NATO-Gipfel in Den Haag: Fünf Prozent des BIP fürs Militär und Amerikas „felsenfestes“ Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft

NATO-Gipfel in Den Haag: Fünf Prozent des BIP fürs Militär und Amerikas „felsenfestes“ Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft

NATO-Gipfel in Den Haag: Fünf Prozent des BIP fürs Militär und Amerikas „felsenfestes“ Bekenntnis zur transatlantischen Partnerschaft

Karsten Montag
Ein Artikel von Karsten Montag

NATO-Generalsekretär Mark Rutte hat das zentrale Thema des Gipfeltreffens in einer Rede in einer britischen Denkfabrik erläutert. Dabei sparte er nicht mit einseitiger Kriegspropaganda. Doch was steckt hinter der Forderung, die Verteidigungsausgaben vieler NATO-Staaten mehr als zu verdoppeln? Verfolgen die USA und die europäischen Partner überhaupt die gleichen Ziele? Und warum ist Russland – trotz deutlicher Unterlegenheit auf dem Papier – im Begriff, den Krieg in der Ukraine zu gewinnen? Eine nähere Betrachtung der jeweiligen Verteidigungsausgaben und militärischen Potenziale gibt Aufschluss. Von Karsten Montag.

Der NATO-Gipfel am 24. und 25. Juni in Den Haag steht vor der Tür, und zentrales Thema wird die Anhebung der Rüstungsausgaben der Mitgliedsstaaten auf fünf Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts (BIP) sein. In einer Rede mit anschließender Pressekonferenz in der britischen Denkfabrik Chatham House hat NATO-Generalsekretär Mark Rutte Anfang Juni die Hintergründe erläutert. Russland habe sich mit China, Nordkorea und dem Iran „zusammengetan“, und die Länder würden ihre Streitkräfte und Fähigkeiten ausbauen. Russland produziere in drei Monaten so viel Munition wie die gesamte NATO in einem Jahr und könne „innerhalb von fünf Jahren bereit sein, militärische Gewalt gegen die NATO einzusetzen“. Auch China würde sein Militär „in rasantem Tempo“ modernisieren und erweitern. Das Land verfüge bereits über die „größte Marine der Welt“ und würde auch sein Atomwaffenarsenal ausbauen. Bis 2030 sollen laut Rutte China „mehr als 1.000 einsatzfähige Atomsprengköpfe“ zur Verfügung stehen.

Diejenigen, die sich gegen Freiheit und Demokratie stellten, bereiteten sich auf eine „langfristige Konfrontation“ vor und würden versuchen, „uns zu beherrschen und zu besiegen“. In diesem Zusammenhang verwies der Generalsekretär auf eine Rede des ehemaligen britischen Premierministers Winston Churchill. Dieser soll 1936 im britischen Unterhaus die Frage gestellt haben, ob es genug Zeit gebe, um „unsere Verteidigung in Ordnung zu bringen“, oder ob „die schrecklichen Worte zu spät aufgenommen“ würden. Die NATO würde heute vor derselben Frage stehen. Damit vergleicht Rutte Russland, China, Iran und Nordkorea mit Nazideutschland.

Die Darlegungen des ehemaligen niederländischen Ministerpräsidenten enthalten noch weitere Aussagen, die sehr an einseitige Kriegspropaganda erinnern und zum Teil historischen Tatsachen widersprechen. So verhalte sich Russlands Präsident Wladimir Putin nicht wie jemand, der „am Frieden interessiert“ sei. Russland greife „weiterhin zivile Ziele in der Ukraine an“. Das sei „Gewalt um der Gewalt willen“. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine sei „unprovoziert“ gewesen. Die Menschen in der Ukraine hätten „einen gerechten und dauerhaften Frieden“ verdient – ein Synonym für die Niederlage Russlands. Die NATO werde hingegen „immer ein Verteidigungsbündnis sein“. Dabei verschweigt Rutte die Tatsache, dass NATO-Staaten in der jüngeren Vergangenheit sehr wohl Angriffskriege geführt haben. Selbst der bisher einzige Verteidigungsbündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags – in der Folge des Terrorangriffs 2001 auf New York und Washington – führte zu einem Angriffskrieg gegen Afghanistan – ohne dass ein einziger Afghane an dem Terroranschlag direkt beteiligt war.

