Orientierungslos im Propagandawald

Orientierungslos im Propagandawald

Orientierungslos im Propagandawald

Karsten Montag
Ein Artikel von Karsten Montag

In den Vereinigten Staaten vollzieht sich unter der Präsidentschaft von Donald Trump derzeit ein umfassender innen- und außenpolitischer Wandel. Betroffen ist die Haltung zum Krieg in der Ukraine, zu Russland und China, zum Außenhandel, zur Einwanderung, zu etablierten Medien, zum Einfluss der eigenen Geheimdienste sowie zur Gesundheitspolitik. Während die innenpolitische Wendung in den USA nur indirekt Auswirkungen auf die Politik in Europa hat, würfelt die Neuausrichtung der US-Außenpolitik derzeit die politische Agenda vieler europäischer Länder durcheinander. Von Karsten Montag.

In zwei Beiträgen werden der politische Wandel in den USA, dessen mögliche Gründe sowie die Auswirkungen auf die Politik in Europa und Deutschland näher beleuchtet. In diesem ersten Teil wird auf die 180-Grad-Wende der US-Führung unter Präsident Donald Trump hinsichtlich des Krieges in der Ukraine und der Beziehungen zum Kreml eingegangen. Bei genauem Hinsehen lassen sich Hinweise erkennen, dass die außenpolitische Wende der Vereinigten Staaten im Grunde nur ein Taktikwechsel einer übergeordneten, langfristigen geopolitischen Strategie darstellt.

Offenbar ohnmächtig, dagegen etwas zu unternehmen, versuchen die politischen Verantwortlichen in den Machtzentren Europas, den Taktikwechsel ihres vermeintlichen transatlantischen Verbündeten für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Bei der Analyse wird deutlich, dass die Vertreter der EU und ihrer mächtigsten Mitgliedstaaten der US-Strategie nichts entgegenzusetzen haben. Stattdessen machen sie den Eindruck, den amerikanischen und ihren eigenen Propagandalügen zu glauben.

Das US-Friedensangebot an Moskau

Geht man – wie viele Kommentatoren außerhalb des medialen Mainstreams – davon aus, dass es sich bei dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine in erster Linie um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland handelt, ist es nur konsequent, dass die US-Führung über die Köpfe der Regierenden der Ukraine und der übrigen westlichen Verbündeten hinweg direkt mit dem Kreml über einen Frieden verhandelt. Aus den Details des derzeit diskutierten Vorschlags Washingtons für ein Friedensabkommen geht hervor, dass die USA die Krim als russisches Territorium anerkennen und die russischen Eroberungen im Osten und Süden der Ukraine faktisch akzeptieren wollen. Zudem würden die Vereinigten Staaten sich dazu verpflichten, einen NATO-Beitritt der Ukraine zu blockieren und die US-Sanktionen gegen Russland aufzuheben. Schlussendlich sieht der Plan eine erneute Zusammenarbeit zwischen Russland und den USA in Schlüsselsektoren wie Energie und Landwirtschaft vor und signalisiert damit eine strategische Wiederaufnahme der Wirtschaftsbeziehungen.

Die geplante wirtschaftliche Kooperation soll sich offenbar auf die Bereiche Energie und kritische Mineralien konzentrieren. Konkret geht es um die Erschließung von Öl- und Gasvorkommen sowie von Vorkommen seltener Erden in der Arktis. Die US-Führung soll sogar vorgeschlagen haben, dass US-Firmen in russische Projekte investieren. Im Kontrast dazu hat sich die Außenhandelspolitik der USA gegenüber China deutlich verschärft. Seit April gelten Einfuhrzölle für viele chinesische Produkte von 145 Prozent. Die Regierung in Peking hat mit Gegenzöllen und offenbar einem generellen Ausfuhrverbot seltener Erden reagiert. Zudem gibt es Hinweise, dass die US-Führung Zollandrohungen gegen andere Länder nutzt, um deren wirtschaftliche Kooperation mit China zu reduzieren.

