Laut einer aktuellen Recherche von Le Monde war neben den USA, Israel und Großbritannien auch Deutschland ab Mai 2024 an der Einschüchterungskampagne gegen den Chefermittler des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), Karim Ahmad Khan, beteiligt. Ziel der Kampagne war es, die Ausstellung von Haftbefehlen gegen den israelischen Premier Benjamin Netanyahu und weitere Politiker wegen Kriegsverbrechen in Gaza zu verhindern. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob die Bundesregierung diese versuchte Einflussnahme durch staatliche deutsche Vertreter auf den ICC-Chefermittler bestätigen kann. Ebenso kam die Frage auf, welche Rolle dabei die damalige Außenministerin und baldige Präsidentin der UN-Generalversammlung, Annalena Baerbock, spielte. Von Florian Warweg.
Hintergrund
Die französische Tageszeitung Le Monde veröffentlichte am 1. August eine umfangreiche Recherche unter dem Titel „Die Kampagne gegen den IStGH zur Aufhebung des Haftbefehls gegen Benjamin Netanjahu“.
Daraus geht hervor, dass Regierungsvertreter aus den USA, Israel, Großbritannien und Deutschland mit all ihrem politischen und diplomatischen Gewicht Druck auf den IStGH und dessen Chefermittler ausgeübt haben, um die Strafverfahren gegen israelische Politiker wie den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, aber auch die als rechtsradikal geltenden Bezalel Smotrich (Finanzminister) und Itamar Ben-Gvir (bis Januar 2025 Minister für die Nationale Sicherheit Israels) zu verhindern. Prominent wird dabei auf die Rolle der deutschen Diplomatin und damaligen Staatssekretärin im Auswärtigen Amt unter Annalena Baerbock, Susanne Baumann, verwiesen:
„Der Druck auf den Ankläger begann im März 2024. Karim Khan verkündete den Amerikanern, den Franzosen und den Briten seine Absicht, Anklage gegen Benjamin Netanjahu und Yoav Gallant zu erheben. Daraufhin mobilisierte der israelische Premierminister seine Dienste und befahl seinen Verbündeten, „alle Mittel“ einzusetzen, um den Ankläger zu stoppen. Am 23. April 2024 war Karim Khan auf einer Mission in Venezuela, als David Cameron ihn anrief. „Das ist eine Wasserstoffbombe!“, knurrte der britische Außenminister. Er warnte, Großbritannien werde aus dem Gründungsvertrag des IStGH austreten, sollte Karim Khan seine Absichten in die Tat umsetzen.“
„Anfang Mai 2024 beginnt eine verrückte Woche. Nacheinander versuchen der US-Außenminister Antony Blinken, sein Kollege Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater, die deutsche Staatssekretärin Susanne Baumann und US-Senatoren per Telefon oder Videokonferenz, den Staatsanwalt zum Einlenken zu bewegen. Dieser wird beschuldigt, die Friedensverhandlungen – die es gar nicht gibt – zu behindern und das Leben der israelischen Geiseln in der Gewalt der Hamas zu gefährden.
Gleichzeitig versuchen die Amerikaner, die Zuständigkeit des Gerichtshofs zugunsten der israelischen Justiz abzulehnen, und zwar im Namen des Komplementaritätsprinzips. Diese Vertragsklausel besagt, dass der IStGH nur dann eingreift, wenn nationale Gerichte den mutmaßlichen Täter eines Kriegsverbrechens nicht vor Gericht stellen können oder wollen. Vor diesem Hintergrund versucht Washington, die Zusammenarbeit zwischen Israel und der Staatsanwaltschaft zu verbessern. „Blinken hat hart daran gearbeitet, uns wieder nach Gaza zu bringen, um Haftbefehlsanträge zu vermeiden“, sagt eine Quelle beim Gerichtshof.
