Sex, Lügen und Kriegsverbrechen: Der Internationale Strafgerichtshof im Kreuzfeuer von Politik und Geheimdiensten

Sex, Lügen und Kriegsverbrechen: Der Internationale Strafgerichtshof im Kreuzfeuer von Politik und Geheimdiensten

Sex, Lügen und Kriegsverbrechen: Der Internationale Strafgerichtshof im Kreuzfeuer von Politik und Geheimdiensten

Maike Gosch
Ein Artikel von: Maike Gosch

Ein Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) sollte Respekt einflössen – aber das Gericht in Den Haag wird zunehmend zum Opfer und Spielball des massiven Drucks, den die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der westlichen Staaten, internationales Recht hochzuhalten und zu achten, und deren bedingungsloser Unterstützung der Kriegsverbrechen Israels auslöst. Die Methoden, die dabei angewendet werden, erinnern an Mafiafilme. Immer mehr Hinweise kommen ans Licht, dass es – über den politischen Druck und die Sanktionen hinaus – eine massive Einschüchterungskampagne gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag, insbesondere gegen dessen Chefankläger Karim Khan, aber auch andere Mitarbeiter wie den britischen Anwalt Andrew Cayley wegen ihrer Strafverfolgung israelischer Kriegsverbrechen im Gazastreifen und dem Westjordanland gegeben hat. Von Maike Gosch.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Wie die Nachrichtenagentur Middle East Eye (MME) im Juli und die französische Tageszeitung Le Monde vor einigen Tagen berichteten, sollen durch Drohungen, Intrigen und Lügen Haftbefehle gegen israelische Politiker verhindert werden oder zumindest erreicht werden, die Verfahren gegen sie geheim und unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden zu lassen.

Nicht nur haben viele westliche Regierungen (prominent darunter auch deutsche Diplomaten wie die ehemalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Susanne Baumann) mit all ihrem politischen und diplomatischen Gewicht Druck auf den IStGH ausgeübt, um die Strafverfahren gegen israelische Politiker wie den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, aber auch die als rechtsradikal geltenden Bezalel Smotrich (Finanzminister) und Itamar Ben-Gvir (bis Januar 2025 Minister für die Nationale Sicherheit Israels) zu verhindern.

Der Druck auf den Ankläger begann im März 2024. Karim Khan verkündete den Amerikanern, den Franzosen und den Briten seine Absicht, Anklage gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant zu erheben. Daraufhin mobilisierte der israelische Premierminister seine Dienste und befahl seinen Verbündeten, „alle Mittel“ einzusetzen, um den Ankläger zu stoppen. Am 23. April 2024 war Karim Khan auf einer Mission in Venezuela, als David Cameron ihn anrief. „Das ist eine Wasserstoffbombe!“, knurrte der britische Außenminister. Er warnte, Großbritannien werde aus dem Gründungsvertrag des IStGH austreten, sollte Karim Khan seine Absichten in die Tat umsetzen.“
(Quelle: Le Monde)

Wie Middle East Eye unter Berufung auf interne Quellen und von den Journalisten eingesehene Dokumente berichtet:

Der britische Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wurde im Mai gewarnt, dass er und der IStGH „zerstört“ würden, wenn die Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant nicht zurückgezogen würden.

Die Warnung wurde Karim Khan von Nicholas Kaufman übermittelt, einem britisch-israelischen Verteidiger am Gerichtshof, der Khan mitteilte, er habe mit Netanjahus Rechtsberater gesprochen und sei laut einer bei der ICC hinterlegten und von Middle East Eye eingesehenen Notiz über das Treffen „befugt“, ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, der es Khan ermöglichen würde, „vom Baum herunterzuklettern“. Er forderte Khan auf, beim Gericht zu beantragen, die Haftbefehle und die zugrunde liegenden Informationen als „vertraulich“ einzustufen. Dies würde Israel ermöglichen, Zugang zu den Details der Vorwürfe zu erhalten, was ihm derzeit nicht möglich ist, und diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit anzufechten, ohne dass das Ergebnis veröffentlicht wird. Kaufman warnte jedoch, dass „alle Optionen vom Tisch“ seien, sollte sich herausstellen, dass der Chefankläger weitere Haftbefehle gegen die rechtsextremen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich wegen ihrer Förderung illegaler israelischer Siedlungen im besetzten Westjordanland beantrage. Kaufman sagte zu Khan: „Sie werden Sie zerstören und sie werden das Gericht zerstören.“
(Quelle: Middle East Eye)

