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Titel: Der deutsche Sozialstaat – vom Winde verweht …
Datum: 26. Juni 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Aufrüstung, Erosion der Demokratie, Finanzpolitik
Verantwortlich: Redaktion
Vor dem Königlichen Palast in Den Haag, in dem die Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder zum Staatsbankett geladen waren, bricht Panik aus: Kurz bevor US-Präsident Trump mit seiner Limousine vorfahren sollte, wehte plötzlich der rote Teppich weg – spirituelle Menschen würden darin vielleicht ein göttliches Zeichen sehen … Mit so einer kräftigen Böe hatte an dem schönen Sommerabend keiner gerechnet. Genauso wenig wie jemand noch vor wenigen Wochen damit gerechnet hätte, dass sich das ursprünglich vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel der NATO-Staaten in Den Haag sage und schreibe mehr als verdoppeln würde. Doch sind Militärausgaben in dieser gigantischen Höhe, die nachweislich an die Grenze der Leistungsfähigkeit des Staates gehen, überhaupt verfassungskonform? Von Torsten Küllig.
Zwei oder fünf Prozent, das klingt doch zunächst einmal nicht viel, oder? Also warum schon wieder die ganze Aufregung? Es sind aber fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), also die Summe aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Jahr produziert oder erbracht werden.
Für das vergangene Jahr betrug das BIP in Deutschland 4,31 Billionen Euro.
Für die Bundesrepublik würde das neue NATO-Ziel, bezogen auf das Jahr 2024, die gigantische Summe von 215,5 Mrd. Euro bedeuten. Bei dem Bundeshaushalt von 476 Mrd. Euro würden die Militärausgaben somit 45 Prozent der Gesamtausgaben betragen.
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass von den veranschlagten fünf Prozent 1,5 Prozent der Investitionen für Infrastrukturmaßnahmen ausgegeben werden sollen – allerdings nur, wenn sie einen militärischen Nutzen vorweisen können.
Schulen und Schwimmbäder werden es daher ganz sicher nicht sein …
Aber vor dem Hintergrund, dass Kommunen im Jahr 2024 ein Rekorddefizit von 24,8 Milliarden Euro verzeichneten und das öffentliche Finanzierungsdefizit im 1. bis 3. Quartal 2024 auf 108 Milliarden Euro stieg, stellt sich unzweifelhaft die Frage nach der Tragfähigkeit und den daraus folgenden rechtlichen Konsequenzen für diesen abenteuerlichen NATO-Beschluss.
Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Das heißt, der sogenannte Sozialstaatscharakter hat Verfassungsrang. Einen Verfassungsrang besonderer Ordnung, der gemäß Art. 79 Abs. 3 des Grundgesetzes sogar Ewigkeitscharakter besitzt.
Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig. Die Bezeichnung „Ewigkeitsklausel“ selbst steht zwar nicht im Grundgesetz, das Bundesverfassungsgericht spricht in dem Lissabon-Urteil aber selbst von der sogenannten „Ewigkeitsgarantie“.
Diese Ewigkeitsklausel oder Ewigkeitsgarantie ist in der Bundesrepublik eine Regelung des Grundgesetzes, die eine Bestandsgarantie für verfassungspolitische Grundsatzentscheidungen enthält. Die Grundrechte der Staatsbürger, die demokratischen Grundgedanken und die republikanisch-parlamentarische Staatsform dürfen auch im Wege einer Verfassungsänderung nicht angetastet werden. Mit dieser Regelung wollte der Parlamentarische Rat den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, namentlich dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, begegnen und naturrechtliche Grundsätze in Form der Menschenwürde sowie der Strukturprinzipien (Republik, Demokratie, Bundesstaat, Rechtsstaat und Sozialstaat) mit einer zusätzlichen Sicherung versehen.
Militärausgaben, die nachweislich an die Grenze der Leistungsfähigkeit des Staats gehen und somit den in Artikel 20 GG garantierten Sozialstaatscharakter infrage stellen, sind somit verfassungswidrig, denn sie scheinen offenkundig darauf angelegt zu sein, den Sozialstaatscharakter der Bundesrepublik langfristig dauerhaft zu gefährden, wenn nicht sogar zu beseitigen.
Selbst wenn der Bundestag mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit für dieses neue NATO-fünf-Prozent-Ziel stimmen würde – bei dem abgewählten Bundestag hätte dies vielleicht sogar geklappt – wäre das verfassungsrechtlich gar nicht zulässig.
Aber offensichtlich scheint das alles keinen zu interessieren. Der deutsche Sozialstaat – er wird gerade aktiv im Beisein der Sozialdemokratie vom Winde verweht. So wie der rote Teppich in Den Haag …
Titelbild: Shutterstock / Hal_P
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