Die Antwort des NATO-Generalsekretärs auf die von ihm konstruierte Bedrohung: „Wir werden eine bessere NATO aufbauen. Eine, die stärker, fairer und tödlicher ist.“ Daher müssten die Mitgliedsländer „viel mehr“ für die Verteidigung ausgeben. Alle Bündnispartner würden das ursprüngliche Ziel, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, „in diesem Jahr erreichen“. Das sei „eine Zusage“ aus dem Jahr 2014 gewesen. Rutte geht zudem davon aus, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Alliierten auf dem Gipfel in Den Haag darauf einigen werden, „fünf Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben“. 3,5 Prozent würden in „militärischen Kernbedarf“ investiert, während der Rest in „verteidigungs- und sicherheitsrelevante Investitionen“ fließe, einschließlich Infrastruktur und Aufbau von Industriekapazitäten. Mehr Verteidigungsausgaben und -produktion würden für eine „wirksame Abschreckung“ sorgen, das „Wirtschaftswachstum fördern“ und „Arbeitsplätze schaffen“.

Und dann machte der Generalsekretär noch eine Äußerung, die sich auf den ersten Blick logisch nicht erschließt, angesichts der absoluten Rüstungsausgaben der verschiedenen NATO-Mitglieder jedoch darauf hindeutet, was tatsächlich hinter verschlossenen Türen in dem Bündnis diskutiert wird. So sagte Rutte, Amerika habe schon „zu lange einen Großteil der Last getragen“. Europa und Kanada würden nun mehr für die gemeinsame Sicherheit tun. Das würde „durch Amerikas felsenfestes Bekenntnis zur NATO“ gestützt werden. Eine ähnliche Formulierung findet sich auch bei dem deutschen Außenminister Johann Wadephul auf einem Treffen der NATO-Außenminister im türkischen Antalya Mitte Mai. So sieht er in der Forderung von US-Präsident Donald Trump, fünf Prozent vom BIP für Verteidigung auszugeben, „ein klares Bekenntnis der Vereinigten Staaten von Amerika zu Artikel 5“ des Nordatlantikvertrags.

Das Zwei-Prozent-Ziel war keine verpflichtende „Zusage“, sondern eine Richtlinie

Das konkrete Ziel, dass die NATO-Partner zwei Prozent ihres BIP für Rüstung ausgeben sollen, wurde das erste Mal auf dem Gipfel im lettischen Riga 2006 von den Staats- und Regierungschefs mündlich erklärt. Dieses Ziel fand sich in der Folge in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels 2014 im britischen Newport wieder. Dort heißt es, dass Bündnispartner, deren Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP unter zwei Prozent liegt, „sich bemühen“ würden, „sich innerhalb eines Jahrzehnts der 2-Prozent-Richtlinie anzunähern, um ihre NATO-Fähigkeitsziele zu erreichen und die Fähigkeitslücken der NATO zu schließen“. In einem NATO-Dokument wird ausdrücklich von einer „2-Prozent-Richtlinie“ gesprochen.

Dass die Mehrheit der wirtschaftlich stärksten NATO-Staaten sich weder nach 2006 noch nach 2014 an diese Richtlinie gebunden fühlte, zeigt die folgende Auswertung.

Abbildung 1: Rüstungsausgaben der wirtschaftlich stärksten NATO-Staaten im Verhältnis zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, Datenquelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)

Während die USA nach ihrem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak und der darauf folgenden Besatzung des Landes, die bis 2011 andauerte, ihre Verteidigungsausgaben auf circa 3,5 Prozent des BIP gesenkt haben, pendeln seit 2006 lediglich Großbritannien und Frankreich um die Zwei-Prozent-Marke. Allerdings lagen diese beiden Länder seit der Gründung der NATO noch nie unter diesem Wert, sondern eher deutlich darüber. Andere wirtschaftlich bedeutende NATO-Länder wie Italien, Spanien und Kanada haben seit 2006 den Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP kaum erhöht und lagen auch 2024 noch deutlich unter zwei Prozent. Lediglich Deutschland hat ab 2022 mit dem „Sondervermögen Bundeswehr“ den Anteil erhöht und nähert sich derzeit dem geforderten Wert.

