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Titel: Patrik Baab: „Nach einem neuen Krieg gegen Russland wird es Deutschland nicht mehr geben“
Datum: 23. Juni 2025 um 12:36 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Interviews, Medienkritik, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Der Journalist und Publizist Patrik Baab ist auf Veranstaltungen und in den Videos der deutschen Friedensbewegung ein gefragter Gesprächspartner. In Moskau präsentierte er kürzlich auf einer Veranstaltung in der Tscheglakow-Stiftung die russischsprachige Ausgabe seines Buches „Auf beiden Seiten der Front“. Das Buch handelt vom Krieg in der Ukraine. Mit Patrik Baab hat Ulrich Heyden gesprochen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Ulrich Heyden: Herr Baab, Sie sind jetzt schon ein paar Tage in Moskau. Was haben Sie hier erlebt, und was sind Ihre Ziele auf dieser Moskau-Reise?
Patrik Baab: Der Besuch ist rein privater Natur, denn ich finde, die Kontakte zu den Menschen in Russland müssen erhalten bleiben, gerade in einer Zeit, in der wir sprechen können von dem vollständigen Ruin der deutschen Diplomatie.
Man muss sich das vorstellen: Ein Land, von dem die furchtbarsten Kriege des vergangenen Jahrhunderts ausgegangen sind, mit vielen Millionen Toten, ist nicht in der Lage, im Ukraine-Konflikt eine einzige Friedens- und Vermittlungsinitiative zu starten. Für diese verkommene deutsche Politik kann man sich wirklich nur schämen. Und Sprüche wie „Russland wird immer unser Feind sein“ – Johann Wadephul – oder seine Vorgängerin – Frau Baerbock – „wir führen einen Krieg gegen Russland“, „die Sanktionen werden Russland ruinieren“, das ist der Bankrott der Diplomatie, vor allem, wenn man weiß, dass dies alles andere ist als ein unprovozierter Angriffskrieg.
Also, ich halte die Verbindungen zu den Menschen in Russland aufrecht, ich recherchiere auch weiter in Russland, und ich bin meinem Verlag hier in Russland, Gnosis, dankbar, dass er mein Buch „Auf beiden Seiten der Front“ übersetzt hat und dass es auf Russisch herausgekommen ist. Das Interesse der Medien hier und der Öffentlichkeit ist groß. Und das ist – in Deutschland muss man das ja immer dazusagen – ein Verlag, der völlig unabhängig von der russischen Regierung arbeitet.
Sie haben hier in Moskau „Auf beiden Seiten der Front“ [1] präsentiert. Nach der Veranstaltung wurden Sie von russischen Medien interviewt, von Rossija 1 und RT DE. Auch die Nachrichtenagentur Tass war da. Alle genannten Medien haben über die Präsentation berichtet. Ist das nicht eigentlich ein ganz gutes Ergebnis, dass die russischen Medien Sie hier als Deutschen interessant finden und vorstellen?
Ich freue mich darüber. Zumal sich die russische Öffentlichkeit mit meinem Buch schwertut, denn es folgt weder der westlichen, der NATO-Propaganda, noch folgt es der Propaganda des Kremls. Das Buch ist irgendwo dazwischen. Es ist für die Menschen in Russland schwer einzuordnen, weil sie natürlich daran gewöhnt sind, unter einer Propaganda-Glocke zu leben. Das Buch führt zur Verunsicherung, und deswegen hat es der Verlag natürlich nicht leicht.
Der Titel des Buches „Auf beiden Seiten der Front“ ist ja in Russland heute praktisch nicht präsent, denn wir hören in russischen Medien Reportagen von der russischen Kriegsfront. Wir hören aber eigentlich nichts über das Leben der Ukrainer. Von daher ist der Ansatz des alten, liberalen deutschen Journalismus, wo man in den 1980er-Jahren noch versucht hat, beide Seiten der Front darzustellen, heute hier in Russland kaum noch zu erklären. Die Russen interessieren sich zwar dafür, was in der Ukraine passiert, aber zu diesem Thema werden hier keine Informationen geliefert.
