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Titel: Letzte Hoffnung UN-Charta – Ein Appell für Frieden und Neutralität

Datum: 4. Juli 2025 um 14:30 Uhr
Rubrik: Aufrüstung, Friedenspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
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„Warum sind wir so verrückt auf Krieg?“ Diese Frage stand im Zentrum einer Veranstaltung in Berlin zum 80. Jubiläum der UN-Charta. Sevim Dagdelen, Außenpolitikerin des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), und EU-Parlamentarier Michael von der Schulenburg (für das BSW) warnten vor den Folgen der Aufrüstungsspirale. Sie forderten eine Rückbesinnung auf die diplomatischen Kernprinzipien der Charta – als einzig wirksamen Schutz vor atomarer Bedrohung und gesellschaftlichem Zerfall. Ein Bericht von Éva Péli.

„Wir sind so kriegsbegeistert.“ Das stellte Michael von der Schulenburg, parteiloser Abgeordneter des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) im Europaparlament und ehemaliger Chef-Diplomat der Vereinten Nationen, Ende Juni bei einer Veranstaltung in Berlin kopfschüttelnd fest. Er plädierte eindringlich für eine Rückbesinnung auf die UN-Charta. Für ihn ist dieses Dokument, das er aus 30 Jahren Erfahrung in Kriegs- und Krisenländern als „ausgesprochen lebenswichtig“ kennengelernt hat, die einzige Grundlage für eine Friedenspolitik.

Von der Schulenburg betonte, dass die UN-Charta vor 80 Jahren aus der tiefen Erschütterung zweier Weltkriege entstanden sei, die innerhalb von 30 Jahren „irrsinniges Morden“ und „80 Millionen Tote“ forderten. Die 50 Gründungsnationen hätten ein „sehr radikales Dokument“ geschaffen, so seine Einschätzung, das wir heute kaum mehr schreiben könnten. Es sei der Versuch gewesen, die Forderung „Nie wieder Krieg!“ umzusetzen.

Martin Hantke, Koordinator des BSW in Berlin-Mitte, eröffnete die Veranstaltung im Willy-Brandt-Saal des Rathauses von Berlin-Schöneberg mit einem klaren Statement gegen die aktuelle Kriegstreiberei. Er begrüßte die Redner, die „klare Kontrapunkte“ zum vorherrschenden „Kriegswahnsinn“ setzten. Denn, laut dem Motto der Veranstaltung: „Alle Zeichen stehen auf Sturm“.

Ex-UN-Diplomat von der Schulenburg mit 34 Jahren Erfahrung in Krisen- und Kriegsgebieten und die BSW-Politikerin Sevim Dagdelen sind sich einig: Die Welt steuert auf eine Katastrophe zu, und nur eine Rückkehr zu den Prinzipien der UN-Charta kann uns retten. Ihre Botschaften anlässlich des 80. Jahrestages der Charta sind ein Weckruf gegen die aktuelle Kriegslogik und eine leidenschaftliche Verteidigung der Diplomatie. Der dritte Redner war Reiner Braun, ein „Urgestein der Friedensbewegung“, der sich laut Hantke unermüdlich für die Einheit und Schlagkraft der Friedensbewegung einsetze und direkt aus Ramstein anreise – einem Ort, den der französische Intellektuelle Emmanuel Todd treffend als die „eigentliche Hauptstadt Deutschlands“ bezeichnet habe. Braun rief die etwa 400 Menschen im Raum auf, am 3. Oktober zu Friedensdemonstration zu kommen.

Der Moderator betonte die prophetische Aktualität des Veranstaltungstitels, der einige Wochen vor der jüngsten Eskalation, dem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Israels zu den USA gegen den Iran,“ gewählt wurde. Er kritisierte in diesem Zusammenhang scharf die Worte von Friedrich Merz, „dass Israel für uns die Drecksarbeit macht,“ als „wahnsinnige, verurteilungswerte Nazi-Aussage“.

Die Geburtsstunde der UN-Charta: „Nie wieder Krieg!“

Der Kern der Charta liege in der Bedeutung des „Wortes“: „zu reden, zu verhandeln, zu vermitteln, Schiedsgerichte anzusprechen.“ Selbst Artikel 51, das Recht auf Selbstverteidigung, sei nur als Nachgedanke hinzugefügt worden, stets verbunden mit der sofortigen Pflicht, eine friedliche Lösung durch Verhandlungen zu suchen. Für von der Schulenburg ist die Charta der Versuch zu sagen: „Leute, wir sind alle menschlich, wir können reden, wir können uns verstehen.“ Das Dokument sei 1945 eine Revolution gewesen, besonders im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht und die Gleichheit aller Menschen, selbst in Zeiten, in denen viele Gründungsstaaten noch von Apartheid geprägt waren. Er bezeichnete die Entstehung der Charta als „Sternstunde der Menschheit“.