Dass alle NATO-Staaten 2025 das Zwei-Prozent-Ziel erreichen werden, wie Generalsekretär Rutte dies formuliert hat, ist zudem angesichts der Zahlen für 2024 zumindest zweifelhaft.

Abbildung 2: Rüstungsausgaben der NATO-Staaten 2024 im Verhältnis zum jeweiligen Bruttoinlandsprodukt, Datenquelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)

Zwar haben sowohl Italien, Spanien und Belgien gemäß eines Beitrages in der Neuen Zürcher Zeitung erst kürzlich angekündigt, die geforderte Marke noch 2025 zu erreichen. Doch die schweizerische Tageszeitung geht davon aus, dass das Kriterium in diesen Ländern nur kurzzeitig und nicht ohne finanzielle Haushaltstricks erreicht wird. Auch der kanadische Premierminister Mark Carney hat überraschend angekündigt, dass sein Land noch 2025 das Zwei-Prozent-Ziel erreicht und nicht erst – wie geplant – in fünf Jahren. Allerdings betonte er, dass es ihm dabei vornehmlich um eine größere Unabhängigkeit von den USA ginge. Auch Portugal will die Zwei-Prozent-Marke bereits 2025 erreichen und nicht erst, wie geplant, 2029. Doch das Land erreicht selbst den bisherigen Anteil von 1,5 Prozent laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung nur mit Finanztricks.

Woher kommt die Forderung nach Rüstungsausgaben in Höhe von fünf Prozent Anteil am BIP?

Bereits in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident hat Donald Trump auf dem NATO-Gipfel in Brüssel 2018 von den Staats- und Regierungschefs der Partnerländer gefordert, vier Prozent des jeweiligen BIP für die Verteidigung auszugeben. Zur damaligen Zeit wurde seine Forderung noch als „Rhetorik“ abgetan. Man sollte zuerst auf zwei Prozent kommen, sagte beispielsweise der damalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg.

Nachdem während der US-Regierung unter Joe Biden diese Forderungen nicht erneuert wurden, ließ Trump nach seiner Wiederwahl und noch vor seiner Amtseinsetzung über sein Team europäischen Politikern mitteilen, dass er von den NATO-Mitgliedsstaaten eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des BIP verlangen wird. Wenige Tage zuvor hatte der damals designierte US-Präsident mit einem Austritt seines Landes aus der NATO gedroht, sollten die anderen Verbündeten nicht mehr Geld für Verteidigung ausgeben.

Auf dem NATO-Außenministertreffen in Antalya Mitte Mai kündigte der deutsche Außenminister Wadephul schließlich an, dass „wir“ Trumps Forderungen folgen würden – wobei nicht deutlich wurde, ob mit „wir“ die NATO-Außenminister oder Deutschland gemeint war. Bereits einen Tag später relativierte Bundeskanzler Friedrich Merz die Zusage seines Außenministers. Die Debatte solle nicht „überbewertet“ werden. Die „Diskussion um Prozentzahlen vom BIP“ sei eine „Hilfskonstruktion“, um Richtwerte zu haben, in welche Richtung die Aufrüstung der Streitkräfte gehe. Es ginge darum, die Fähigkeit zu entwickeln, den europäischen Kontinent „aus eigener Kraft heraus“ verteidigen zu können, so Merz.

Der britische Premierminister Keir Starmer hat bereits im Februar angekündigt, die Verteidigungsausgaben seines Landes bis 2027 auf 2,5 Prozent und danach auf drei Prozent des BIP zu erhöhen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat im März gefordert, den Verteidigungsetat seines Landes auf 3,5 Prozent des BIP zu steigern.

Die NATO – das sind größtenteils die USA

Warum US-Präsident Trump derartige Forderungen stellen kann und warum zumindest Deutschland, Großbritannien, Frankreich und viele weitere europäische Staaten bereit sind, ihm zu folgen, wird erst deutlich, wenn man nicht die prozentualen, sondern die absoluten Rüstungsausgaben betrachtet. In der nachfolgenden Abbildung sind diese Ausgaben sowie zum Vergleich die theoretischen Werte bei einem Anteil von fünf Prozent vom jeweiligen BIP dargestellt.

