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Titel: Palästina: Der Westen flüchtet sich in die Fantasie eines „virtuellen Staates“
Datum: 12. August 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Die westlichen Staats- und Regierungschefs beschränken sich bei ihrer Anerkennung Palästinas auf Symbolpolitik, die nichts mit Souveränität zu tun hat. Sie ziehen keine Konsequenzen, während Gaza weiter zerstört wird. Von Soumaya Ghannoushi.
Die Anerkennung des Staates Palästina könnte auf den ersten Blick wie ein moralischer Wendepunkt erscheinen – ein Zeichen für das Erwachen des westlichen Gewissens angesichts der Verwüstung des Gazastreifens.
Frankreich ergriff die Initiative und veranstaltete gemeinsam mit Saudi-Arabien eine internationale Konferenz unter der Flagge der UNO.
Der britische Premierminister Keir Starmer zog rasch nach und kündigte eine an Bedingungen geknüpfte Anerkennung an. Außenminister David Lammy sprach von einer „besonderen Verantwortung“ Großbritanniens und verwies dabei auf die Balfour-Erklärung, die die zionistische Kolonisierung Palästinas unter britischem Schutz ermöglichte.
Aber wenn man genauer hinschaut, entpuppt sich diese Geste als das, was sie ist: eine Fassade, eine diplomatische Inszenierung, die den Status quo kaschiert.
Was angeboten wird, ist nicht der Status eines Staates. Es handelt sich vielmehr um eine entmilitarisierte, nicht zusammenhängende Pseudo-Entität ohne Kontrolle über Grenzen, Luftraum, Ressourcen oder Verkehr. Es ist eine Scheinverwaltung unter israelischer Führung, die eine besetzte und zerschlagene Bevölkerung verwalten soll. Das ist weniger, als in den Osloer Abkommen vereinbart wurde, und ähnelt eher einer Gemeinde, die als befreit dargestellt wird.
Und trotzdem präsentieren westliche Staats- und Regierungschefs dies als mutig und visionär. Warum? Weil es nicht um die Rechte der Palästinenser geht, sondern um eine politische Fassade.
Absurder Widerspruch
Frankreich unter der Führung von Präsident Emmanuel Macron betrachtet die palästinensische Frage als eine diplomatische Brücke, um nach dem Rückzug aus Afrika wieder in die arabische und muslimische Welt zurückzukehren. Macron positioniert sich dabei als eine Art neuer Charles de Gaulle, obwohl Frankreich in der Vergangenheit die nuklearen Ambitionen Israels unterstützt hat.
Saudi-Arabien nutzt die Anerkennungsinitiative, um die Normalisierung seiner Beziehungen zu Israel zu legitimieren.
Starmers Motive sind kurzfristiger. Angesichts der wachsenden öffentlichen Empörung über seine unerschütterliche Unterstützung der israelischen Aggression sowie der Herausforderung von links durch Jeremy Corbyn und Zarah Sultana an der Spitze einer neuen politischen Partei nutzt er die Anerkennung als Ablenkungsmanöver.
Das ist kein Kompromiss, sondern eine Taktik. Er hat sie unter Vorbehalt gestellt, um Israel unter Druck zu setzen und zu überzeugen, zum „Friedensprozess“ zurückzukehren. Wenn Israel kooperiert, wird die Anerkennung ausgesetzt. Der Status eines palästinensischen Staates wird so zu einem Tauschmittel statt zu einem Recht, das geltend gemacht werden sollte.
Es ist ein absurder Widerspruch: Würde Starmer tatsächlich die Zweistaatenlösung unterstützen, wäre die Anerkennung des zweiten Staates der logische erste Schritt. Aber selbst symbolische Gesten in Richtung Palästina müssen im Westen über Tel Aviv laufen.
Und dennoch haben selbst diese hohlen Gesten die ultrarechte Koalition Israels erschüttert. Außenminister Israel Katz schlug höhnisch vor, einen palästinensischen Staat in Paris oder London zu gründen.
US-Präsident Donald Trump drohte Kanada mit Handelsrepressalien, nur weil das Land die Anerkennung in Erwägung zog.
