Vom Vorzeigeflüchtling zum Schmarotzer. Migranten aus der Ukraine sind plötzlich die Buhmänner der Nation, weil sie trotz aller Unterstützung den nötigen Arbeitseifer vermissen lassen würden, heißt es. Beim bösen Spiel, Beschäftigte und Hilfsbedürftige gegeneinander aufzubringen, schrecken Demagogen unterschiedlichster Couleur vor keiner Perfidie zurück. Dabei ist Daniil aus Kiew ein so armes Schwein wie Ansgar aus Bottrop. Beide sollen es schlechter haben, damit sich die „Fleißigen“ im Land besser fühlen, aber nicht besser leben. Und geht erst einmal der Job verloren, ist vom Sozialstaat noch weniger übrig. Ein Kommentar von Ralf Wurzbacher.
Die Einschläge kommen näher. Fast täglich reiten Politiker unterschiedlichster Couleur verbale Attacken gegen dies und jenes, was die Solidarität der Bevölkerung vermeintlich überstrapaziert: ein „unbezahlbares“ Rentensystem, überbordende Ausgaben für Gesundheit, Pflege und – natürlich ganz oben auf der Liste der „Zumutungen“ – das Bürgergeld, welches dem Bürger angeblich die Lust aufs Arbeiten vergällt und zu Missbrauch und Abzocke einlädt. Erzählt wird all das weitgehend kontrafaktisch, auf schnelle Effekte haschend, ohne indes die gewünschte Wirkung zu verfehlen. Während Land und Leute auf Kriegstüchtigkeit getrimmt werden, herrscht auf dem Feld des Sozialen mindestens Vorkriegszustand. Für Empathie, Mitgefühl, Verständnis für die Nöte und Sorgen Schwächerer ist da kein Platz und erst recht kein Geld.
Läppische vier Milliarden Euro haben den deutschen Staat im Vorjahr die Aufwendungen für das Bürgergeld mehr gekostet als 2023. Sprich: knapp 47 Milliarden Euro statt davor 43 Milliarden Euro. Das genügt interessierten Kreisen, ein riesiges Fass aufzumachen, während die Hochrüstung Deutschlands in die Billionen gehen darf. Dirk Wiese, parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion: „Wer das System ausnutzt, dem muss mit klaren Sanktionen begegnet werden.“ Oder CDU-Mann Tilman Kuban, der meint, die von der Koalition geplante „neue Grundsicherung“ dürfe es „nur noch für die geben, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind – nicht für die, die nicht arbeiten wollen“.
16.000 Totalverweigerer
Aber wo sind all die Arbeitsunwilligen und Leistungserschleicher? Der Kreis der Totalverweigerer beläuft sich nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf unter ein halbes Prozent der arbeitsfähigen Bürgergeldempfänger. Übers Jahr 2023 waren dies weniger als 16.000. Sie allein haben gewiss keine vier Milliarden Euro Mehrkosten verursacht. Wer dann? Die Schuld an den Rekordausgaben geht maßgeblich auf die wirtschaftlich verheerende Sanktionspolitik gegen Russland, die so provozierten Mondpreise bei Energie und Lebensmitteln und die wachsende Erwerbslosigkeit infolge einer planlosen Industriepolitik zurück. Ohne die fällige Erhöhung der Regelsätze über das übliche Maß hinaus hätte Deutschland eine gewaltige Welle an Armut und Elend erfasst.
Gleichwohl hielt die Anpassung der Leistungen 2023 und 2024 nicht mit der realen Inflationsrate mit, womit die Betroffenen seither noch schlechter dastehen als davor. Zu allem Übel stempelt man sie jetzt nachträglich zu Sündenböcken für etwas, das die alte Bundesregierung verbockt hat und woran die neue nahtlos anknüpft. Obendrauf setzt es eine Nullrunde im laufenden und absehbar eine weitere im kommenden Jahr. Das alles geschieht im Sinne von Demagogen vom Schlag Friedrich Merz, Thorsten Frei, Michael Kretschmer (alle CDU) oder des besagten sogenannten Sozialdemokraten Wiese. Der hadert mit seiner Partei, weil viele Menschen das Gefühl hätten, sie kümmere sich mehr um diejenigen, die nicht arbeiten, als um jene, „die täglich malochen“.
