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Titel: Quo vadis Deutschland? Runder Tisch von Deutschen und Russen im Moskauer Europa-Institut
Datum: 2. Juli 2025 um 11:17 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
Verantwortlich: Redaktion
Wer glaubt, in Russland würde nur mit Drohungen und roten Linien gearbeitet, hätte am 16. Juni beim Runden Tisch „Quo vadis Deutschland?“ dabei sein müssen. Tagungsort war das nicht weit vom Kreml gelegene Europa-Institut. Die etwa 60 Teilnehmer gingen der Frage nach, wie die Blockade zwischen Deutschland und Russland aufzulösen ist. Gekommen waren Mitarbeiter des Instituts, ehemalige russische Diplomaten, die mit Deutschland zu tun hatten, Mitglieder der Moskauer Deutsch-Russischen-Gesellschaft und Deutsche, die in Moskau leben oder aus Deutschland angereist waren. Die Diskussion war teilweise hitzig. Sie zeigte aber auch, dass sich Deutsche und Russen immer noch produktiv austauschen können. Ein Bericht von Ulrich Heyden (Moskau).
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Wie schön war es für mich, als in Moskau lebender Deutscher, im Zentrum von Moskau die deutsche Sprache zu hören! Es waren nicht nur Deutsche, die in ihrer Muttersprache redeten, die dann ins Russische übersetzt wurde. Unter den Teilnehmern waren auch viele Russen mit sehr guten Deutschkenntnissen, wie etwa der Versammlungsleiter Wladislaw Below, der nicht nur fließend Deutsch sprach, sondern mehrmals auf Deutsch ironische Bemerkungen machte, etwa als er sagte, „wir haben das SPD-Friedensmanifest nicht bestellt“. Ein Video der Veranstaltung findet sich unter diesem Link.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung sprach Below über die rasant gestiegene Zahl der Unterstützer des Manifestes. Er habe gerade mit Matthias Platzek telefoniert und der habe ihm die Zahl von 8.000 Unterstützern durchgegeben. Die Art, wie Below über das Friedensmanifest berichtete, machte deutlich, dass das Manifest für ihn ein Hoffnungsschimmer in schlimmen Zeiten ist. (Anmerkung der Redaktion: Eine Petition zur Unterstützung des SPD-Manifestes kann unter diesem Link unterzeichnet werden, aktuell sind es fast 17.000 Unterzeichner.)
Noch einmal brachte Below eine ironische Bemerkung. Er sprach von den vielen Mauersteinen, die sich in Deutschland am Ende des Zweiten Weltkrieges angesammelt hatten. Dann zitierte er aus der DDR-Nationalhymne, „auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ und führte aus, auch heute gehe es darum, aus Steinen die Zukunft zu bauen. Mit dem Gleichnis spielte Below auf die von Berlin komplett zerschlagenen deutsch-russischen Beziehungen an.
Man muss wissen: Wladislaw Below ist im Moskauer Europa-Institut Leiter des Zentrums für Deutschland-Forschungen. Vor 2022 war er ein oft zitierter Experte in deutschen Mainstream-Medien. Von ihm – dem Wissenschaftler – erwartete ich auf der Konferenz keine harten Worte. Von seinen ironischen Bemerkungen war ich angenehm überrascht.
Der Verlust der Vernunft
Den ersten längeren Vortrag auf der Konferenz hielt der bekannte deutsche Journalist und Publizist Patrik Baab. Er pflegt in seinen Büchern einen journalistischen Stil, reichert diesen aber immer mit wissenschaftlichen Hintergrundinformationen an.
Seinen Vortrag begann Baab mit der Anrede „Magnifizenzen, Nobiles, Kommilitonen“. Über das Gesicht des Versammlungsleiters huschte ein Lächeln, denn solch eine Anrede gab es in dem Saal wohl das erste Mal.
Was dann folgte, war keine trocken-wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine scharfzüngige Abrechnung mit der Politik der deutschen Bundesregierung.
Zu Beginn seiner Rede sprach Baab über die Repression. 40 Jahre lang hat er als Fernsehjournalist gearbeitet. Da lernte er den Gebrauch von Bildern. Er baut sie heute in seine Texte und Reden ein.
Baab erinnerte an die Herrschaft des römischen Kaisers Nero, der im Jahre 64 – während der Christenverfolgung – Kritiker des niedergehenden Imperiums als lebendige Fackeln verbrennen ließ.