Abbildung 3: Rüstungsausgaben der NATO-Staaten 2024 tatsächlich und theoretisch (bei fünf Prozent vom BIP) in US-Dollar, Datenquelle: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI)

Die Vereinigten Staaten geben derzeit annähernd doppelt so viel für die Verteidigung aus wie alle übrigen 31 NATO-Staaten zusammen. Selbst wenn alle Bündnispartner – inklusive der USA – ihr Verteidigungsbudget auf fünf Prozent des jeweiligen BIP erhöhen würden, lägen die Ausgaben der Vereinigten Staaten noch immer elf Prozent über den Gesamtausgaben der restlichen Bündnisländer. Auch wenn alle europäischen NATO-Staaten ihr Verteidigungsbudget auf fünf Prozent des jeweiligen BIP erhöhen würden, läge die Summe noch immer um ein Drittel niedriger als die derzeitigen Gesamtausgaben der NATO inklusive USA und Kanada.

Angesichts dieser Zahlen und der militärischen Lage in der Ukraine erschließt sich, warum die führenden Staaten der „Koalition der Willigen“ bereit sind, ihre Rüstungsausgaben drastisch zu steigern und den Forderungen Trumps nachzukommen. Denn ein endgültiges Aussteigen der USA aus der Unterstützung der Ukraine würde die Ziele dieser vornehmlich europäischen Allianz durchkreuzen. Diese bestehen darin, „Friedenstruppen“ in die Ukraine zu entsenden, um einen „gerechten Frieden“ in der Ukraine zu ermöglichen. Hinter diesen Bezeichnungen steckt das Gegenteil von dem, was sie suggerieren sollen. Denn mit einem „gerechten Frieden“ ist die Rückeroberung aller von Russland besetzen Gebiete in der Ukraine, inklusive der Krim, gemeint – also eine vollkommene militärische Niederlage Russlands. Die Entsendung von „Friedenstruppen“, um einen eventuellen Waffenstillstand zu sichern, würde bedeuten, dass größere Kontingente von NATO-Einheiten dauerhaft und offiziell in der Ukraine stationiert werden. Dies käme einer NATO-Mitgliedschaft des Landes gleich. Denn sollte der Waffenstillstand nicht halten, wie dies häufig im Laufe des vorangegangenen Bürgerkriegs in der Ukraine der Fall war, dann wären NATO-Truppen direkt und offiziell in den Krieg verwickelt. Erklärtes Ziel des russischen Angriffs auf die Ukraine war jedoch, eine Integration des Landes in die NATO zu verhindern. Die „Koalition der Willigen“ treibt also nicht eine Friedensinitiative voran, sondern eine Eskalation des Krieges.

Diesen Krieg ist die Ukraine im Begriff zu verlieren – und das nicht erst seit der Ankündigung der neuen US-Regierung unter Donald Trump, sich aus der Unterstützung des Landes zurückzuziehen. Nach der erfolglosen Sommeroffensive 2023 muss die ukrainische Armee in allen vier umkämpften Regionen kontinuierlich Gebiete räumen, insbesondere im Oblast Donezk. Auch die Eroberungen der Ukraine in der russischen Region Kursk waren ein Fehlschlag, denn das offensichtliche Ziel der Operation – die Einnahme des Kursker Kernkraftwerkes – wurde nicht erreicht, und die russische Armee konnte sämtliche besetzten Gebiete zurückerobern.

Auf dem Papier sollte Russland den Krieg in der Ukraine theoretisch verlieren

Verwunderlich – zumindest aus der Sicht vieler westlicher Politiker – ist die Tatsache, dass Russland trotz der immensen finanziellen und militärischen Unterstützung der Ukraine hauptsächlich durch die NATO, trotz des strategischen und taktischen Eingreifens der USA und vieler europäischer Staaten in die Kriegshandlungen und trotz der beispiellosen Sanktionen der EU und der USA den Krieg überhaupt gewinnen kann. Dass die russische Wirtschaft sich von den westlichen Sanktionen größtenteils unbeeindruckt zeigt, liegt vorrangig an der wirtschaftlichen Kooperation innerhalb der BRICS-Staaten – insbesondere zwischen Russland, China und Indien. Diese konnte das Wegbrechen der für Russland besonders wichtigen Handelsverbindungen nach Europa annähernd komplett kompensieren.

Doch der militärische Erfolg Russlands erstaunt zumindest angesichts der Rüstungsausgaben des Landes sowie seiner militärischen Verbündeten Nordkorea und Iran.

