Das Scheitern der Supermacht USA heute vor 50 Jahren in Vietnam wird rückblickend als der letzte Triumph des Kommunismus im 20. Jahrhundert bezeichnet. Viel eher stellt dieses Ereignis aber den Beginn einer Reihe des Scheiterns geostrategischer Entwürfe Washingtons dar, die von Saigon 1975 über Kabul 2021 bis nach Kiew in der Gegenwart führen. Von Ramon Schack.
Am 30. April vor einem halben Jahrhundert nahmen nordvietnamesische Truppen Saigon ein. Die Eroberung der Hauptstadt Südvietnams markierte das offizielle Ende des 20 Jahre langen Krieges in dem südostasiatischen Land. Für die Vereinigten Staaten wurde Vietnam zum Debakel, nicht nur auf militärischer Ebene. Das Image der Supermacht, die nach dem Zweiten Weltkrieg einen phänomenalen Aufstieg erlebt hatte, nahm erheblichen Schaden. „Alle auf die Straße, rot ist der Mai! Alle auf die Straße, Saigon ist frei!” riefen damals die Studenten der überschätzen 68er-Bewegung in Westberlin und Frankfurt am Main, von denen heute viele als saturierte Politstrategen kriegstreiberisch agieren.
Flucht aus Saigon
Die Bilder der Flucht aus Saigon machten das Ende April 1975 noch einmal deutlich. Auch nach einem halben Jahrhundert liegen die Schatten des Krieges noch immer über dem Land.
Weiße Weihnachten im April, flankiert von tropischer Hitze – dass in der Früh des 29. April 1975 im US-Militärradio in Vietnam das Lied „White Christmas“ lief, war nicht der Tollpatschigkeit eines Radio-DJ geschuldet. Zusammen mit der Ankündigung, dass die Temperatur auf 105 Grad Fahrenheit (also rund 40 Grad Celsius) gestiegen sei, signalisierte der Weihnachtshit den letzten in Saigon verbliebenen US-Bürgerinnen und -Bürgern, dass die finale Phase der Flucht begonnen hatte.
Unentwegt kreisten US-Hubschrauber in den kommenden Stunden zwischen Saigon und US-Schiffen vor der vietnamesischen Küste hin und her, häufig völlig überladen, denn in dramatischen Aktionen hatten sich auch zahlreiche vietnamesische Zivilistinnen und Zivilisten Zugang zu den Helikoptern verschafft.
Kurz vor 8:00 Uhr flog am 30. April der letzte Hubschrauber von der US-Botschaft ab, und nur dreieinhalb Stunden später erreichten nordvietnamesische Panzer den Präsidentenpalast in Saigon. Das Bild, welches aber den stärksten Eindruck hinterließ, entstand noch einmal drei Stunden später. Ein Hubschrauber sollte den stellvertretenden CIA-Chef in Saigon vom Dach eines Gebäudes im Zentrum der Stadt ausfliegen, doch zahlreiche weitere Menschen versuchten ebenfalls, an Bord zu gelangen – nur wenige schafften es. Das Foto wurde zum Sinnbild der US-Niederlage in Vietnam, wie 46 Jahre später die Flucht der US-Truppen aus Kabul.
Schon früh Kriegsverbrechen in Vietnam
Zu Beginn der 1960er-Jahre entsandte Washington Tausende Militärberater in das geteilte Land, wo der kommunistische Norden und der zunehmend in Totalitarismus abgleitende Süden in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt waren. Die damalige US-Vertretung propagierte die These, dass ein kommunistischer Sieg in Indochina gemäß der Domino-Theorie ganz Asien nach links kippen lassen würde. Gemeinsam mit Flugzeugen Südvietnams versprühten US-Bomber dioxinhaltige Herbizide über Südvietnam und den Grenzgebieten von Laos und Kambodscha. Die Entlaubungsmittel – darunter das berüchtigte Agent Orange – sollten den Guerillatruppen des Vietkong Deckung und Nahrung rauben und den Rückhalt in der Landbevölkerung treffen.
Die Verwendung hochgiftiger Chemikalien wurde von US-Präsident John F. Kennedy eingeleitet, sein Nachfolger Lyndon B. Johnson intensivierte die chemische Kriegsführung noch einmal. Unter Johnsons Regime traten die USA auch offen in den Krieg ein. Nach dem vorgeblichen Angriff nordvietnamesischer Torpedoboote auf US-Kriegsschiffe, was inzwischen als eine False-Flag-Operation entlarvt wurde, gab der US-Kongress dem Präsidenten im August 1964 grünes Licht zum Kriegseintritt gegen Nordvietnam, obschon die offizielle Kriegserklärung ausblieb.