Ein Zeitzeuge habe berichtet, dass der Brand von Rom von Kaiser Nero selbst in Auftrag gegeben wurde. Ähnliches geschehe heute in Deutschland. Es würden zwar noch keine Scheiterhaufen brennen, aber Blogger wie Thomas Röper und Alina Lipp wären faktisch ausgebürgert worden, weil sie seit 2014 auch über die Sichtweise von Russen auf den Ukraine-Krieg berichten.
Den zweiten Hauptvortrag hielt die deutsche Professorin Ulrike Guérot. Sie beklagte, dass in Deutschland die Vernunft abhanden gekommen ist. Die Professorin schwärmte von ihrer Zeit als Studentin an einer französischen Uni, Fachbereich Slawistik. Damals, so berichtete sie, habe man die Texte der Sowjetführer noch sehr genau analysiert. Die Sowjetunion galt damals zwar als Gegner, wurde aber sehr ernst genommen. Ganz anders sei es heute, wo sich die politische Elite in Deutschland nicht mehr mit den Texten russischer Politiker und Wissenschaftler beschäftigt, sondern blind den eigenen Stiefel durchzieht, komme was wolle. Die Vernunft sei abhanden gekommen.
Repression, Faschisierung, Donbass-Republiken
Nach den Einleitungsreferaten von Baab und Guérot begann die Diskussion. Sie wurde hitzig, als Liane Kilinc vom Verein Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe, einwarf, die Rolle Deutschlands bei der Faschisierung in der EU sei größer, als von Guérot dargestellt. Von der Leyen sei nicht gewählt worden. Deutschland spiele eine führende Rolle bei der Einstufung der Volksrepubliken im Donbass als „terroristische Vereinigungen“. Das sei „Faschismus“. Humanitäre Hilfe für den Donbass werde „kriminalisiert“. Das sei eine Vorbereitung auf einen „Marsch nach Osten“. Was russophobe Maßnahmen betrifft, wie das Verbot von russischen Fahnen, sei Deutschland „Vorreiter“ in Europa.
Guérot wandte ein, es sei „wichtig, den Begriff der Faschisierung zu benutzen“. Die Faschisierung werde aber von „Amerika“ und nicht von Deutschland vorangetrieben. Darauf meinte Kilinc, der ukrainische Hitler-Kollaborateur Stepan Bandera habe nach dem Zweiten Weltkrieg in München gelebt, wo er seine politische Arbeit mit finanzieller Unterstützung fortsetzen konnte. Im deutschen Bundestag säßen heute „Nachfahren der Nazis“.
Darüber bräuchte man „nicht zu streiten“, entgegnete Guérot. Es gäbe in Deutschland seit 80 Jahren ein übergeordnetes Bild, „wo Sozialismus und Faschismus gegenübergestellt werden“. Was Guérot damit genau ausdrücken wollte, blieb unklar. Sie erklärte, sie müsse ihre Gedanken zu dieser Frage erst noch ordnen.
Der Autor dieses Artikels berichtete auf der Veranstaltung über seine Erfahrungen mit Geschichtsfälschung. Ein zunächst vom Büroleiter des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge in Moskau zugesagtes Interview über die deutsche Kriegsgräberfürsorge in Russland sei abgesetzt worden, weil der Büroleiter offenbar Druck von seinem Vorstand bekommen hatte. Es sei auffällig, dass der Volksbund in seiner Öffentlichkeitsarbeit kaum noch über die Gräber der 3,8 Millionen Wehrmachtssoldaten, die an der Ostfront gefallen sind, berichte. Das passe zu dem Narrativ, „dass die Amerikaner uns befreit haben“.
Was tun?
Nach den längeren Vorträgen begann eine Diskussion, in der folgende Positionen geäußert wurden:
Ulrike Guérot meinte, die Bürger Europas seien mehrheitlich „gegen den Krieg“. Aber dieser Wille komme nicht zum Tragen, weil er von EU, NATO, Gafa (die großen Digitalkonzerne) und dem großen Geld „absorbiert“ werde.