In den aktuellen Fällen Ukraine-Krieg und Israels Angriff auf den Iran – beides Präventionskriege – sieht der Friedensdiplomat einen Völkerrechtsverstoß, machte aber den Unterschied deutlich, dass Russland immer wieder angeboten habe, zu verhandeln.

Die UN-Charta verpflichte alle ratifizierenden Staaten unmissverständlich dazu, Konflikte durch Verhandlungen zu lösen, erinnerte von der Schulenburg. Doch im Ukraine-Krieg scheint der Westen diese zentrale Verpflichtung außer Acht gelassen zu haben. Anstatt diplomatische Initiativen zur Beendigung des Konflikts voranzutreiben, bewirken die massiven Waffenlieferungen das Gegenteil. Andererseits habe Israel den Iran angegriffen, während die Verhandlungen noch nicht festgefahren waren. Als Ersten töteten sie den iranischen Verhandlungsführer, laut dem ehemaligen UN-Chefdiplomaten ein „schweres Verbrechen“.

Die Bedrohung durch die Atombombe und die Logik der Abschreckung

Nur 20 Tage nach der Unterzeichnung der Charta 1945 explodierte die erste Atombombe. Von der Schulenburg hob hervor, dass die Atombombe eine völlig andere Logik etablierte: Die Annahme, dass der Mensch schlecht sei, dass wir uns „bewaffnen müssen, dass wir stärker sein müssen als die anderen“. Diese Logik der „gegenseitig garantierten Vernichtung“ habe den Frieden des Kalten Krieges geprägt und führe bis heute dazu, dass Sicherheit durch „überhöhte Waffensysteme“ gesucht werde.

Der BSW-Parlamentarier kritisierte, dass die ehemals stabilisierenden Rüstungskontrollabkommen und vertrauensbildenden Maßnahmen, die eine „Brücke“ zwischen militärischer Stärke und Verhandlungswillen gebaut hätten, heute vom Westen nicht mehr genutzt würden. Die USA seien aus vielen Abkommen ausgetreten oder hätten sie nicht verlängert, was er als einen „Gewinn der militärischen Seite“ wertete, besonders unverständlich in einer Zeit nach dem Kalten Krieg, in der es „keine Gefahr gab“.

Die gefährliche Aufrüstungsspirale der NATO und ihre Folgen

Von der Schulenburg kritisierte scharf den jüngsten NATO-Beschluss, fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für Rüstung auszugeben, was einer Verdopplung der bereits exorbitanten Ausgaben gleichkäme. Schon heute machten die NATO-Staaten, die nur zehn Prozent der Weltbevölkerung stellen (hauptsächlich „weiße Leute“), 55 Prozent aller Militärausgaben aus. Dieser Drang zur „übermäßigen Bewaffnung“, um andere „klein zu halten,“ werde nun noch verstärkt. Er warnte, dass diese Aufrüstung, insbesondere im nuklearen Bereich, Russland keine andere Wahl lasse, als mit atomaren Mitteln zu reagieren. Die westliche Logik sei am Ende: „Wir müssen das irgendwie anders machen.“

Der Diplomat zeigte sich besorgt über die „Kriegshetze“ in Westeuropa, die im Gegensatz zu anderen Regionen stehe. Hier wies er auf die Aussage der Außenbeauftragten der EU, Kaja Kallas, hin, die die Notwendigkeit der Erhöhung der NATO-Ausgaben damit begründe, dass „die Russen aufrüsten, also wollen sie Krieg“. Bedeutet das, dass wir auch Krieg wollen, fragte von der Schulenburg? Er prangerte die „Kriegssprache“ in Deutschland an, das sei eine „alte Sprache“. Aussagen wie die von Außenminister Johann Wadephul (CDU), Russland werde „immer unser Feind sein,“ oder die Bezeichnung anderer Staaten als „Dreckskerle“ seien eine „unglaubliche Sprache,“ die uns an den Rand eines aktiven Krieges bringe. Doch Kriege seien „unberechenbar“, niemals „heldenhaft“ und führten selten zu den gewünschten Ergebnissen.

