auch wenn der Eindruck erweckt werden soll, dies sei der Fall. Tatsächlich spitzt sich die militärische Lage der Ukraine zunehmend zu.
Die Angriffe richteten sich gegen die interkontinental-strategische Bomberflotte Russlands. Es ist noch unklar, wie viele Flugzeuge zerstört wurden und um welche Typen es sich genau handelt. Zwar werden – abhängig von der Zahl der tatsächlich zerstörten Flugzeuge – die Möglichkeiten Russlands, Marschflugkörper gegen die Ukraine einzusetzen, etwas einschränkt, aber dieser Effekt hat keine strategischen Auswirkungen.
Warum macht die Ukraine das?
Dies ist nicht der erste Angriff auf die strategische Bomberflotte von Russland. Bereits zuvor gab es Angriffe auf die Basis in Engels bei Saratow. Zudem wurden zwei Angriffe auf das russische Frühwarnsystem verübt, was eine destabilisierende Wirkung auf das strategische Verhältnis der beiden Supermächte auslösen könnte.
Da diese Angriffe die militärische Lage in der Ukraine nicht beeinflussen, muss man sich fragen, was ihr eigentlicher Zweck ist. Ich kenne nicht die Ziele der ukrainischen Führung, aber es liegt nahe, dass man versucht, den Krieg auszuweiten, indem eine scharfe russische Reaktion provoziert wird, die ein Eingreifen des Westens zur Folge hat. Das wäre eine sehr gefährliche Entwicklung.
Bei der Bewertung dieser Angriffe wird oft übersehen, dass sich in unmittelbarer Nähe der Flugplätze der strategischen Bomberflotte auch Nuklearwaffenlager befinden. Obwohl diese stark geschützt sind, besteht immer das Risiko, dass eine Drohne fehlgeleitet wird und ein solches Lager trifft. Jeder kann sich ausrechnen, welche Folgen dies hätte. Insofern ist dies ein höchst riskantes Spiel, das hier betrieben wird.
Ein letzter, entscheidender Punkt: Dieser Angriff erfolgte in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur zweiten Verhandlungsrunde und steht offenbar im Zusammenhang mit den gleichzeitigen Anschlägen auf die russische Eisenbahn. Es könnte sich hierbei um eine koordinierte Aktion handeln. Die Frage stellt sich, warum dies einen Tag vor der zweiten Verhandlungsrunde geschah.
Die Erklärung liegt auf der Hand: Es wird immer wieder behauptet, Moskau würde lediglich eine Verzögerungstaktik anwenden und sei nicht an echten Verhandlungen interessiert. Dies, obwohl Russland selbst die Verhandlungen vorgeschlagen hat und beide Seiten ihre Positionen schriftlich niedergelegt haben, um sie als Grundlage für die heutigen Verhandlungen in Istanbul zu nutzen. Somit kann es eigentlich nur bedeuten, dass man möglicherweise damit gerechnet hat, die russische Seite würde als Reaktion auf diese Angriffe die Verhandlungen absagen.
Doch das ist nicht geschehen …
Nein, die Verhandlungen gehen weiter. Wir haben inzwischen sogar erfahren, dass vor Beginn dieser Gespräche der US-amerikanische und der russische Außenminister erneut miteinander telefoniert haben. Für mich ist das ein klares Indiz dafür, dass die USA diese Verhandlungen zumindest weiterhin begleiten und sich nicht vollständig zurückgezogen haben – was ich für sehr wichtig halte.
Wie ist aus Ihrer Sicht und aufgrund Ihrer militärischen Erfahrungen solch ein Angriff überhaupt möglich? Nach ukrainischen Angaben wurde er anderthalb Jahre lang geplant und dann, wie erzählt wird, mit Trucks von russischem Territorium aus durchgeführt.
Wenn in einem Land Fahrzeuge nicht flächendeckend kontrolliert werden und eine derartige Operation sorgfältig vorbereitet wird, dann kann so etwas passieren. Damit stellt sich jedoch die Frage: Ist es ein großer militärischer Erfolg? Nein, es handelt sich um Anschläge, nicht um eine militärische Aktion im eigentlichen Sinne. Solche Anschläge sind in jedem Land möglich.
Hinzu kommt, dass der New-START-Vertrag zwischen den USA und Russland dazu verpflichtet, strategische Bomber auf bestimmten Flugplätzen so zu positionieren, dass sie für die vereinbarten Inspektionen sichtbar sind. In der Praxis heißt das, in offenen Hangars oder auf dem Rollfeld, nicht verdeckt in geschlossenen Gebäuden. Diese Regelung dient der Überprüfbarkeit, ob der Vertrag eingehalten wird, und ist Teil der gegenseitigen Vertrauensbildung. Die Flugzeuge sind damit jedoch gut zu bekämpfende Ziele.
Nun gibt es Vermutungen oder auch Hinweise, dass westliche Dienste mit Hilfe von Satellitenbildern geholfen haben könnten. Die Briten haben sich schon dazu geäußert und auch den Ukrainern gratuliert. Wie schätzen Sie das ein? Gab es da westliche Hilfe?