Abbildung 4: Rüstungsausgaben der BRICS-Staaten und Nordkoreas 2024 in US-Dollar, Datenquellen: Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI), GlobalData, DefenseNews

Die Verteidigungsausgaben Russlands betrugen 2024 lediglich ein Zehntel der Gesamtausgaben der NATO für Rüstung und Militär. Die Verteidigungsbudgets des Irans und Nordkoreas sind im Verhältnis dazu so gering, dass sie kaum erwähnenswert erscheinen. Auf dem Papier sollte Russland also den Abnutzungskrieg in der Ukraine klar verlieren. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Gründe dafür müssen also woanders zu finden sein.

Ohne die USA und NATO-Bodentruppen kein „gerechter Frieden“ in der Ukraine

Wenn laut NATO-Generalsekretär Rutte Russland in drei Monaten so viel Munition – gemeint ist in diesem Fall Artilleriemunition – produzieren kann wie die gesamte NATO in einem Jahr, dann ist Russland offenbar deutlich besser auf einen Landkrieg vorbereitet als die Staaten des westlichen Verteidigungsbündnisses. Das macht aus der Perspektive Russlands durchaus Sinn, denn das größte Land der Welt lässt sich letztendlich nur über einen Landkrieg erobern beziehungsweise verteidigen. Die NATO-Staaten haben hingegen eine deutliche Überlegenheit bei den Luft- und Seestreitkräften aufgebaut. Diese haben sie in der Vergangenheit hauptsächlich gegen hoffnungslos unterlegene Gegner in Serbien, Afghanistan, im Irak, Libyen und Syrien eingesetzt – allesamt Länder ohne eine adäquate Luftverteidigung.

Ausschlaggebend in einem Landkrieg ist auch die Größe, die Ausrüstung und die Ausbildung der Infanterie sowie die Potenziale, eine solche auf Dauer bei großen Verlusten zu ersetzen. In dieser Hinsicht ist Russland der Ukraine deutlich überlegen.

Abbildung 5: Größe der Armee und menschliche Reserven, Russland und Ukraine, Datenquelle: Global Firepower

Um das Blatt in der Ukraine zu wenden und die Ziele der „Koalition der Willigen“ zu erreichen, ist neben einer Steigerung der Rüstungsausgaben in Europa und einer weiteren Unterstützung der USA also auch ein Einsatz von westlichen Bodentruppen in der Ukraine zwingend erforderlich. Vor diesem Hintergrund erschließen sich letztendlich die Aussagen von NATO-Generalsekretär Rutte („Amerikas felsenfestes Bekenntnis zur NATO“) und von Bundesaußenminister Wadephul („Klares Bekenntnis der Vereinigten Staaten von Amerika zu Artikel 5“). Man will mit dem Erfüllen von Trumps Forderungen die USA dazu bewegen, weiterhin in den Krieg in der Ukraine zu investieren.

Vordergründig wird das Narrativ vorgeschoben, Russland könne – oder würde sogar – in fünf Jahren europäische NATO-Staaten angreifen. Die Bevölkerung der europäischen NATO-Mitgliedsländer ohne die Türkei beträgt jedoch 500 Millionen Menschen (Russland: 140 Millionen). Diese Länder verfügen derzeit über knapp 1,7 Millionen aktive Soldaten (Russland: 1,3 Millionen) und weitere drei Millionen Reservisten (Russland: zwei Millionen). Das Verteidigungsbudget der europäischen NATO-Mitgliedsländer ohne die Türkei übertrifft mit derzeit knapp 455 Milliarden Dollar das russische um mehr als das Dreifache. Der Kreml müsste wahnsinnig sein, einen Krieg mit europäischen NATO-Staaten überhaupt nur in Erwägung zu ziehen. Trotzdem werden westliche Politiker und Medien nicht müde, das Narrativ vom russischen Angriff ständig zu wiederholen, mehr Ausgaben für Verteidigung zu fordern und die Wiedereinführung der Wehrpflicht zu diskutieren.

In der Militärtheorie wird davon ausgegangen, dass ein Angreifer in einem Krieg eine Überlegenheit an Soldaten von mindestens drei zu eins benötigt, um die Verteidigungsstellungen des Gegners einzunehmen. Selbst dann ist ein Sieg noch lange nicht garantiert. Im sowjetisch-finnischen Winterkrieg zwischen 1939 und 1940 verfügte die Rote Armee über eine Überlegenheit an Soldaten von drei zu eins, an Artillerie von fünf zu eins und an Panzern von achtzig zu eins. Trotzdem scheiterte die sowjetische Invasion Finnlands.