Gründe für den außenpolitischen Wandel

Vordergründig rechtfertigt Trump seine Haltung zum Krieg in der Ukraine mit dem Argument, das sinnlose Töten beenden zu wollen. Obwohl dies auf den ersten Blick ehrenvoll erscheint, wird es sicherlich nicht der Hauptgrund für die veränderte US-Position gegenüber Russland und der Ukraine sein. Denn Ähnliches gilt auch für den Konflikt zwischen den Israelis und Palästinensern. Doch hier unterstützt Trump offen Israel, das vor dem Internationalen Gerichtshof des Völkermords angeklagt ist, sowie dessen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, gegen den vom Internationalen Strafgerichtshof ein Haftbefehl wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen wurde. Die tatsächlichen Gründe für den Wandel der US-Außenpolitik sind eher in der Situation an der Front in der Ukraine sowie in einer angepassten geopolitischen Taktik zu suchen.

Nach mehr als drei Jahren Krieg und Waffenlieferungen sowie Hilfeleistungen an die Ukraine im Wert von mehreren Hundert Milliarden Dollar zeichnet sich bereits seit über einem Jahr ab, dass Russland den Krieg auf dem Schlachtfeld gewinnt. Die relativ geringen russischen Geländegewinne sowie wiederholte ukrainische Gegenoffensiven haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass westliche Politiker und Journalisten von einer Pattsituation in der Ukraine gesprochen haben. Dabei wird jedoch übersehen, dass die russische Führung spätestens seit Ende 2022 die Strategie gewechselt und sich auf einen langwierigen Abnutzungskrieg eingestellt hat. Russland hat seitdem sukzessive seine Rüstungsindustrie ausgebaut und seine Armee vergrößert. Damit hat das Land den Westen in eine schwierige Situation gebracht, denn offensichtlich lässt sich das Blatt in der Ukraine nur noch wenden, wenn deren Verbündete neben weiteren Waffenlieferungen auch eigene Soldaten an die Front schicken.

Aufgrund des immensen Eskalationspotenzials einer derartigen Entscheidung bis hin zu einem Atomkrieg besteht nicht nur die Gefahr, dass der Widerstand in der westlichen Bevölkerung wächst. Auch die wichtigsten wirtschaftlichen Verbündeten Russlands – China und Indien – würden sich bei einer drohenden Niederlage der russischen Armee höchstwahrscheinlich deutlicher gegen den Westen positionieren und in den Konflikt eingreifen. Denn es ist kaum zu erwarten, dass diese beiden Länder auf die für die Entwicklung ihrer Volkswirtschaften wichtigen Öl- und Gaslieferungen aus Russland verzichten oder diese unter westlicher Kontrolle sehen wollen. Eine vereinigte Front auf dem eurasischen Kontinent gegen den Westen kann jedoch nicht im geopolitischen Interesse der USA liegen.

Hintergründe der geopolitischen Strategie der Vereinigten Staaten

Die wichtigste geopolitische Strategie der USA zur Wahrung ihrer Vormachtstellung in der Welt ist seit dem Zweiten Weltkrieg die Verhinderung einer wirtschaftlichen und militärischen Supermacht auf dem Eurasischen Kontinent. Dies wird in den Theorien des niederländisch-amerikanischen Geostrategen Nicholas Spykman deutlich, die Grundlage der Eindämmungspolitik im Kalten Krieg waren. Sämtliche großen Stellvertreterkriege dieser Zeit fanden an den Grenzen der Einflussgebiete der Sowjetunion und Chinas statt. Diese Strategie findet sich zudem bei dem ehemaligen US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński wieder.

Mit dem Ende des Kalten Krieges und der wirtschaftlichen Öffnung Russlands und Chinas für den Westen änderte sich die geopolitische Lage jedoch schlagartig. Während die USA die damalige Schwäche Russlands nutzten, um ihre militärische Präsenz im Nahen Osten und damit den Zugriff auf die dortigen Öl- und Gasvorkommen zu stärken, intensivierte sich die wirtschaftliche Kooperation zwischen Europa, Russland und China. Spätestens nach der Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Deutschen Bundestag 2001 müssen bei den amerikanischen Geostrategen die Alarmglocken geklingelt haben. Der damals noch junge Putin sprach von einer Vereinigung Europas mit den „russischen menschlichen, territorialen und Naturressourcen sowie mit den Wirtschafts-, Kultur- und Verteidigungspotenzialen Russlands“.