Ich nehme das so wahr, dass auch auf Kanälen wie Rossija 1 – einem staatlichen Kanal – zumindest die Positionen Deutschlands und der NATO-Länder korrekt dargestellt werden, auch wenn man sie nicht teilt. Aber tatsächlich verfolgt der Mainstream-Journalismus in Russland einen Ansatz, der in meinen Augen zwingend ist, nämlich beide Seiten zu hören. Vor allem muss man natürlich auch mit den Menschen sprechen. Das sieht man vor allem bei Militär-Bloggern oder Bloggern, die im Kriegsgebiet unterwegs sind. Die liefern wieder ein ganz anderes Meinungsbild.
Es gibt ja auch in Russland unterschiedlichen Journalismus. Es gibt einen Spielfilm und einen Dokumentarfilm, in dem die Realität des Kriegsalltags gezeigt wird [2]. Für den Dokumentarfilm hat der Kameramann die russischen Soldaten bei der Eroberung von Mariupol begleitet. Das ist wirklich guter Journalismus. Leider ist das in Deutschland kaum bekannt und wird im deutschen Fernsehen auch nicht erwähnt.
Das Problem für den Reporter ist, dass er im Kriegsgebiet konsekutiv – also nacheinander – arbeiten muss. Man kann nicht gleichzeitig auf beiden Seiten der Front sein, weil man dafür die Feuerlinie der Maschinengewehre durchkreuzen müsste, und das ist de facto unmöglich.
Sie waren ja auch in St. Petersburg. Dort haben Sie einen Freund, der Sie eingeladen hatte, eine Lesung zu machen. Wie lief das da ab in St. Petersburg?
Mit Alexander arbeite ich seit 25 Jahren zusammen. Er ist Kollege und wie ich jetzt im Ruhestand. Er ist ein ehemaliger Journalist. Aus Kollegen wurden Freunde, und er hat sich sehr dafür eingesetzt, eine Veranstaltung zu machen, eine Diskussionsrunde zu meinem Buch „Auf beiden Seiten der Front“, in St. Petersburg. Aber der Journalistenverband hat kalte Füße bekommen und fragte beim Kulturamt der Stadt St. Petersburg nach. Dort wollte man sich auch nicht entscheiden, denn ich bin ja ein Autor aus Deutschland. Das ist ja gefährlich. Und dann fragte man den Inlandsgeheimdienst FSB. Der FSB wollte sich aber in die Inhalte des Buches gar nicht einmischen. Er gab nur ein Urteil ab, ob eine Gefahr für einen Terroranschlag vorliegt. Der FSB hat das verneint.
Ein Terroranschlag gegen Sie möglicherweise?
Ja, gegen die Veranstaltung. Der FSB hat das verneint und gab das zurück an die Stadtverwaltung, aber die kalten Füße sind geblieben. Auch in Russland gibt es viel vorauseilenden Gehorsam und Furcht, dass man irgendwas falsch machen könnte und dass dann sozusagen Blitz und Donner aus dem Kreml da reinhauen.
Vor zwei Wochen haben Sie den alternativen Karlspreis in der Stadt Aachen bekommen. In einem Video über die Preisverleihung unter freiem Himmel hat mich etwas fasziniert. Ulrike Guérot trat auf, danach traten Sie auf. Währenddessen sah man im Hintergrund das Publikum. Es waren etwa 300 Menschen, die frenetisch Beifall klatschen, wie bei einem Rockkonzert. Was war das für ein Publikum?
Das war nicht choreographiert und nicht gestellt. Die Reden in Aachen hatten eine lange Vorgeschichte. Und es geht darauf zurück, dass ich einmal einen Film für den NDR gemacht habe, über den Tod von Jenny Böken auf der Gorch Fock. Das war eine Offiziersanwärterin, die unter ungeklärten Umständen an Bord des Segelschulschiffes ums Leben gekommen ist. Und so habe ich Kontakt zu der Familie bekommen.