Spalte und Herrsche
So sprechen Spalter, die schamlos Neiddebatten auf Kosten von Bedürftigen, Ausgegrenzten und Ausgestoßenen anheizen. Von denen wird es demnächst immer mehr geben. Die Zahl der Erwerbslosen steuert hierzulande stramm auf die Marke von drei Millionen zu, während EU-Europa per Zollabkommen drauf und dran ist, seine halbe Wirtschaft und zahllose Industriearbeitsplätze an die USA zu verhökern. Seine Chefin, Ursula von der Leyen (CDU), wird dennoch weiterbeschäftigt und darf, diesem und dem Pfizer-Deal zum Trotz, auf Berufung zu noch Höherem hoffen. In ihrem Namen hatte Europa 4,6 Milliarden Corona-Impfstoffdosen für 71 Milliarden Euro geordert, wovon der Großteil nicht einmal produziert, aber bezahlt werden muss. Wie schwer wiegt dagegen wohl der Schaden durch 16.000 Faulenzer?
Aber es geht ja nicht mehr bloß um Drückerbergerei. Sondern um eine Frage der „Gerechtigkeit“. Oder wie der CDU-Fraktionschef im Stuttgarter Landtag, Manuel Hagel, kürzlich formulierte: „Das Bürgergeld ist eine Ungerechtigkeit zulasten der fleißigen Menschen bei uns im Land.“ Diesen Fleißigen in der sogenannten Mitte der Gesellschaft werden in der Tat immer mehr und höhere Lasten aufgebürdet: horrende Mieten, steigende Sozialversicherungsbeiträge, überteuerte Lebensmittel- und Energiepreise – alles politisch mitverschuldet beziehungsweise gezielt herbeigeführt.
Hungern fürs Kind
Nun ließe sich fordern, die Lasten durch eine sozialere Politik zu mindern und der Breite der Bevölkerung ein besseres Leben zu ermöglichen, etwa durch die im schwarz-roten Koalitionsvertrag versprochene Senkung der Stromsteuer. Aber nein! Das Einzige, was die Politik dem arbeitenden Bürger noch zu bieten hat, ist das „wohlige Gefühl“, dass es anderen noch schlechter geht und gehen muss, wofür Union und SPD auch tunlichst sorgen werden mit ihrem avisierten Reformpaket. Dessen Bestimmungen werden das frühere Hartz-IV-Regime sogar in den Schatten stellen, durch noch mehr „Fordern“, Gängelung und Sanktionen bis hin zur Leistungskürzung auf null Euro. Und dann wird das neue Instrument auch nicht mehr Bürgergeld heißen, sondern „neue Grundsicherung“. So geht das Selbstempfinden auch semantisch weg vom „Bürger“ hin zu „Bodensatz“.
So fühlen sich viele schon heute. Vor einem Monat hat der Verein Sanktionsfrei per Umfrage die Lebenswirklichkeit der von Sozialtransfers Abhängigen ermittelt. Ergebnisse: Der Regelsatz von monatlich 563 Euro reicht für die große Mehrheit von 72 Prozent nicht, um ein würdevolles Leben zu führen. In nur jedem zweiten Haushalt essen sich alle Familienmitglieder satt. Eltern verzichten zu über 54 Prozent zu Gunsten ihrer Kinder auf Essen. Nahezu alle Betroffenen wollen arbeiten, haben aber kaum Hoffnung auf einen existenzsichernden Job. 42 Prozent schämen sich, Bürgergeld zu beziehen, 72 Prozent fürchten weitere Verschärfungen. Wenigstens auf Letzteres ist Verlass.