Trotz der Lippenbekenntnisse zum transatlantischen Bündnis war es unter der Annahme, dass die USA weiterhin eine wirtschaftliche und militärische Supermacht auf dem Eurasischen Kontinent verhindern wollten, nur konsequent, gegen eine wachsende Kooperation der EU mit Russland zu opponieren. Sanktionsdrohungen gegen den Bau von Nord Stream 2 waren nur ein Mittel der Vereinigten Staaten, um einen Keil zwischen die sich intensivierenden Beziehungen der europäischen Staaten mit ihrem großen Nachbarn im Osten zu treiben. Deren Ziel war es ausdrücklich, Europa von der russischen Gasversorgung abzuschneiden und stattdessen den Export amerikanischer Gaslieferungen zu fördern.

Deutlich effektiver war in dieser Hinsicht die NATO-Osterweiterung, die unweigerlich zur Überschreitung roter Linien in Moskau führen musste. Mit der Erklärung auf dem NATO-Gipfel 2008 in Bukarest, den Beitritt Georgiens und der Ukraine zu begrüßen, war diese Linie erreicht. Trotz der deutlichen Warnungen Russlands ließen insbesondere die USA nicht locker, unterstützten den gewaltsamen Putsch in der Ukraine 2014 und bauten zusammen mit ihren europäischen Verbündeten die militärische Kooperation mit Kiew aus.

Im politischen und medialen Mainstream in den USA und Europa wird behauptet, dass das direkte militärische Eingreifen Russlands in den Bürgerkrieg in der Ukraine 2022 unprovoziert gewesen sei – auch wenn dies selbst von renommierten westlichen Beobachtern bestritten wird. Dass das Eingreifen unvorhersehbar war, würde jedoch historischen Tatsachen widersprechen. Denn es waren die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sowie der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy, die 2008 auf dem NATO-Gipfel in Bukarest einen konkreten Plan für die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO verhindert haben – um Russland nicht zu provozieren.

Mit dem direkten Eingreifen der russischen Armee in der Ukraine, den EU-Sanktionen gegen Russland und der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines 2022 ist die Zusammenarbeit der EU mit Russland endgültig zu Grabe getragen worden. Das politische Vertrauen ist auf beiden Seiten auf nicht absehbare Zeit zerstört.

NATO-Engagement in der Ukraine bereits seit 2014

Vorausgesetzt, dass die NATO-Osterweiterung bewusst von den USA instrumentalisiert wurde, um einen Keil zwischen Russland und den Rest Europas zu treiben, lässt sich eine konsequente Verfolgung dieses Vorhabens über alle US-Präsidenten seit Bill Clinton feststellen. Letzterer hatte bereits den Widerstand des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin gegen die NATO-Osterweiterung ignoriert und das Interesse einer Aufnahme Russlands in die NATO laut einer Aussage Putins abgeblockt. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush hat auf dem NATO-Gipfel in Bukarest 2008 auf eine sofortige Aufnahme der Ukraine und Georgiens in das westliche Verteidigungsbündnis gedrängt.

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama rief die NATO 2014 dazu auf, die Ukraine militärisch gegen Russland zu stärken. Er unterstützte die Ukraine zwischen 2014 und 2016 bereits mit über 600 Millionen Dollar – unter anderem in Form von militärischen Gütern. In seine Amtszeit fällt auch die amerikanische Beteiligung am gewaltsamen Umsturz in Kiew, der im Westen als „Maidan-Revolution“ und demokratische Wende dargestellt wird. Auch die Kooperation zwischen der Regierung in Kiew mit der CIA lässt sich bis in das Jahr 2014 zurückverfolgen.

In die erste Amtszeit von US-Präsident Donald Trump fällt die Belieferung der Ukraine mit Panzerabwehrwaffen. Der auf ihn folgende US-Präsident Joe Biden hat bereits als Vizepräsident unter Obama eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO unterstützt. Laut einer Aussage des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hat Biden seine Unterstützung für die Aufnahme der Ukraine in das westliche Verteidigungsbündnis Ende 2021 bekräftigt – noch vor dem direkten militärischen Eingreifen Russlands in den Bürgerkrieg in der Ukraine.

If you can’t beat them, join them“

Ganz sicher nicht im Sinne der US-Geostrategen war, dass es der russischen Regierung unter Wladimir Putin gelingt, sowohl den Stellvertreterkrieg in der Ukraine zu gewinnen als auch den westlichen Sanktionen zu widerstehen. Zumindest auf dem Papier hätte die russische Armee den Waffensystemen der NATO weit unterlegen sein müssen. Die atemberaubende Geschwindigkeit, mit der Russland die intensiven Handelsbeziehungen mit der EU durch die wirtschaftliche Kooperation mit China und Indien ersetzt hat, lässt zudem vermuten, dass es vor dem direkten militärischen Eingreifen in der Ukraine Absprachen zwischen Moskau, Peking und Neu-Delhi gegeben haben muss.