Trotz der Bombardierungen versucht das Team von Staatsanwalt Khan tatsächlich, vor Ort zu sein. Auf Ersuchen der Palästinensischen Autonomiebehörde haben die Behörden in Kairo ihnen die Einreise in den Gazastreifen über die Stadt Rafah an der Grenze zum ägyptischen Sinai genehmigt. Gleichzeitig behauptet Thomas Lynch, ein amerikanischer Berater von Karim Khan, grünes Licht von den Israelis erhalten zu haben. Unter einer Bedingung: Die ICC-Delegation müsse die Enklave über den jüdischen Staat und nicht über Ägypten betreten. „Wir haben die Mission nach Rafah abgesagt, aber nie eine schriftliche Genehmigung von den Israelis erhalten!“, sagt eine Quelle in der Staatsanwaltschaft und fühlt sich betrogen.“
Middle East Eye, die bereits vor Le Monde im Juli zu dem Thema eine umfassende Recherche veröffentlicht hatte, berichtet unter Berufung auf interne Quellen und von den Journalisten eingesehene Dokumente zudem:
„Der britische Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wurde im Mai gewarnt, dass er und der IStGH „zerstört“ würden, wenn die Haftbefehle gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant nicht zurückgezogen würden.
Die Warnung wurde Karim Khan von Nicholas Kaufman übermittelt, einem britisch-israelischen Verteidiger am Gerichtshof, der Khan mitteilte, er habe mit Netanjahus Rechtsberater gesprochen und sei laut einer bei der ICC hinterlegten und von Middle East Eye eingesehenen Notiz über das Treffen „befugt“, ihm einen Vorschlag zu unterbreiten, der es Khan ermöglichen würde, „vom Baum herunterzuklettern“. Er forderte Khan auf, beim Gericht zu beantragen, die Haftbefehle und die zugrunde liegenden Informationen als „vertraulich“ einzustufen. Dies würde Israel ermöglichen, Zugang zu den Details der Vorwürfe zu erhalten, was ihm derzeit nicht möglich ist, und diese unter Ausschluss der Öffentlichkeit anzufechten, ohne dass das Ergebnis veröffentlicht wird.“
Würde Khan darauf nicht eingehen, würde Israel aber die Samthandschuhe ausziehen: „Sie werden Sie zerstören und sie werden das Gericht zerstören.“
Khan und seine bei dem Gespräch anwesende Frau haben dies nach eigener Angabe als explizte Drohung verstanden. Kaufman selbst bestreitet diese Deutung und erklärt, er habe damit nur gemeint, dass weitere Haftbefehle mehr US-amerikanische Sanktionen auslösen würden, was den IStGH zerstören könnte.
Dazu kommt, wie Maike Gosch in ihrem Artikel „Sex, Lügen und Kriegsverbrechen: Der Internationale Strafgerichtshof im Kreuzfeuer von Politik und Geheimdiensten“ ausführt, dass die Vorwürfe der Bedrohung und illegalen Einflussnahme auf den IStGH und seinen Chefankläger Khan in einem größeren Zusammenhang zu betrachten sind. Es handelt sich mitnichten um einen Einzelfall.
Eine Untersuchung der britischen Tageszeitung The Guardian gemeinsam mit der israelisch-palästinensischen Zeitschrift +972 und der hebräischen Publikation Local Call ergab zum Beispiel, dass Israel fast ein Jahrzehnt lang einen geheimen „Krieg“ gegen den Gerichtshof geführt hat. Das Land setzte seine Geheimdienste ein, um hochrangige Mitarbeiter des IStGH zu überwachen, zu hacken, unter Druck zu setzen, zu diffamieren und angeblich zu bedrohen, um die Ermittlungen des Gerichtshofs zu behindern:
„Der israelische Geheimdienst hat die Kommunikation zahlreicher ICC-Beamter, darunter Khan und seine Vorgängerin als Staatsanwältin, Fatou Bensouda, abgefangen und Telefonate, Nachrichten, E-Mails und Dokumente abgehört.
Die Überwachung wurde in den letzten Monaten fortgesetzt und verschaffte dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu Vorabinformationen über die Absichten der Anklägerin. Eine kürzlich abgefangene Kommunikation deutete darauf hin, dass Khan Haftbefehle gegen Israelis erlassen wollte, aber laut einer mit dem Inhalt vertrauten Quelle „enormem Druck aus den Vereinigten Staaten“ ausgesetzt war.