Militärische Interventionen schaffen Chaos, nicht Demokratie

Ein weiteres zentrales Argument von der Schulenburgs war die Unwirksamkeit militärischer Interventionen. Er verwies auf eine Studie des US-Kongresses, wonach die USA zwischen 1992 und 2022 251-mal militärisch in anderen Ländern interveniert hätten – eine Zahl, die Stellvertreterkriege nicht einmal berücksichtige. Doch diese Interventionen hätten „kein einziges Land“ hervorgebracht, in dem am Ende Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Wirtschaftswachstum entstanden seien. Stattdessen hätten sie „Chaos, Anarchie und Unglück“ sowie Millionen Tote und Flüchtlinge verursacht. Als Beispiel nannte er den Anti-Terror-Krieg, der 4,5 Millionen Tote und 38 Millionen Flüchtlinge gefordert habe – ein Drittel aller Flüchtlinge weltweit.

„Das sind wir. Und wir denken immer noch mit einer Selbstgerechtigkeit, dass wir das für das Gute der Welt tun. Das tun wir nicht“, so der langjährige Diplomat. Er warnte davor, dass die fortgesetzten militärischen Aktionen, wie der jüngste Angriff auf den Iran, zu einer gefährlichen atomaren Aufrüstung führen könnten, da sich Länder wie Saudi-Arabien oder die Türkei ebenfalls nuklear bewaffnen könnten.

Die Chance der Menschlichkeit: Zurück zur UN-Charta

Von der Schulenburg schloss mit einem Appell an die Menschlichkeit. Da die Waffen heute so gefährlich geworden seien – die Zukunft der Menschheit werde von der Künstlichen Intelligenz entschieden –, müsse die Menschheit wieder „zum Reden kommen.“ Er betonte, dass die Entscheidung zwischen einem atomaren Weg und einem friedlichen Miteinander in der Hand jedes Einzelnen liege.

Für den „engagierten Friedenskämpfer“, wie Moderator Hantke von der Schulenburg bezeichnete, ist die UN-Charta nicht nur ein Dokument, das Krieg verhindern will. Sie zeichne auch ein positives Bild davon, „wie wir miteinander friedlich leben sollten“. Er sieht keinen Ausweg, als „zurück zur UN-Charta zu gehen“. Er erinnerte daran, dass die Charta von 193 Ländern ratifiziert wurde und somit in fast allen Staaten Gesetz sei.

Fakt bleibe jedoch: Seit ihrer Verabschiedung vor 80 Jahren wurde die UN-Charta von keiner einzigen Nation oder Gruppe von Nationen so häufig verletzt wie von den Vereinigten Staaten und ihren westlichen Verbündeten. Die Beweise dafür finden sich in einer langen Reihe von Kriegen und Interventionen, von verdeckten Operationen bis hin zu unterstützten Putschen.

Sevim Dagdelen, ehemalige Linkspartei-Abgeordnete und jetzige Außenpolitikerin des BSW, hob insbesondere Artikel 2 der UN-Charta hervor, der die souveräne Gleichheit aller Mitgliedstaaten, die friedliche Beilegung internationaler Streitigkeiten und das Verbot der Androhung oder Anwendung von Gewalt vorschreibt. Für Dagdelen steht außer Frage, dass die Charta keine Waffenlieferungen vorsieht und dass sogenannte „Regime-Change-Pläne“ einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen. Sie kritisierte, dass die Prinzipien der Charta heute zunehmend ausgehöhlt würden und das Völkerrecht zu einem „Steinbruch“ verkommen sei.

NATO-Aufrüstung: Ein Angriff auf den Sozialstaat und ein Wettrüsten

Ein zentraler Kritikpunkt der Politikerin und Autorin des Buches „Die NATO. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis“ war die Rolle des westlichen Militärbündnisses. Sie verwies auf den jüngsten NATO-Gipfel in Den Haag, der die Verpflichtung der Mitgliedstaaten bekräftigte, fünf Prozent des BIP für Rüstung und Militär auszugeben. Dies bedeute eine enorme Steigerung der Militärausgaben auf voraussichtlich 2,7 Billionen US-Dollar bis 2035.

Dagdelen warnte eindringlich vor den Folgen dieser massiven Aufrüstung:

  • Sie bezeichnete sie als den „größten Angriff auf den Sozialstaat in Europa“ seit dem Zweiten Weltkrieg, da sie unweigerlich zu drastischen Kürzungen in Bereichen wie Rente, Gesundheit, Bildung und Infrastruktur führen werde.
  • Die Aufrüstung werde ein gefährliches Wettrüsten nach sich ziehen.
  • Die daraus resultierende Verschuldung werde künftige Generationen belasten und historische Sozialkürzungen zur Folge haben.