Deutlich lieber hätten die geostrategischen Drahtzieher in den USA es sicherlich gesehen, wenn die russische Armee den Konflikt in der Ukraine verloren hätte und die russische Wirtschaft aufgrund der westlichen Sanktionen zusammengebrochen wäre. Das hätte zu innenpolitischen Spannungen in Russland sowie zu einem Regierungswechsel führen können. Ähnlich wie nach dem Ende des Kalten Krieges, als Russlands Wirtschaft am Boden lag, hätte die US-Führung mit einer neuen, westlichen Investitionen gegenüber aufgeschlossenen Regierung in Moskau Abkommen zur Ausbeutung der Ressourcen des Landes treffen können. Mit dem Zugriff auf russische Bodenschätze hätten die USA sowohl ihre europäischen „Partner“ als auch China – ein weiterer Mitbewerber um die wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt – in Schach halten können.

Offensichtlich ist dieses Kalkül nicht aufgegangen. Der derzeitige Taktikwechsel der USA erfolgt ganz nach dem englischen Sprichwort „If you can’t beat them, join them“ – wenn ein Gegner zu stark ist, um ihn zu besiegen, dann verbünde dich mit ihm. Das kaum zu übersehende Ziel dieser Wendung ist es, in erster Linie einen Keil zwischen die stark gewachsenen wirtschaftlichen Beziehungen Russlands mit China zu treiben. Dazu passt auch, dass die USA exorbitante Einfuhrzölle auf chinesische Produkte erheben, jedoch keine auf russische. Geht es den Vereinigten Staaten weiterhin darum, eine wirtschaftliche und militärische Supermacht auf dem Eurasischen Kontinent zu verhindern, dann gilt es, das im BRICS-Zusammenschluss formalisierte Bündnis zwischen China, Russland, Indien und weiteren Staaten auf der größten zusammenhängenden Landmasse der Welt aufzuspalten.

Die USA haben Europa strategisch vollkommen ausmanövriert

Ein ähnlicher Wechsel der außenpolitischen Ausrichtung erscheint derzeit innerhalb der EU weit entfernt. Hierzu bedürfte es eines umfassenden und konfliktbehafteten Politikwechsels in den europäischen Machtzentren sowie der Bereitschaft Russlands, sich noch einmal auf die wechselhaften und von den USA leicht zu manipulierenden politischen Ziele seiner westlichen Nachbarn einzulassen. Zudem haben sich viele europäische Staaten von US-Gaslieferungen abhängig gemacht und – wie in Deutschland – umstrittene LNG-Terminals errichtet. Ein abrupter Wechsel unter den jetzigen politischen Verantwortlichen würde die von ihnen verbreiteten Narrative der vergangenen Jahre – von der Verteufelung Russlands bis zur Glorifizierung der „regelbasierten internationalen Ordnung“ – unglaubwürdig machen und der Opposition dagegen Auftrieb verleihen.

Die größtenteils von den USA übernommenen Erklärungsmuster haben bereits aufgrund einer weitreichenden politischen und medialen Aufklärung abseits des Mainstreams an Überzeugungskraft verloren. Die russische Einmischung in die westliche Politik basiert fast ausschließlich auf Spekulationen, die an vielen Stellen widerlegt wurden. Die „regelbasierte internationale Ordnung“ ist wiederum nichts anderes als eine rechtliche Fiktion, um Pflichten wie das Friedensgebot, die sich aus internationalen Verträgen wie der UN-Charta ergeben, öffentlichkeitswirksam zu umgehen. Der gesamte moralische Unterbau westlicher Außenpolitik erscheint dadurch zu Recht ausgehöhlt.