Bensouda, die als Chefanklägerin 2021 die Ermittlungen des IStGH einleitete und damit den Weg für die Ankündigung der vergangenen Woche ebnete, wurde ebenfalls ausspioniert und angeblich bedroht.“
Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 6. August 2025
Warweg
Laut einer aktuellen Recherche von ‘Le Monde’ war neben den USA, Israel und Großbritannien auch Deutschland ab Mai 2024 an der Einschüchterungskampagne gegen den Chefermittler des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH bzw. ICC) Karim Ahmad Khan beteiligt, um ihn von der Ausstellung von Haftbefehlen gegen Netanjahu und Galant wegen mutmaßlichen Kriegsverbrechen in Gaza abzuhalten. Da würde mich interessieren: Kann die Bundesregierung denn diese versuchte Einflussnahme durch staatliche deutsche Akteure auf den Chefermittler des ICC so bestätigen?
Deschauer (AA)
Ich habe jetzt den Medienbericht nicht vorliegen und würde ihn auch, wenn er hier vorliegen würde, nicht kommentieren. Aber Ihnen muss doch völlig klar sein, dass Deutschland – und das haben wir hier oft erläutert – einer der größten Unterstützer des internationalen Völkerrechts ist und auch des Völkerstrafrechts und ich deswegen ehrlicherweise solche Formulierungen von Ihnen hier in keinster Weise bestätigen würde. Im Gegenteil, wir sind einer der größten Unterstützer des Völkerrechts und das ist und bleibt so und alles Weitere bleibt Ihrer eigenen Wahrnehmung überlassen.
Zusatz Warweg
Ich hätte noch eine Nachfrage, Frau Deschauer: Namentlich genannt wird in der Recherche von ‚Le Monde‘ Baerbocks Staatssekretärin im AA, Susanne Baumann. Diese soll Anfang Mai 2024 im Zusammenspiel mit dem damaligen US-Außenminister Blinken und dem US-Sicherheitsberater Sullivan in wechselnden Anrufen und Videokonferenzen versucht haben, Khan einzuschüchtern – ‚Le Monde‘ spricht auch tatsächlich von ‚intimider‘ – unter Druck gesetzt haben. Frau Baumann konkret soll unter anderem ihn damit unter Druck gesetzt haben, dass sie gesagt hat, wenn er diese Haftbefehle ausstelle, er das Leben von israelischen Geiseln in Gaza sowie die, bis dato gar nicht existenten Friedensverhandlungen, gefährden würde. Da würde mich wieder interessieren, die Darstellung des Auswärtigen Amtes. Gab es die von ‚Le Monde‘ geschilderten Telefonate und Videocalls der entsprechenden Staatssekretärin mit dem Chefermittler des ICC? Und wenn ja, geschah das auf Anordnung der damaligen Bundesaußenministerin und baldigen Präsidentin der UN General Assembly (UNGA)?
Deschauer
Herr Warweg, ich habe ja Ihre Frage schon beantwortet, dass ich auch diesen Medienbericht, auf den Sie sich beziehen, hier nicht vorliegen habe und ich ihn jetzt auch nicht weiter kommentieren würde. Ich habe unsere Grundsatzhaltung geäußert, dass institutionell es Kontakte im Grundsatz zwischen einem Auswärtigen Amt und der Bundesregierung und relevanten Stellen gibt. Ich glaube, das müsste auch Ihnen eingängig sein. Das bezieht sich aber nicht auf Ihren hier zitierten ‚Le Monde‘-Bericht.
Warweg
Ich hätte…
BPK-Moderation Welty
Nein, Entschuldigung, wir sind am Ende der Zeit. Vielen, vielen Dank. Ich weiß, dass nicht alle drangekommen sind. Es tut mir leid, Möglichstes gegeben. Merci vielmals. Danke Ihnen. Guten Tag.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 06.08.2025
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Bundesregierung will grundsätzlich keine Aussagen zu israelischen Kriegsverbrechen tätigen