Sie entlarvte die Rechtfertigung der Aufrüstung durch den Verweis auf frühere Militärausgaben als „nostalgisch“ und „grundfalsch“, da die damaligen wirtschaftlichen Wachstumsraten und die Größe der NATO nicht mit der heutigen Situation vergleichbar seien.

Globale Machtverschiebungen und neokoloniale Dominanz

Dagdelen hob hervor, dass sich die Welt grundlegend verändert habe und die NATO in einer veralteten Denkweise verhaftet sei. Sie verwies auf den Aufstieg des Globalen Südens, insbesondere der BRICS-Staaten, die mittlerweile 40 Prozent des weltweiten BIP ausmachen, während die G7-Staaten nur noch 29 Prozent der Weltwirtschaft repräsentierten. Der Versuch, BRICS-Staaten von Schlüsseltechnologien abzuschneiden, sei zum Scheitern verurteilt, da China in vielen Bereichen weltweit führend sei. Die BSW-Politikerin formulierte die These, dass sich die NATO „zugrunde rüstet“.

Die Rednerin brandmarkte die NATO als neokoloniale Allianz, die anderen Staaten vorschreibe, was sie zu tun haben. Als Beispiel nannte sie den Umgang mit dem Iran, dem ein ziviles Atomprogramm verwehrt werde, während Atomwaffen in der Region bei Verbündeten geduldet würden. Dies zeige eine eklatante Doppelmoral.

Die langjährige Bundestagsabgeordnete interpretierte die forcierte Aufrüstung nicht als Verteidigung, sondern als „Kriegsvorbereitung“, um die globale Hegemonie der USA zu erhalten. Sie warnte davor, Geheimdienstinformationen als Kriegsgrund zu missbrauchen und verwies auf historische Präzedenzfälle wie den Irak-Krieg.

Souveränität durch Neutralität

Abschließend betonte Dagdelen, dass die erzwungenen fünf Prozent Militärausgaben die Souveränität der Staaten in ihrer Haushalts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik untergraben würden. Sie verwies auf den Druck, der auf Länder wie Spanien und die Slowakei ausgeübt wurde, um das Fünf-Prozent-Ziel zu akzeptieren.

Für Dagdelen ist der Weg zu einer mit der UN-Charta vereinbaren Politik nur über eine stärkere Souveränität und Neutralität zu erreichen. Sie plädierte für eine demokratische Erneuerungsbewegung, die sich für ein „bezahlbares, friedliches und neutrales Deutschland“ einsetzt.

Ein Plädoyer für Empathie und Frieden

Ina Darmstädter, BSW-Kandidatin für die EU-Parlamentswahl 2024, prangerte in ihrer Rede die Missachtung der UN-Charta und den Mangel an Empathie in der Weltpolitik an. Sie betonte, dass die ursprünglichen Prinzipien von Frieden und Gerechtigkeit durch historische Ereignisse und aktuelle Entwicklungen untergraben worden seien. Darmstädter forderte einen „Charakterführerschein“ für Politiker und Wirtschaftsführer und rief dazu auf, dass „sozial veranlagte Menschen“ mehr Führungspositionen übernehmen sollten. Sie appellierte: „Runter von der Yogamatte und rein ins Parlament!“ Um dies zu fördern, sei ein Bildungssystem notwendig, das „Verantwortung und Mitgefühl“ lehre.

Ihre Vision umfasst „weltweit Friedensministerien“ und einen „UN-Friedensrat“ zur Beilegung von Konflikten. Sie schloss mit dem Aufruf, sich für ein „Forum für Frieden und Völkerrecht“ einzusetzen und die Grundprinzipien der UN-Charta – Gewaltfreiheit, Frieden, Gerechtigkeit und kollektive Sicherung – wieder in den Mittelpunkt zu rücken.

Moderator Hantke bezeichnete die Veranstaltung als eine Anti-Kriegs-Manifestation. Von der Schulenburg schloss die Veranstaltung optimistisch: Wenn der Westen sich der Charta verschreibe, würde er die Mehrheit der Welt auf seine Seite bringen: „Plötzlich werden wir ganz, ganz viele Leute finden, die ja auch für die UN-Charta sind.“ Er sieht darin eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Dokument, das uns zusammenführen kann.

Titelbild: Éva Péli


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