Der Vater von Jenny Böken ist der Direktor eines Gymnasiums. Und der hat mich angerufen und gesagt: „Du recherchierst ordentlich. Das habe ich erkannt. Ich möchte, dass du mal dein Buch mit meinen Schülern diskutierst.“
Und so habe ich eine Einladung an ein Gymnasium in Geilenkirchen in der Nähe von Aachen bekommen. Doch dann erhob sich ein Proteststurm, natürlich von pro-ukrainischen Nichtregierungsorganisationen und von Nichtregierungsorganisationen, die der NATO nahestehen und von der EU bezahlt und organisiert wurden. Das hat zu einem Shitstorm geführt, an den sich die örtliche Presse – die Aachener Zeitung – drangehängt hat.
In Deutschland geht es ja darum, nicht offen zu diskutieren, sondern Veranstaltungen zu verhindern und am besten die Existenz des Autors zu beschädigen. Die Presse selbst und die Nichtregierungsorganisationen sind die schärfsten Kriegstreiber im Ukraine-Krieg. Und sie sind selbst die Vernichter der öffentlichen Meinung. Hier hat sich etwas völlig verkehrt.
Und dann wurde der Schuldirektor im Bildungsministerium Nordrhein-Westfalen einbestellt. Und dann gab es eines von diesen Sechs-Augen-Gesprächen, wo sich die Gegenseite immer gegenseitig in den Zeugenstand rufen kann. Aber der Direktor war schlau genug, seinen Anwalt mitzunehmen. Aber er musste die Veranstaltung absagen.
Und da waren die Kräfte des Friedens und der Demokratie im Raum Aachen so verärgert, dass ich am Ende drei Veranstaltungen bewältigen musste, bei denen jeweils 200 bis 250 Leute zu Gast waren. Die waren wütend, dass sich das Bildungsministerium anmaßt, eine offene Diskussion zu unterbinden. So wurden schließlich drei Veranstaltungen organisiert, darunter eine von der protestantischen und katholischen Kirche gemeinsam veranstaltete.
Wir haben eine Diskussion im Gemeindehaus gemacht, die wunderbar verlief. Da waren fast 300 Leute da, wenn ich mich richtig erinnere. Und das waren eben die Menschen, die dann zur Verleihung des [Alternativen] Karlspreises gekommen sind. Und sie haben mich natürlich begeistert empfangen, weil es eine Vorgeschichte gab.
Die Geschichte, die Sie gerade erzählt haben, macht Hoffnung.
Ja.
Aber wie betten Sie dieses Erlebnis ein in die Gesamtlage in Deutschland? Wir stehen ja vor dem Problem, dass die Kriegstreiber immer frecher auftreten. Unsere Stimmen kommen in den Medien nicht mehr vor. Wie kann es weitergehen?
Wir müssen nun mal feststellen, dass die Kriegspropaganda über die Ministerien, in die Kirchen hinein, über die Verbände in die einzelnen Fachbereiche hinein, über die Nichtregierungsorganisationen in die einzelnen gesellschaftlichen Gruppen hinein, über die Medien in die Öffentlichkeit hinein organisiert und orchestriert wird.
Das Beispiel Aachen zeigt, dass mutige Bürger dem etwas entgegenstellen können, wenn sie sich auf dem Absatz umdrehen und sagen ‚Freunde, bis hierher und nicht weiter‘. Jetzt wehren wir uns. So schaffen wir eine neue Öffentlichkeit, eine Gegenöffentlichkeit, die sich im Unterschied zu den Regierenden am Friedensgebot des Grundgesetzes orientiert.
Und ich kann die Menschen in ganz Deutschland nur ermutigen, auf die Straße zu gehen und ihren Protest gegen den Kriegskurs der Regierung in die Öffentlichkeit zu tragen.