Khan und seine bei dem Gespräch anwesende Frau haben dies als Drohung verstanden. Kaufman selbst bestreitet diese Deutung und erklärt, er habe damit nur gemeint, dass weitere Haftbefehle mehr U.S.-amerikanische Sanktionen auslösen würden, was den IStGH zerstören könnte.

Unterdessen stieg der diplomatische und politische Druck auf Khan und den Gerichtshof:

Anfang Mai 2024 beginnt eine wilde Woche. Abwechselnd per Telefon oder Videokonferenz versuchen US-Außenminister Antony Blinken, sein Kollege, der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan, die deutsche Außenministerin Susanne Baumann (tatsächlich Staatssekretärin unter der Außenministerin Annalena Baerbock, Anm. d. Übers.) und US-Senatoren, den Staatsanwalt zum Einlenken zu bewegen. Ihm wird vorgeworfen, die – noch gar nicht stattfindenden – Friedensverhandlungen zu untergraben und das Leben israelischer Geiseln in der Hamas-Gefangenschaft zu gefährden.

Gleichzeitig versuchen die Amerikaner, die Zuständigkeit des Gerichtshofs zugunsten der israelischen Justiz abzulehnen, und zwar im Namen des Komplementaritätsprinzips. Diese Vertragsklausel besagt, dass der IStGH nur dann eingreift, wenn nationale Gerichte den mutmaßlichen Täter eines Kriegsverbrechens nicht vor Gericht stellen können oder wollen. Vor diesem Hintergrund versucht Washington, die Zusammenarbeit zwischen Israel und der Staatsanwaltschaft zu verbessern. „Blinken hat hart daran gearbeitet, uns wieder nach Gaza zu bringen, um Haftbefehlsanträge zu vermeiden“, sagt eine Quelle beim Gerichtshof.

Trotz der Bombardierungen versucht das Team von Staatsanwalt Khan tatsächlich, vor Ort zu sein. Auf Ersuchen der Palästinensischen Autonomiebehörde haben die Behörden in Kairo ihnen die Einreise in den Gazastreifen über die Stadt Rafah an der Grenze zum ägyptischen Sinai genehmigt. Gleichzeitig behauptet Thomas Lynch, ein amerikanischer Berater von Karim Khan, grünes Licht von den Israelis erhalten zu haben. Unter einer Bedingung: Die ICC-Delegation müsse die Enklave über den jüdischen Staat und nicht über Ägypten betreten. „Wir haben die Mission nach Rafah abgesagt, aber nie eine schriftliche Genehmigung von den Israelis erhalten!“, sagt eine Quelle in der Staatsanwaltschaft und fühlt sich betrogen.“
(Quelle: Le Monde)

Während Karim Khan trotz der behaupteten Drohungen und des politischen und diplomatischen Drucks nicht einknickte, kam ein Skandal an die Öffentlichkeit. Vorwürfe gegen ihn, eine langjährige Mitarbeiterin über längere Zeit vergewaltigt und sexuell belästigt zu haben, wurden durch eine Veröffentlichung im Wall Street Journal und anderen westlichen Zeitungen publik.

Ende April berichtete eine Mitarbeiterin Khans gegenüber zwei Mitarbeitern des ICC, unter ihnen der US-amerikanische Berater Khans, Thomas Lynch, von angeblichen sexuellen Übergriffen durch Khan gegen sie. Thomas Lynch leitete die Vorwürfe der Mitarbeiterin an die Personalabteilung weiter. Eine dadurch ausgelöste Untersuchung wurde bereits nach fünf Tagen ergebnislos abgeschlossen, da die Mitarbeiterin sich weigerte, zu dem Fall Aussagen zu machen. Khan wies alle Vorwürfe entschieden zurück.