Trügerische militärische Stärke
Die USA überzogen Nordvietnam mit beispiellosen Luftangriffen, bei denen nach Schätzungen bis zu sieben Millionen Tonnen Bombenmunition abgeworfen wurden – rund dreimal so viel wie im gesamten Zweiten Weltkrieg. Zugleich wurden immer mehr US-Soldaten nach Vietnam entsandt. 1968 waren es rund eine halbe Million US-Amerikaner. Trotz der erdrückenden militärischen Überlegenheit blieb der endgültige Erfolg aus. Doch nicht nur die Front in Vietnam bröckelte, auch in der Heimatfront und vor allem unter der Jugend des Westens brach die Zustimmung zusammen. Den USA wurde die Medienberichterstattung zum Verhängnis, indem brennende Kinder und sterbende GIs das Trugbild eines sauberen Krieges widerlegten – welches heute wieder von vielen Kriegsrhetorikern geteilt wird. Aus diesem Fehler haben die Strategen gelernt und die Medienberichterstattung zukünftiger Kriege manipuliert.
1972 erschütterte das Foto der neunjährigen Kim Phuc die Welt, die bei einem Angriff mit Napalm schwere Verbrennungen erlitten hatte. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als die USA bereits im Absprung begriffen waren. Der Konflikt sollte wieder „vietnamisiert“ werden. Auch hier sind Parallelen zur Gegenwart erkennbar – in Afghanistan, aber auch in der Ukraine.
Noch 1968 hatte US-Außenminister Henry Kissinger getönt, er weigere sich, zu glauben, „dass eine viertklassige Macht wie Nordvietnam nicht an irgendeinem Punkt aufgeben muss“. Er wurde eines Besseren belehrt.
US-Flucht mit Waffenstillstand
Das Abkommen wurde im Januar 1973 unterzeichnet. Die US-Armee verpflichtete sich, sich innerhalb von 60 Tagen aus Vietnam zurückzuziehen, während gleichzeitig Nordvietnam alle US-Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft zu entlassen garantierte. Kissinger und der nordvietnamesische Unterhändler Le Duc Tho bekamen noch im selben Jahr den Friedensnobelpreis zugesprochen. Kissinger nahm ihn an, während Le Duc Tho ihn ablehnte. Es sei kein Friede erreicht, so seine Begründung.
Öfter wurde der Waffenstillstand gebrochen, während der inzwischen diktatorisch regierende südvietnamesische Präsident Nguyen Van Thieu sukzessive an Rückhalt verlor. Anfang März 1975 begannen nordvietnamesische Truppen gemeinsam mit dem Vietcong [Anm. d. Red.: Kurzbezeichnung für die Nationale Front zur Befreiung Vietnams] dann die finale Offensive rund 300 Kilometer nordöstlich von Saigon. Der Vorstoß wurde zum Triumphzug, denn mit dem Fall Saigons am 30. April 1975 ging die Kapitulation Südvietnams einher. 1976 wurde Vietnam dann offiziell unter einer kommunistischen Regierung wiedervereinigt. Hanoi wurde die Hauptstadt, Saigon in Ho-Chi-Minh-Stadt umbenannt.
Folgen bis heute
Für die USA wurde der Vietnam-Krieg zu einer der großen Niederlagen in der Geschichte des Landes. Über 58.000 US-Soldaten starben im Einsatz. Viele der Rückkehrer litten unter posttraumatischen Belastungsstörungen. Das Bild USA hatte tiefe Kratzer bekommen. Die Folgen für Vietnam wogen schwerer. Die Zahl der Kriegsopfer auf vietnamesischer Seite wird auf 1,3 bis drei Millionen Menschen geschätzt. Bis heute leiden Millionen an den Spätfolgen des Krieges, darunter von Dioxin verursachte Krebserkrankungen. Noch immer kommen Kinder mit Missbildungen auf die Welt.
Zögerliche Verantwortung
Es sollte Jahrzehnte dauern, bis die USA Verantwortung für die Kriegsschäden übernahmen, dies aber auch nur zögerlich. Zu Beginn dieses Jahrhunderts beteiligte sich Washington finanziell an den Versuchen, dioxinverseuchte Landstriche wiederherzustellen. Dadurch erwuchs auch ein Neubeginn der Beziehungen zwischen den USA und Vietnam. Doch der Machtwechsel in Washington macht diese wieder zunichte. China und Vietnam vertiefen inmitten des Handelskriegs mit den USA ihre Beziehungen. Während eines Besuchs von Präsident Xi Jinping in der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi am 14. April wurden 45 bilaterale Kooperationsvereinbarungen unterzeichnet. Die Erzfeindschaft zwischen den beiden Nachbarstaaten, welche 1979 in einen offenen Krieg mündete, scheint sich abzuschwächen. Bereits seit einigen Jahren sind China und Vietnam unter der Führung ihrer jeweiligen kommunistischen Partei wirtschaftlich auf der Überholspur. Vietnam wird sich seiner geographischen Lage bewusst und nicht mehr Spielball fremder Mächte sein, wie es neulich ein vietnamesischer Diplomat formuliert hatte.
Titelbild: Zurückgelassenes und erobertes US-amerikanische Militärgerät im Vietnam War Remants Museum in Ho-Chi-Minh-Stadt – Quelle: Shutterstock / Mark Green