Dass viele europäische Entscheidungsträger in politischen Schlüsselpositionen das einfache amerikanische Prinzip von Teilen und Herrschen auf dem Eurasischen Kontinent nicht durchschauen oder sich damit zugunsten ihrer politischen Karriere arrangiert haben, lässt sich nur mit dem immensen politischen, wirtschaftlichen, medialen und kulturellen Einfluss der USA in Europa erklären. Anders ist nicht zu verstehen, warum sie Industrieländer wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien, die auf günstige Energielieferungen aus dem Ausland angewiesen sind, von einem ihrer wichtigsten Lieferanten getrennt haben und die physische Unterbrechung der Lieferungen, die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, nicht aufklären. Die vorgeschobenen Gründe verblassen angesichts der vielen Völkerrechtsbrüche der USA, die zu keiner einzigen Sanktion geführt haben.

Stattdessen treten die Verantwortlichen die Flucht nach vorn an und lassen mit der bereitwilligen Unterstützung regierungsnaher Medien keine Gelegenheit aus, die alten Narrative aufrechtzuerhalten, einen bevorstehenden Angriff Russlands auf weitere europäische Länder zu behaupten und zusätzlich die neue US-Regierung anzugreifen. Wenn dahinter überhaupt eine Strategie zu erkennen ist, dann ist es aus Sicht des Mitherausgebers des Overton-Magazins und ehemaligen Chefredakteurs von Telepolis das Bestreben, die Einheit der EU zu zementieren und eine größere Unabhängigkeit von den USA voranzutreiben. Der geopolitische Analyst Alexander Mercouris erkennt dahinter den Versuch, Großbritannien wieder in die europäische Staatengemeinschaft aufzunehmen. Der Schweizer Jacques Baud, ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter seines Landes, stellt fest, dass Europa weder eine einheitliche Strategie noch ein gemeinsames Ziel verfolgt, um seinem schwindenden Einfluss in der Welt Einhalt zu gebieten.

Zudem erfüllen die mächtigsten EU-Staaten mit ihren massiven Rüstungsvorhaben und einer möglichen Wiedereinführung der Wehrpflicht weitere Forderungen der USA: eine Erhöhung der Rüstungsausgaben auf bis zu fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts sowie eine eigenständige europäische Verteidigungsfähigkeit. In den Vereinigten Staaten wird bereits darüber diskutiert, US-Truppen aus Europa abzuziehen. Statt sich für ein friedliches Ende des Konflikts in der Ukraine einzusetzen, was vorrangiges Interesse europäischer Staaten sein sollte, scheinen die politischen und medialen Meinungsführer sich im eigenen Propagandawald verlaufen zu haben.

Wie geht es auf kurze Sicht weiter?

Derzeit zeichnen sich vier mögliche Szenarien ab:

  1. Es kommt zu einem dauerhaften Waffenstillstand mit einer eingefrorenen Front sowie zu Friedensverhandlungen. Die kriegswilligen europäischen Staaten warnen weiterhin vor einem russischen Angriff auf andere Länder Europas, rüsten massiv auf und führen die Wehrpflicht wieder ein.
  2. Die US-Regierung deklariert den Krieg in der Ukraine als Fehler der Vorgängerregierung und nutzt die misslungenen Friedensbemühungen, um aus dem Konflikt auszusteigen. Ein zukünftiger deutscher Bundeskanzler Friedrich Merz macht einen weiteren Rückzieher und liefert die Taurus-Marschflugkörper nicht an die Ukraine. Großbritannien, Frankreich und andere „willige“ Länder entsenden keine Truppen in die Ukraine. Europa rüstet trotzdem auf.
  3. Die USA steigen nach misslungenen Friedensbemühungen aus, die Koalition der Willigen eskaliert den Krieg in der Ukraine jedoch. Die ersten in der Ukraine getöteten britischen und französischen Soldaten werden zum Anlass genommen, in eine Kriegswirtschaft einzusteigen.
  4. Die US-Regierung reagiert auf die misslungenen Friedensbemühungen in der Ukraine, indem sie weiter den Krieg gegen Russland gemeinsam mit den meisten europäischen Ländern unterstützt.

Das erste Szenario erscheint aktuell als das wahrscheinlichste, das vierte als das unwahrscheinlichste, glaubt man den Aussagen von Donald Trump zum Stand der Verhandlungen sowie seinen Äußerungen zur Verantwortung der Biden-Regierung für den Krieg und zur Friedensbereitschaft der Ukraine. Das Zweite und Dritte ist jeweils gleichermaßen nicht unwahrscheinlich. Es ist schwer zu sagen, ob die europäischen Länder bisher mit der Entsendung von eigenen Truppen nur hoch gepokert haben oder nicht. Für den Einsatz der Truppen spricht, dass man die europäische Aufrüstung der eigenen Bevölkerung besser verkaufen kann, wenn die Soldaten von der russischen Armee angegriffen werden und es zu Opfern kommt. Dagegen spricht, dass die Truppen höchstwahrscheinlich nicht kriegsentscheidend sein werden und Russland seine Verbündeten wie Nordkorea auch um Unterstützung bitten könnte.