Aber diese Wutausbrüche dürfen nicht von der tieferen Wahrheit ablenken: Die Initiative ist eine Illusion, ein Beruhigungsmittel für das internationale Gewissen.
Währenddessen wird Gaza weiter zerstört. Ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Krankenhäuser, Schulen und Häuser in Schutt und Asche gelegt.
Israelische Minister sagen es offen: „Ganz Gaza wird jüdisch sein” und „Wir müssen schmerzhaftere Wege als den Tod” für seine Bevölkerung finden.
Es handelt sich hier nicht um rebellische Extremisten, sondern um Staatsminister, die die offizielle Politik gestalten. Und der Westen schaut schweigend zu und bietet „Anerkennung“ statt Konsequenzen.
Hohle Diplomatie
Im besetzten Westjordanland verschärft sich die Gewalt der Siedler und die Militäreinsätze nehmen zu. Zwischen 1993 und 2023 stieg die Zahl der Siedler von 250.000 auf über 700.000 – trotz des Versprechens der Osloer Abkommen, die Expansion einzufrieren.
Kontrollpunkt für Kontrollpunkt, Hügel für Hügel verschwindet das Territorium, das für einen lebensfähigen palästinensischen Staat notwendig ist.
Es handelt sich nicht um ein Versagen der Politik – es ist die Politik, die umgesetzt wird.
Sie begann 1991 in Madrid und wurde 1993 in Oslo formalisiert. Dieser sogenannte „Friedensprozess” ersetzte das Völkerrecht durch endlose Verhandlungen und die Gerechtigkeit durch Verzögerungen.
Unter Druck erkannte die Palästinensische Befreiungsorganisation Israel an und verzichtete auf 78 Prozent des historischen Palästinas. Zudem erklärte sie sich bereit, über die verbleibenden 22 Prozent zu verhandeln: das Westjordanland, den Gazastreifen und das besetzte Ostjerusalem.
Im Gegenzug wurde ihr ein Staat versprochen.
Die grundlegenden Fragen – die Flüchtlinge, Jerusalem, die Siedlungen und die Grenzen – wurden jedoch als Fragen des „Endstatus” auf unbestimmte Zeit verschoben. Währenddessen verstärkte Israel seine Kontrolle immer mehr.
Die Zahl der Siedlungen vervielfachte sich. Die Apartheidmauer wurde gebaut. Das Westjordanland wurde in ein Mosaik isolierter Kantone aufgeteilt. Der Gazastreifen wurde abgeriegelt und bombardiert. Die im Zuge der Oslo-Verhandlungen entstandene Palästinensische Autonomiebehörde wurde zu einem Subunternehmer der israelischen Sicherheit, zuständig für die Unterdrückung von Widerstand und die Überwachung der eigenen Bevölkerung.
Anstelle von Freiheit bekamen die Palästinenser Gefangenschaft.
Anstelle von Souveränität bekamen sie Überwachung.
Es handelte sich nicht um einen Friedensprozess, sondern um Befriedung. Und jedes Mal, wenn der palästinensische Widerstand an Kraft gewinnt, sei es während der ersten oder der zweiten Intifada oder jetzt mit der weltweiten Empörung über Gaza, wiederholt sich das gleiche Szenario: Die Debatte über die „Zweistaatenlösung” wird wiederbelebt.
Aber nicht, um sie zu verwirklichen, sondern um die Bewegung unter einer weiteren Runde hohler Diplomatie zu begraben. Es ist eine Strategie der Eindämmung, verkleidet als Besorgnis.
Das ist es, was wir derzeit erleben.
Ein virtueller Staat
Gaza ist mit einer gezielt herbeigeführten Hungersnot konfrontiert. Doch statt die Belagerung zu beenden oder die dafür Verantwortlichen zu bestrafen, flüchtet sich der Westen in die Fantasie eines „virtuellen Staates”. Worte ersetzen Druck. Gesten ersetzen Gerechtigkeit.
Frankreich, Großbritannien und Deutschland[*] liefern weiterhin Waffen an Israel. Die politische Unterstützung bleibt unerschütterlich und wird unter dem Banner des „Existenzrechts“ Israels verteidigt – selbst wenn dabei das Recht der Palästinenser auf Leben ausgelöscht wird.