Der Begriff des Nationalstaates, über den die EU organisiert ist, führe „in die gedankliche Enge“, denn in den Nationalstaaten gäbe es „verschiedene Volksstämme“, wie in Deutschland die Sorben, die Rheinländer und die Sachsen und in Frankreich die Korsen. „Wir müssen über die politische Zukunft Europas nachdenken, nicht in Begriffen von Volk und Nation, sondern in Begriffen der Neutralität. Europa muss neutral und föderal sein, in Vielfalt vereint.“
Patrik Baab erklärte, das herrschende Parteienkartell aus CDU, SPD, FDP und Grünen stehe „dem Faschismus näher als etwa die AfD oder das Bündnis Sahra Wagenknecht“. Dennoch gäbe es Unterschiede zum Hitler-Faschismus. Heute gäbe es „keine faschistische Massenbewegung wie die SA“. Die Bevölkerung werde „durch andere Herrschaftstechniken eingeschläfert“. Es gäbe eine „Meinungslenkung durch Internetkonzerne und Geheimdienste“. Die akademischen Eliten spielten dabei eine „unrühmliche Rolle als Träger von Propaganda und Zensur“. Die „einzige Hoffnung“ sei, „dass aus einem Land ohne Opposition ein Land wird, das den Protest auf die Straße trägt“. Die Propagandapresse müsste mit alternativen Medien „umgangen“ werden. „Wir müssen Solidarität neu lernen.“ Baab zitierte Schiller mit den Worten, „die Sonnen scheinen uns nicht mehr, fortan muss eigenes Feuer uns erleuchten“.
Andrea Gebauer, die Mitte der 1990er-Jahre Büroleiterin des damals neugegründeten Verbandes der deutschen Wirtschaft in Russland wurde, berichtete, sie sei „als Deutsche in Russland kein einziges Mal angegriffen worden“, ungeachtet dessen, „was die Deutschen im Zweiten Weltkrieg in Russland angerichtet haben“. Von russischer Seite sei „eine große Versöhnungsleistung erbracht worden, die leider niemals in entsprechender Weise gewürdigt worden ist“.
Heute werde in Bezug auf Russland ein neues Feindbild aufgebaut. „Ich appelliere an alle, besonders an die jungen Leute hier: Verlieren Sie nicht den Mut. Setzen Sie sich dafür ein, dass es den Austausch auch in Zukunft gibt, auch wenn er heute schwer ist.“ Im Rahmen des Deutsch-Russischen Forums werde man „alles tun, um diesen Dialog fortzusetzen, wenn auch in begrenztem Rahmen“.
Isabell Casel, Friedensaktivistin vom „Runden Tisch Bonn“, die sich auch im European Peace Project engagiert, erklärte, die Europäische Union zerstöre sich gerade selbst, „aber die europäische Integration darf nicht sterben. Ich fühle mich als Europäerin vereint mit Russen, Belarussen, Slowaken und frage, wie wir das düstere Bild abwenden können.“ Auf der Seite der EU-Kommission sehe sie „eine große Irrationalität, aber glücklicherweise gibt es Rationalität auf russischer Seite“.
Olga Sinowjewa, Ehrenpräsidentin der Deutsch-Russischen Gesellschaft und Ehefrau des verstorbenen russischen Philosophen und Dissidenten Aleksandr Sinowjew zitierte ihren Mann mit den Worten, „die Menschheit wird an ihrer eigenen Dummheit zugrunde gehen“. Sinjowjewa führte weiter aus, die Worte ihres Mannes seien „ein Aufruf, zusammenzukommen und die lichten Worte von Freiheit, Liebe und Gleichheit ins Bewusstsein zu rufen, für den Frieden und die Vernunft einzutreten“.
Wladimir Grinin, der von 2010 bis 2018 Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland war, äußerte sich in einem Schlusswort voller Hoffnung:
„Wir haben über das gesprochen, was uns bewegt. Manchmal kommen wir zu völlig anderen Schlussfolgerungen. Wenn wir unsere Arbeit in der Deutsch-Russischen Gesellschaft fortsetzen, werden wir ein wunderbares Verständnis finden. Wir sollten uns an die 600 Jahre der Kontakte zwischen Russen und Deutschen erinnern. Wenn wir Schlüsse ziehen und daran denken, was uns zueinander zieht, werden wir einen Ausweg aus der heutigen Situation finden.“
Diese Worte passten zu dem phantastischen Wetter, dass am 16. Juni in Moskau herrschte. Die Sonne schien und die Fassaden der alten Häuser im Stadtzentrum, die schon viel erlebt hatten, schienen noch schöner und ehrwürdiger als sonst, so als wollten sie die Worte von Grinin mit einem stummen Nicken unterstreichen.
Titelbild: © Ulrich Heyden
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