Wir haben jetzt drei Jahre „Spezialoperation“, also russischen Krieg in der Ukraine. Und wir haben eine Entwicklung, die sich immer mehr steigert. Wenn Sie jetzt zurückblicken, was haben die friedensbewegten Menschen in Deutschland erreicht und was nicht?
Wir haben nichts erreicht. Wir haben deswegen nichts erreicht, weil es der Regierung und der NATO gelingt, die Gesellschaft zu spalten. Der Riss geht heute durch die Gruppe der Gleichaltrigen, durch die Familien, durch die Betriebsgruppen, die sozialen Einrichtungen. Dem müssen wir Einhalt gebieten. Wir brauchen wieder eine Kultur des Sich-Unterhakens. Denn eines ist doch völlig klar, Deutschland wird derzeit immer tiefer in diesen Krieg hineingezogen.
Ich kenne die Russen schon sehr lange. Ich arbeite in Russland schon seit 25 Jahren. In Russland schaut man den Dingen sehr lange zu, denn Russland ist ein Land mit einem großen Raum. Es ist das größte Land der Welt, und da gelten andere Dimensionen. In Russland zieht man sich eine ganze Weile immer nur zurück, und dann dreht man sich auf dem Absatz um und bekämpft den Gegner mit aller Macht. Und das kann Deutschland auch passieren.
Und es ist doch völlig klar: Wenn der Kriegskurs der Regierung so fortgesetzt wird, dann werden unsere Kinder in den kommenden Kriegen sterben. Die neuen Kriege gegen Russland werden ausgehen wie die alten Kriege, die wir mit Millionen Opfern verloren haben, mit einem Unterschied: Nach einem neuen Krieg gegen Russland wird es Deutschland nicht mehr geben.
Menschen, die für den Frieden sind, begnügen sich ja oft damit, einfach nur Videos zu „liken“ oder zu teilen. Doch eigentlich hoffen viele darauf, dass Politiker vom BSW oder der AfD oder Leute wie Sie, Herr Baab, den Karren aus dem Dreck ziehen. Das ist eine Haltung, die darauf hinausläuft: ‚Ich kann ja sowieso nichts machen, das müssen irgendwie stärkere Leute machen.´ Wie kann man diese Einstellung verändern?
Dazu sind zwei Schritte erforderlich: Der eine Schritt ist, aus der Nebelglocke der Propaganda herauszutreten und anzufangen, selbst zu denken. Und dazu gehört es, dass man eben nicht nur um 20 Uhr den Fernseher einschaltet oder die Regionalzeitungen liest. Sondern da muss man sich auch aus den neuen Medien informieren, aus ausländischen Medien, englisch-, französisch- und russischsprachigen Medien, um durch die Vielfalt der Positionen und der Perspektiven zu einem eigenständigen Urteil zu gelangen und nicht wie ein Schaf den Mainstream-Medien zu folgen. Denn die lassen die Hälfte weg. Die lassen vor allem die wahren Kriegsursachen weg. Sie lügen durch Weglassen.
Der zweite Schritt ist, wir müssen wieder lernen, von der eigenen Überlegung zu einer Handlungsoption zu gelangen. Wir müssen handlungsfähig werden, und das geht eben nicht als Einzelkämpfer, sondern das geht nur gemeinsam. Und hier lohnt es sich, sich in Friedensgruppen zusammenzuschließen. Und dann werden sie sehen: Die Mehrheit der Menschen in Deutschland sind für den Frieden. Und wir müssen auf die Straße gehen. Und wenn beispielsweise Sahra Wagenknecht aufruft zu einer Friedensdemonstration, dann erwarte ich schon von den Menschen, die am Friedensgebot des Grundgesetzes orientiert sind, dass sie eben zu dieser Demo hingehen.