Nichts Wesentliches hat sich geändert. Nur die Rhetorik.
Der Waffenfluss geht weiter.
Der Geldfluss geht weiter.
Der Fluss der Lügen geht weiter.
Wenn der Westen wirklich an die Schaffung eines palästinensischen Staates glauben würde, würde er anfangen, die militärische, finanzielle und diplomatische Unterstützung zu beenden, die die Apartheid und die Besatzung alimentiert.
Eine Anerkennung ohne Konsequenzen ist kein Schritt nach vorne, sondern ein Schritt, der die Wahrheit umgeht.
Wir haben dieses Spiel schon einmal erlebt. Ein absichtlich endloser „Prozess“, der nirgendwohin führt.
Selbst jetzt, in Gaza, sind die Verhandlungen nur ein Feigenblatt. Im Januar dieses Jahres stand eine Waffenruhe kurz bevor. Israel hat sie im März gebrochen. Ohne Konsequenzen. Es kam lediglich zu einer Rückkehr zu den „Gesprächen“, während die ethnische Säuberung weitergeht und die israelischen Behörden von einem „jüdischen Gaza“ sprechen.
Macron und Starmer reden zwar von einem palästinensischen Staat, finanzieren aber dessen Verschwinden. Sie bieten eine „Anerkennung“ an, die nichts bedeutet außer einer Verzögerung. Was sie vorschlagen, ist keine Souveränität, sondern Symbolpolitik, eine zweckdienliche Fiktion, um die öffentliche Empörung zu beschwichtigen, während die Besatzung zementiert wird.
Aber ein Staat, der nur auf dem Papier existiert und von seinem Besatzer abgesegnet werden muss, ist kein Staat. Es ist eine Lüge, und Anerkennung ohne Taten ist keine Diplomatie, sondern Komplizenschaft.
Wenn der Westen den Völkermord nicht stoppt, wenn er die Waffenlieferungen nicht stoppt, wenn er weder die Finanzierung einstellt noch die israelischen Kriegsverbrechen sanktioniert, dann sind seine Erklärungen schlimmer als bedeutungslos. Sie sind Teil der Tötungsmaschinerie.
Wir stellen also denjenigen, die diese Fiktion propagieren, eine einfache Frage: Wo genau soll dieser palästinensische Staat seine Hoheitsgewalt ausüben?
In Gaza, das in Schutt und Asche liegt? Im Westjordanland, das durch Mauern und Siedlungen geteilt ist? In Jerusalem, das annektiert und ethnisch gesäubert wurde? In Jordanien? Im Sinai?
In Saudi-Arabien, wie Netanjahu spöttisch angedeutet hat?
Auf dem Mars?
Wenn ein palästinensischer Staat in den seit 1967 besetzten Gebieten entstehen soll, dann muss man den Besatzer sanktionieren.
Wenn er irgendwo anders entstehen soll, dann muss man die Sache auch beim Namen nennen: ein Euphemismus für ethnische Säuberung und die Krönung des Völkermords.
Über die Autorin: Soumaya Ghannoushi ist eine britische Schriftstellerin tunesischer Herkunft und Expertin für die Politik des Nahen Ostens. Ihre journalistischen Arbeiten sind in The Guardian, The Independent, Corriere della Sera, aljazeera.net und Al Quds erschienen
Der Artikel erschien bei Voces del Mundo – aus dem Spanischen übersetzt von Marta Andujo.
Titelbild: ImageBank4u / Shutterstock
[«*] Anmerkung der Übersetzerin: Am 8. August kündigte Bundeskanzler Friedrich Merz an, dass die Bundesregierung „bis auf Weiteres keine Ausfuhren von Rüstungsgütern, die im Gazastreifen zum Einsatz kommen können“ genehmigt. – Alle Rüstungsgüter, deren Ausfuhr bereits zugesagt wurde, werden jedoch weiterhin geliefert. Die BRD ist der zweitgrößte Waffenlieferant Israels. Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 13. Mai 2025 wurden laut Bundesregierung Rüstungsexporte nach Israel im Gesamtwert von mehr als 485 Millionen Euro genehmigt.
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