Selbstverständlich sind auch Nuancen zwischen den Szenarien möglich. Auffällig ist jedoch, dass bei keinem eine Entspannung zwischen der Mehrheit der europäischen Staaten und Russland in Aussicht steht. Dass es zu einer europäischen Aufrüstung kommt und damit möglicherweise zu weiteren Spannungen oder einem eventuellen Wiederaufflammen des Krieges in der Ukraine, erscheint derzeit am wahrscheinlichsten.

Wäre eine andere Politik Europas möglich gewesen?

Die europäischen Staaten hatten nach dem Ende des Kalten Krieges durchaus die Wahl, eine europäische Sicherheitsarchitektur gemeinsam mit Russland aufzubauen, anstatt die NATO-Osterweiterung voranzutreiben. In der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die 1995 aus der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hervorgegangen ist, waren neben allen europäischen Staaten auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die Vereinigten Staaten und Kanada vertreten. Doch anstatt sich mithilfe dieses Gremiums auf eine dauerhafte friedliche Koexistenz mit Russland zu konzentrieren, sind die europäischen Staaten zweigleisig gefahren. Sie haben einerseits die wirtschaftliche Kooperation mit Russland ausgebaut und andererseits die NATO bis an die Grenzen Russlands erweitert.

Statt sich aus den Völkerrechtsbrüchen der USA seit 1999 herauszuhalten, haben sie diese größtenteils bereitwillig unterstützt – und damit auch gegen die Interessen Russlands gehandelt. Statt sich an die UN-Charta zu halten, die auch von der Sowjetunion, deren Nachfolger Russland ist, unterzeichnet wurde, haben sie ihre Handlungen mit dem Befolgen der „regelbasierten internationalen Ordnung“ gerechtfertigt. Der Begriff steht unter anderem für eine Weltordnung unter der Führung der USA.

Mit den Erfolgen Russlands auf den Schlachtfeldern der Ukraine, mit dem Widerstehen der russischen Wirtschaft gegen die westlichen Sanktionen bei gleichzeitigen Wirtschaftseinbußen im Westen sowie mit dem Politikwechsel in den USA stehen die politischen Entscheidungsträger in den Machtzentren Europas nun vor dem Scherbenhaufen einer verfehlten Politik. Es rächt sich nun, nicht eine eigenständige europäische Sicherheitspolitik betrieben zu haben, sondern auch stets die geopolitischen Interessen der USA befriedigt zu haben. Es ist schwer vorstellbar, wie ein Politikwechsel in Deutschland, Frankreich und Großbritannien ohne ein Ablösen der etablierten Parteien von der Macht vonstatten gehen soll. Der designierte neue deutsche Außenminister Johann Wadephul (CDU) hat in einem Telefonstreich seine Haltung zum großen Nachbarn im Osten preisgegeben:

„Russland wird immer ein Feind für uns bleiben, wie immer auch der Krieg in der Ukraine enden möge.“

Schlussbemerkung

Die in diesem Beitrag angestellten Analysen und Überlegungen dienen dazu, rationale Erklärungen für die Verhaltensweisen von Regierungen und überstaatliche Institutionen zu finden. Sie sollen ausdrücklich nicht dazu dienen, Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen öffentlich zu billigen, zu leugnen oder gröblich zu verharmlosen. Der Autor verurteilt sämtliche Völkerrechtsbrüche und Kriegsverbrechen, unabhängig davon, ob sie von Russland, der Ukraine, den USA, Deutschland oder anderen Staaten begangen werden. Krieg ist ein Versagen der Diplomatie und sollte aus Sicht des Autors niemals ein Mittel zur Durchsetzung politischer Interessen sein.

Titelbild: Rokas Tenys/shutterstock.com

Die NachDenkSeiten sind für eine kritische Meinungsbildung wichtig, das sagen uns sehr, sehr viele - aber sie kosten auch Geld und deshalb bitten wir Sie, liebe Leser, um Ihre Unterstützung.
Herzlichen Dank!