Eine noch deutlichere Überlegenheit europäischer NATO-Streitkräfte gegenüber Russland, wie sie die „Koalition der Willigen“ derzeit anstrebt, macht also nur Sinn, wenn es nicht nur darum geht, dass eigene Territorium zu verteidigen, sondern auch Gebiete zu erobern beziehungsweise zurückzuerobern. Ein solches Vorgehen könnte die Herstellung eines „gerechten Friedens“ in der Ukraine darstellen. Denn um die russisch besetzen Gebiete in der Ukraine einzunehmen, müsste die ukrainische Armee in der Lage sein, die russischen Verteidigungsstellungen zu überwinden. Dies ist nur möglich, wenn die westlichen Verbündeten noch mehr Waffen, Munition und Ausrüstung liefern und zudem auch eigene Truppen entsenden.

Die „Koalition der Willigen“ könnte die Rechnung ohne den Wirt machen

Der „Wirt“ ist in diesem Fall die USA, denn diese hat sich unter Präsident Donald Trump offensichtlich dafür entschieden, die von Russland eroberten Gebiete in der Ukraine abzuschreiben und die US-amerikanischen Ressourcen eher für Stellvertreterkriege im Nahen Osten oder im Indopazifik zu verwenden. Wie bereits in einem früheren Beitrag dargestellt, geht es den Vereinigten Staaten vordergründig nicht darum, Gerechtigkeit herzustellen oder Territorien zurückzuerobern – auch wenn europäische Politiker und Journalisten dies so darstellen oder am Ende sogar selbst glauben. Primäres Ziel ist vielmehr, das Entstehen einer wirtschaftlichen und militärischen Supermacht auf dem Eurasischen Kontinent dauerhaft zu verhindern, um die US-Vormachtstellung in der Welt zu sichern.

Eine in der Entstehung begriffene europäisch-russische wirtschaftliche Supermacht scheint aufgrund der gesprengten Nord-Stream-Pipelines, dem Krieg in der Ukraine und den EU-Sanktionen gegen Russland auf Dauer verhindert. Aus US-amerikanischer geopolitischer Sicht geht es nunmehr darum, die wachsenden engen wirtschaftlichen und auch militärischen Kooperationen hauptsächlich zwischen Russland, China und dem Iran zu torpedieren. US-Außenminister Marco Rubio hat in einem Interview Anfang des Jahres durchscheinen lassen, dass er sich von den gesteigerten Rüstungsausgaben in Europa eine militärische Kooperation im Indopazifik erhofft. Im gleichen Atemzug warf er Frankreich, Deutschland und Spanien vor, sie würden zu wenig in ihre Landesverteidigung investieren und das Geld lieber für ihre „enormen“ Sozialsysteme ausgeben.

Geht es nach dem Willen der USA, soll die europäische Unter- und Mittelschicht zukünftig in den gleichen prekären Verhältnissen leben wie in den Vereinigten Staaten, dafür aber Ressourcen und Soldaten aufbringen, um an anderen Orten auf dem Eurasischen Kontinent zu kämpfen. Vordergründig geht es natürlich darum, diejenigen Kräfte einzuhegen, die sich gegen „Freiheit und Demokratie“ stellen und „uns“ beherrschen und besiegen wollen. NATO-Generalsekretär Mark Rutte hat diese Pille längst geschluckt, wenn er vor einer wachsenden chinesischen Gefahr warnt. Schaltet man jedoch den Fernseher einmal für längere Zeit aus, beschäftigt sich auch nur ansatzweise mit den Hintergründen von Geopolitik und zählt eins und eins zusammen, dann ist das eigentliche Ziel leicht zu erkennen. Es geht um die Wahrung der US-amerikanischen Vormachtstellung in der Welt, von der die westeuropäischen Staaten lange Zeit profitiert haben, die aber aufgrund des Aufstrebens der BRICS-Staaten und der hohen Kosten für die „transatlantische Partnerschaft“ für Europa immer unattraktiver wird.

Titelbild: Onur26120/stutterstock.com