Aber ich sage auch: Am Ende des Tages muss das herrschende Parteien-Kartell geschlossen abgewählt werden. Denn die Brandmauer gegen die AfD ist die Lebensversicherung des herrschenden Parteien-Kartells, das uns in den Krieg führt.
Ich erinnere mich an unser letztes Gespräch [3], das war im Oktober 2024 hier in Moskau. Da kamen Sie gerade aus dem Kriegsgebiet Donbass zurück. Ich hatte damals das Gefühl, dass Sie sich nun zu Hause in Berlin an den Schreibtisch setzen, um ein neues Buch zu schreiben. Stattdessen geben Sie nun fast wöchentlich YouTube-Interviews. Besteht nicht die Gefahr, dass Sie sich in diesen Interviews wiederholen? Brauchen Sie jetzt nicht mehr Ruhe, um auf neue Gedanken zu kommen?
Ja, ich brauche mehr Ruhe. Das Buch kommt voran, leider zu langsam. Aber es ist so, dass ich die meisten Interview-Anfragen absage. Es ist die Not, die mich zu diesen Diskussionen zwingt.
Vor allem versuche ich nun, Kontakt zu finden zu den friedliebenden Menschen im amerikanischen und englischsprachigen Raum und in Skandinavien. Das ist wichtig, denn heute unterliegen Menschen, die aus dem Kriegsgebiet berichten wie Alina Lipp und Thomas Röper, aber auch Intellektuelle wie Professor Ulrike Guérot in Deutschland im Grunde genommen einer subtilen politischen Verfolgung. Man muss jede Nacht mit einer Hausdurchsuchung rechnen. Oder man muss inzwischen – nachdem Alina Lipp und Thomas Röper mit Sanktionen überzogen wurden – damit rechnen, dass man auch mit Sanktionen überzogen wird. Konten werden beschlagnahmt. Man wird im Grunde genommen aus Deutschland rausgedrängt.
Führende Funktionäre der SPD haben ein Manifest für den Frieden verfasst. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Ich war viele Jahre Mitglied der SPD. 1999 bin ich ausgetreten, als der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der NATO gegen Serbien mit Unterstützung der Regierung Schröder durchgeführt wurde. Das war mir zu viel. Ich beobachte die Sozialdemokratie mit einer gewissen Leidenserfahrung.
Ich halte dieses Manifest für eine erforderliche und notwendige, aber nicht für eine zureichende Sache. Es ist einfach zu wenig. Es muss von den Kräften in der SPD, die zum Frieden zurückfinden wollen, mehr Aktivität kommen. Ein Manifest genügt nicht, ich erwarte hier Handlung. Denn die SPD ist Regierungspartei, und da gehört es sich, dass die Friedenskräfte in dieser Partei die Regierung unter Druck setzen. Und da habe ich bislang noch nicht viel gesehen.
Sogar der Vorsitzende der Jungsozialisten hat das Manifest kritisiert. Dabei waren die Jusos früher noch das linke Feigenblatt der SPD.
Die Jusos, das ist heute ein Club von Leuten, die Karriere machen und nicht arbeiten wollen. Sie sind bei den Jusos, weil sie hoffen, dass sie irgendwann einen Kofferträger-Job bekommen, statt sich dem Arbeitsleben zu stellen.
Da wird nicht viel kommen. Die SPD hat sich zu einer Kriegspartei formiert, und sie hat den Boden der Überlegungen von Willy Brandt vollständig verlassen. Willy Brandt hat gesagt: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Deshalb bin ich mal in die SPD eingetreten. Das gilt für mich heute noch.
Herr Baab, Sie sind nach dem Krieg geboren, aber Sie sind trotzdem vom Krieg gezeichnet. Das habe ich Ihren Veröffentlichungen entnommen. In einem Text schreiben Sie, dass Sie von Ihren Eltern, die durch den Zweiten Weltkrieg traumatisiert waren, sehr streng erzogen wurden. Einmal mussten Sie als Vierjähriger zur Strafe eine Nacht allein in einem Keller verbringen. Hängt Ihr Engagement als Journalist und Kriegsreporter damit zusammen, dass Sie etwas wiedergutmachen wollen?