Thomas Lynch jedoch schickte nach Aussagen eines Mitarbeiters der Kanzlei eine schriftliche Notiz über die Vorgänge an die Prüfer. Diese Notiz gelangte im Oktober 2024 an die Presse.

Aber schon am 10. Mai 2024 (also ca. zwei Wochen nach den Treffen zwischen Khan und Kaufmann) berichtete das Wall Street Journal über sehr intime Details der Untersuchung und machte alle angeblichen Vorwürfe öffentlich. Die Zeitung beruft sich dabei auf Insider-Informationen aus Khans Umfeld.

In der Berichterstattung des Wall Street Journals und auch vieler anderer Medien wurde unterstellt, Khan habe die Haftbefehle für Netanjahu und Gallant beantragt, um von den Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung abzulenken. Wenn man sich die Zeitabläufe ansieht und auch die lange Vorbereitungszeit der Untersuchungen gegen Israel, erscheint es aber plausibler, dass diese Vorwürfe umgekehrt an die Presse durchgestochen wurden, um Khan durch eine Vorverurteilung durch die Weltöffentlichkeit zu vernichten, als er sich nicht den direkten Drohungen und dem politischen und diplomatischen Druck beugte, die Anträge auf Haftbefehle zurückzuziehen. Das bedeutet nicht, dass die Vorwürfe nicht wahr sein können – das wird (hoffentlich) irgendwann festgestellt. Aber wir wissen spätestens seit Julian Assange, dass schon der Vorwurf von sexuellen Straftaten genügt, um Menschen, die sich starken geopolitischen Mächten entgegenstellen, medial zu vernichten und sie im Spinnennetz von prozessualen Vorgaben so stark zu verstricken, bis sie handlungsunfähig werden.

Denn, wie MME berichtet:

Tatsächlich jedoch wurde die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Haftbefehle zu beantragen, bereits sechs Wochen vor den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Ende April getroffen, wie MEE bereits berichtet hatte.

MEE wurde aus mehreren Quellen mitgeteilt, dass Khans umfangreiches Team aus Anwälten und Ermittlern am 16. März 2024 beschlossen hatte, bis Ende April die Voraussetzungen für die Beantragung von Haftbefehlen zu schaffen.

Am 25. März informierte Khan die US-Regierung über seine Entscheidung und kündigte an, dass die Haftbefehle bis Ende April beantragt würden.“
(Quelle: Middle East Eye)

Dazu kommt, dass die Vorwürfe der Bedrohung und illegalen Einflussnahme auf den IStGH und seinen Chefankläger Khan in einem größeren Zusammenhang zu betrachten sind. Es handelt sich nämlich mitnichten um einen Einzelfall:

Eine Untersuchung der britischen Tageszeitung The Guardian gemeinsam mit der israelisch-palästinensischen Zeitschrift +972 und der hebräischen Publikation Local Call ergab, dass Israel fast ein Jahrzehnt lang einen geheimen „Krieg“ gegen den Gerichtshof geführt hat. Das Land setzte seine Geheimdienste ein, um hochrangige Mitarbeiter des IStGH zu überwachen, zu hacken, unter Druck zu setzen, zu diffamieren und angeblich zu bedrohen, um die Ermittlungen des Gerichtshofs zu behindern:

Der israelische Geheimdienst hat die Kommunikation zahlreicher ICC-Beamter, darunter Khan und seine Vorgängerin als Staatsanwältin, Fatou Bensouda, abgefangen und Telefonate, Nachrichten, E-Mails und Dokumente abgehört.

Die Überwachung wurde in den letzten Monaten fortgesetzt und verschaffte dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu Vorabinformationen über die Absichten der Anklägerin. Eine kürzlich abgefangene Kommunikation deutete darauf hin, dass Khan Haftbefehle gegen Israelis erlassen wollte, aber laut einer mit dem Inhalt vertrauten Quelle „enormem Druck aus den Vereinigten Staaten“ ausgesetzt war.