Ich spekuliere grundsätzlich nicht. Eines ist jedoch klar: Wenn Daten für bewegliche Ziele praktisch zeitverzugslos bereitgestellt werden, können sie nicht von den Ukrainern stammen, sondern müssen von anderer Seite kommen. Handelt es sich aber um eine langfristig geplante Aktion, ist es durchaus möglich, die Position eines russischen Flugplatzes eigenständig zu ermitteln – selbst mit einfachen Mitteln. In diesem speziellen Fall halte ich eine solche externe Aufklärung deshalb nicht für erforderlich; die Ukrainer können dies selbst leisten. Aber natürlich ist es möglich, dass der Ukraine Lagepläne der Flugplätze aus westlicher Satellitenaufklärung zur Verfügung gestellt wurden.
Sie haben mit Blick auf die vorherigen Angriffe auf den Flugplatz bei Engels bereits 2022 und auf das russische Frühwarnradar 2024 vor möglichen Folgen bis hin zu einem Atomschlag gewarnt. Mit welchen russischen Reaktionen rechnen Sie als Militär auf den Angriff, den es jetzt gegeben hat? Präsident Putin soll gesagt haben, jetzt gebe es keine roten Linien mehr und Kiew werde das bereuen.
Zunächst einmal gab es keine sofortige Reaktion, und das ist eine positive Entwicklung: Die für heute angesetzten Verhandlungen finden tatsächlich statt, was man als positiv verbuchen sollte. Zweitens, wie immer in solchen Fällen: Wenn eine Seite mit einer bestimmten Maßnahme vorprescht, reagiert die andere. Wir vergessen oft Clausewitz’ Lehre, dass Krieg ein Akt der Gewalt ist. Jede Seite gibt der anderen das Gesetz vor, die andere folgt, und daraufhin erfolgt wiederum eine Reaktion – bis zum Äußersten. Das wird im modernen Sprachgebrauch als Eskalation bezeichnet. Wir können also sicher sein, dass Russland zurückschlagen wird.
Allerdings gehe ich davon aus, dass Russland wohl nicht in gleicher Weise reagieren wird. Stattdessen wird es wahrscheinlich die Kampfhandlungen auf dem Gefechtsfeld intensivieren und die Luftangriffe zur Schwächung der ukrainischen Verteidigung verstärken. Da die Lage der Ukraine ohnehin äußerst kritisch ist und wenn Russland zusätzliche Anstrengungen unternimmt, wird sich die militärische Lage erheblich zulasten der Ukraine verändern. Dies ist zwar eine naheliegende Annahme, doch wissen wir natürlich nicht, wie Russland tatsächlich reagieren wird.
Gibt es Anzeichen, dass die russische Strategie stets eine besonnene, aber klare anstatt einer hitzigen Reaktion vorsieht? Im Internet wurden ja sofort Forderungen nach einem Atomschlag gemäß der russischen Nukleardoktrin laut.
Was man festhalten muss und im Westen häufig unterschätzt wird, ist der große Unterschied zwischen den Eskalationsstrategien des Westens (insbesondere der USA) und Russlands. Der Westen eskaliert in kleinen Schritten: Man wartet ab, wie der Gegner reagiert – oder ob er überhaupt reagiert – und unternimmt dann den nächsten Schritt. So behält man die Kontrolle über die Eskalation. Die russische Toleranzschwelle ist hingegen wesentlich größer. Russland wartet ab, schlägt dann aber an einem bestimmten Punkt hart zurück. Das Problem dabei ist, dass bei einer solchen Eskalationsstrategie nur sehr schwer zu kalkulieren ist, wann und wie ein solcher Gegenschlag erfolgt. Dies macht die russische Reaktion so unvorhersehbar.
Letztlich hängt die russische Reaktion davon ab, welche strategischen Ziele Moskau verfolgt. Wenn das Ziel eine schnelle und totale Niederlage der Ukraine wäre, fiele die Reaktion anders aus, als wenn Russland weiterhin eine Verhandlungslösung des Krieges als primäre Option anstrebt. Bislang sehen wir Letzteres. Wir können nur hoffen und erwarten, dass dies so bleibt und keine Reaktion erfolgt, die jede Verhandlungsmöglichkeit zunichtemacht.
Eine allerletzte Frage, auch angesichts Ihrer vorherigen Warnung: Ist die Welt einem Atomkrieg jetzt wieder ein Stück näher gerückt?
Nein, das glaube ich nicht. Entscheidend ist immer, dass die beiden nuklearen Supermächte ihre Verbindung aufrechterhalten. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass Aktionen Dritter, wie in diesem Fall die der Ukraine, von beiden Nuklearmächten korrekt eingeordnet werden. Beide verfolgen weiterhin das übergeordnete Interesse, einen nuklearen Schlagabtausch zu verhindern. Das ist der entscheidende Punkt: Man darf sich nicht in eine ungewollte Eskalationsspirale hineinziehen lassen.
Wir können sehr deutlich erkennen, dass weder die Vereinigten Staaten noch Russland das geringste Interesse an einem Konflikt zwischen diesen beiden Großmächten haben. Genau deshalb ist es absolut essenziell, dass diese Verbindung – früher als „heißer Draht“ bekannt – zwischen den beiden Seiten aufrechterhalten wird.
Am Rande bemerkt: Der Endpunkt dieser bilateralen Verbindung in Russland nennt sich „Nuclear Risk Reduction Center“. Dies verdeutlicht das selbstgewählte Etikett für die deeskalierenden Maßnahmen zwischen diesen beiden Supermächten.
Herr General Kujat, ganz herzlichen Dank für das Interview.
Titelbild: Harald Kujat Ende April 2025 bei einer Veranstaltung im Berliner Sprechsaal mit Patrik Baab / Tilo Gräser
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