Vielleicht kann man das so sagen. Die Familiengeschichte prägt einen Menschen. Mein Großvater väterlicherseits wurde im Ersten Weltkrieg schwer verwundet. Mein Vater bekam im Februar 1945 – er war der beste Schütze in der Hitler-Jugend und 15 Jahre alt – einen Einberufungsbescheid an die Ostfront. Sein Vater sagte: „Der Krieg ist verloren. Du gehst nicht mehr Verrecken. Versteck’ Dich im Wald.“ Das tat mein Vater, und so geriet er im Südwesten von Deutschland zwischen die Fronten der Amerikaner und der SS. Die SS zog nach Osten ab. Die amerikanischen Soldaten strömten in die Wälder und schossen auf jedes Eichhörnchen. Das waren ja junge Kerle mit ihren 19, 20 Jahren. Mein Vater war natürlich vollständig traumatisiert.
Der Vater meiner Mutter war Kommandant der Außenstelle des Konzentrationslagers Neue Bremm – Außenstelle Neunkirchen – im Saarland. Und natürlich prägt das. Das war durchaus eine Erziehung, die nicht demokratisch, sondern eher streng war und sich an den Vorstellungen der Hitler-Diktatur orientierte. Und wenn man solche Erfahrungen hat, dann ist es doch das Erste, zur Selbstständigkeit zu reifen und sich gegen die Eltern aufzulehnen, Handlungsfähigkeit aus freien Stücken zurückzugewinnen.
Wenn ich in Kriegsgebiete reingehe, dann hat das natürlich auch damit zu tun, dass ich die Traumata der Familie noch einmal durchlebe. Vielleicht ist es das.
Schafft Ihr Herangehen bei den Menschen eine gewisse Achtung oder eher eine Distanz?
Das ist völlig unterschiedlich. Natürlich kann man niemandem empfehlen, der noch bei Sinnen ist, in ein Kriegsgebiet reinzugehen. Aber das verschafft mir viel Respekt bei Menschen, die sagen, er versucht wenigstens, sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Und das ist das, was mein Freund Patrick Lawrence aus den Vereinigten Staaten sagt: „Was wir leisten können als Reporter, das ist Sehen und Sagen. Wir müssen genau hinschauen, die Situation genau analysieren und dann davon erzählen, was wir erlebt haben.“
Und das steht in einem großen Unterschied zu den sogenannten Journalisten, den Schreibtischtätern in den Redaktionen. Die fragen überhaupt nicht mehr, was man im Kriegsgebiet erlebt hat. Sie beugen sich ins Joch der NATO-Propaganda. Diese Berichterstattung ist nichts wert. Wir befinden uns im postfaktischen Zeitalter, weil sich niemand mehr der Situation aussetzt. Die Beobachtung vor Ort wird vermieden. Man schreibt den Käse von der Nachrichtenagentur ab, und es führt zu nichts.
Ich wünsche Ihnen noch eine gute Reise!
Ich hatte hier in Russland eine ganze Reihe lebhafter und hitziger Diskussionen. Manchmal hat man hier in Moskau das Gefühl, man kann offener und streitbarer diskutieren, als das heute in Deutschland noch möglich ist.
Titelbild: Ulrich Heyden
Fußnoten:
[«1] https://gnosisbooks.ru/books/politologiya/po_obe_storony_fronta_iskusstvo_reportazha/
[«2] Mein Artikel über zwei russische Filme (Spiel- und Dokumentarfilm), welche den Kriegsalltag lebensnah zeigen. Zwei aktuelle russische Filme über den Krieg in der Ukraine zeigen das Geschehen aus ungewohnten Blickwinkeln. – Berlin 24/7
[«3] Buchautor Patrik Baab über die Eindrücke seiner neuen Reise in das Kriegsgebiet Donbass
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