Bensouda, die als Chefanklägerin 2021 die Ermittlungen des IStGH einleitete und damit den Weg für die Ankündigung der vergangenen Woche ebnete, wurde ebenfalls ausspioniert und angeblich bedroht.“

Siehe zum Fall Bensouda:

Netanjahu zeigte großes Interesse an den Geheimdienstoperationen gegen den IStGH und wurde von einer Geheimdienstquelle als „besessen“ von den Abhörmaßnahmen in diesem Fall beschrieben. Unter der Aufsicht seiner nationalen Sicherheitsberater waren an den Bemühungen die inländische Geheimdienstbehörde Shin Bet sowie die militärische Geheimdienstdirektion Aman und die Cyber-Geheimdienstabteilung Unit 8200 beteiligt. Die aus den Abhörmaßnahmen gewonnenen Informationen wurden laut Quellen an die Ministerien für Justiz, Auswärtige Angelegenheiten und Strategische Angelegenheiten weitergeleitet.

Eine verdeckte Operation gegen Bensouda, die am Dienstag vom Guardian aufgedeckt wurde, wurde persönlich von Netanjahus engem Verbündeten Yossi Cohen geleitet, der zu dieser Zeit Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad war.“

Auch der britische Anwalt Andrew Cayley, der zusammen mit der Amerikanerin Brenda Hollis die Untersuchungen von Verbrechen durch Israelis im Gazastreifen und dem Westjordanland leitet, wurde nach eigenen Aussagen bedroht, wie Le Monde berichtet:

„„Ich habe in Den Haag die schlimmsten Monate meines Lebens erlebt“ (…) „Mir wurde gesagt, ich sei ein Feind Israels und solle auf der Hut sein.“ Kurz nach Donald Trumps Amtsantritt informierte ihn das britische Außenministerium, dass er auf der Liste des IStGH mit Beamten stehe, die von der neuen US-Regierung mit Sanktionen belegt werden könnten. Im März gab der Anwalt auf und kehrte nach Großbritannien zurück.“

Im Februar 2025 verhängte dann der US-amerikanische Präsident Donald Trump per Dekret Sanktionen gegen den IStGH wegen der Haftbefehle gegen Netanjahu und Verteidigungsminister Joav Gallant. Diese haben zur Folge, dass Führungskräften, Angestellten und Mitarbeitern des IStGH sowie ihren engsten Familienangehörigen die Einreise in die USA verboten ist. Außerdem werden demnach alle Vermögenswerte, die diese Personen in den USA besitzen, eingefroren.

Khan hat aufgrund der Vorwürfe und einer neuen Untersuchung durch das Büro für interne Aufsichtsdienste der Vereinten Nationen (OIOS) seinen Dienst vorübergehend niedergelegt. Die Ermittlungen gegen Israel liegen seitdem faktisch auf Eis, auch wenn sie offiziell von Nazhat Shameem Khan (nicht verwandt) und Mame Mandiaye Niang weitergeführt werden. Im April 2025 wies der IStGH seine Mitarbeiter in einer geheimen inneren Anordnung an, dass ab diesem Zeitpunkt alle Anträge auf Haftbefehle im Falle Palästina/Israel geheimgehalten werden müssen und nicht mehr an die Öffentlichkeit gelangen dürfen. Dies war vielleicht nicht der Feigheit geschuldet, sondern taktisch, um den öffentlichen (und geheimen) Druck auf das Gericht und seine Mitarbeiter zu verringern. Was diese Entscheidung aber natürlich zur Folge hat, ist, dass der IStGH damit seine Möglichkeit, allein durch die Anträge auf einen Haftbefehl Druck auf die israelische Führung aufzubauen, ihre Kriegsverbrechen zu beenden, verloren hat.

In der Berichterstattung von Middle East Eye, Le Monde und The Guardian finden sich noch sehr viel mehr Details, Hinweise, Zitate und Aspekte, die hier nicht alle aufgeführt werden können. Das Bild, das sich ergibt, ist das eines massiven Drucks auf den IStGH und sein führendes Personal. Immer weiter verdichtet sich der Eindruck, dass der Westen dabei ist, die von ihm immer wieder beschworene „regelbasierte Ordnung“ selbst zu zerstören – und keiner der westlichen Politiker wagt es oder ist willens, sich den immer stärker um sich greifenden und an die Mafia erinnernden Methoden Israels und seiner Unterstützer entgegenzustellen.

Titelbild: lev radin / Shutterstock

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