Vom Paulus zum Saulus
Dafür lässt Deutschland jetzt sogar seine „Verbündeten“ fallen. Flüchtlinge aus der Ukraine, auch die der ersten Stunde, sollen pauschal aus dem Bürgergeldbezug gekegelt werden und nur mehr Anspruch auf die um über 100 Euro geringeren Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben. So will es Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), wofür er sogleich Zuspruch durch Kanzleramtsminister Frei und den sächsischen Regierungschef Kretschmer erntete. Jeder kenne Menschen, die Geld bekämen, es aber nicht bräuchten, behauptete der. Das gelte in besonderer Weise für Schutzsuchende. Dass von den Ukrainerinnen und Ukrainern nur etwa ein Drittel einer Beschäftigung nachgehen soll, sei allerdings nicht deren Schuld, „sondern das liegt an unseren eigenen selbstgemachten Regeln“, die für alle geändert werden müssten. Soll heißen: Kürzungen und mehr Schikane tun allen gut.
Ohne Frage: Die Sonderbehandlung ukrainischer Migranten – sofortige Duldung plus Bürgergeldbezug – war hochgradig ungerecht gegenüber allen anderen Fluchtgruppen. Sie diente lediglich Propagandazwecken, von wegen: Seht her, wie menschlich wir mit den durch Russland Gepeinigten umgehen. Dafür hatte man sich aber schon gewünscht, dass sie etwas zurückgeben, sprich einen raschen Sieg gegen Wladimir Putin. Nach über drei Jahren Krieg erscheint der unerreichbar, was die Ukrainer nur mehr zu lästigen Gästen macht. Wer von ihnen nach dem 1. April 2025 in der BRD aufgeschlagen ist, hat laut Koalitionsvertrag schon heute offiziell nur noch Anspruch auf Asylleistungen. Wobei die Kosten der Umsetzung (Bürokratie) den Spareffekt übersteigen dürften.
„Es braucht organisierte Gegenwehr“
Ganz egal! Söder und Co. wollen Zeichen setzen und schnellstens allen die Ansprüche kürzen und so möglichst viele aus Deutschland vergraulen. Von da wäre es freilich nicht mehr weit zu Forderungen der AfD, ausnahmslos alle Ausländer aus dem Bürgergeldbezug zu kippen oder gleich ganz außer Landes zu schaffen. Schließlich war es die AfD, die die Ausgaben fürs Bürgergeld bei der Regierung abgefragt und an die große Glocke gehängt hat. Woraus jetzt nahezu alle Parteien einschließlich des BSW – außer Die Linke – ihr populistisches Süppchen kochen und wahlweise gegen alle Bürgergeldempfänger oder nur die aus der Ukraine schießen. Wodurch einmal mehr ersichtlich wird: In puncto Hetzen und Kürzen bröckelt die „Brandmauer“ nach rechts ziemlich bedenklich.
Dabei geht es bei all dem um Ablenkung – Ablenkung davon, dass die Wohlstandsbasis der breiten Bevölkerung zusehends erodiert, während das obere Zehntel der Gesellschaft ohne Ende obszöne Reichtümer auftürmt. Heike Wagner, politische Referentin beim „Förderverein gewerkschaftliche Arbeitslosenarbeit“, stellt die Dinge gegenüber den NachDenkSeiten klar:
„Erwerbslose, Beschäftigte und Rentner sollen gegeneinander ausgespielt werden. Man schürt Angst vor sozialem Abstieg, damit die Menschen zu Zugeständnissen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen bereit sind. Wir sind konfrontiert mit einem beispiellosen Angriff auf den Sozialstaat und gleichzeitig werden Unsummen in die Militarisierung gesteckt. Wir brauchen eine organisierte Gegenwehr.“
Wie wahr! Vom US-Investor Warren Buffett stammt der Ausspruch:
„Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen.“
Ein Problem mehr: Die wenigsten Menschen wissen, dass sie im Klassenkrieg sind, geschweige denn, dass sie einer und welcher Klasse sie angehören. Wer gegen „die da unten“ und eigentlich Gleichgesinnte tritt, trifft früher oder später sich selbst. Darauf setzen „die da oben“.
Titelbild: M. Schuppich / Shutterstock