Der Berliner CDU/SPD-Senat geht davon aus, dass die Zahl der erfassten Wohnungslosen in Berlin bis zum Ende des Jahrzehnts von derzeit 55.656 auf rund 86.000 steigen wird. Zählt man Flüchtlinge mit einem Bleiberecht dazu, die derzeit mangels Wohnraums in Gemeinschaftsunterkünften oder Erstaufnahmestellen untergebracht sind, dann steigt der Unterbringungsbedarf sogar auf rund 114.000 Menschen. Das geht aus der Antwort der zuständigen Senatsverwaltung auf eine Anfrage des Abgeordneten Taylan Kurt (Grüne) hervor, die Mitte Juli veröffentlicht wurde. Von Rainer Balcerowiak.
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Doch selbst diese Horrorzahlen spiegeln die tatsächliche Größenordnung der Wohnungslosigkeit nur eingeschränkt wider. Denn vollständig erfasst werden nur die diejenigen Betroffenen, die in irgendeiner Form behördlich registriert und untergebracht werden, sei es in Trägerwohnungen, Obdachlosenheimen, Hostels oder dauerhaften Notunterbringungen. Zwar rechnet der Senat bei seinen Zahlen auch informell bei Freunden oder Bekannten ohne Vertragsstatus untergekommene Betroffene sowie Obdachlose dazu, die ganz oder überwiegend auf der Straße leben, doch gerade in diesen beiden Segmenten gibt es riesige Grauzonen bis hin zu illegalen Miet- und Untermietverhältnissen, die keine Wohnsitzanmeldung ermöglichen und faktisch von einem Tag zum anderen beendet werden können. Das betrifft in Berlin auch viele Studenten.
Wohnungslosigkeit wird in der Stadt vor allem als harte Obdachlosigkeit wahrgenommen, wobei die Schätzungen der Anzahl der Betroffenen weit auseinandergehen und zwischen 6.000 bis 10.000 liegen. Vor allem in innerstädtischen Gebieten begegnet man immer häufiger Menschen, die alleine oder in Gruppen auf der Straße leben – mit Schlafsäcken, provisorischen Zelten und oft einem Einkaufswagen mit den verbliebenen Habseligkeiten. Man sieht sie direkt auf Straßen und Plätzen, in Hauseingängen und Unterführungen, in Parks und U-Bahnhöfen. Viele von ihnen – geschätzt werden bis zu zwei Drittel – sind gestrandete Wanderarbeiter aus Ost- und Südosteuropa, die von behördlichen und anderen Hilfsangeboten kaum oder überhaupt nicht erreicht werden. Gestiegen ist aber auch die Zahl der obdachlosen Kinder und Jugendlichen.
Dramatischer Wohnungsmangel soll nur verwaltet werden
Aber diese extreme Form der Wohnungslosigkeit ist „nur“ die deutlich sichtbare Spitze des Eisbergs, während die anderen „geregelten“ oder informellen Formen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. Der „Einstieg“ in die Wohnungslosigkeit ist in Berlin in den vergangenen Jahren sozusagen immer niedrigschwelliger geworden und beginnt oft mit dem Verlust der Wohnung durch Kündigung wegen Mietschulden oder auch wegen – oftmals vorgetäuschten – Eigenbedarfs des Besitzers. Auch Durchschnittsverdiener haben in Berlin so gut wie keine Chance auf eine neue, bezahlbare Wohnung, für die wenigen entsprechenden Angebote gibt es nicht selten 300 und mehr Bewerber. Und wer vermietet schon seine Wohnung an jemanden, der zuvor Mietschulden hatte. Zwar gibt es ein sogenanntes „geschütztes Marktsegment“ für von Wohnungslosigkeit bedrohte oder bereits wohnungslose Menschen, aber das umfasst einer Kooperationsvereinbarung zwischen dem Senat und den landeseigenen Wohnungsunternehmen zufolge lediglich 1.350 Wohnungen pro Jahr – angesichts von schon jetzt 55.600 Wohnungslosen mit deutlich steigender Tendenz ein eher homöopathisches Angebot.
Was den Betroffenen bleibt, ist das Ausweichen auf prekäre, informelle und oftmals nur temporäre Unterkünfte, die Inanspruchnahme behördlicher Unterbringungen unter teilweise katastrophalen Bedingungen oder der Absturz in die harte Obdachlosigkeit mit oftmals dramatischen Folgen für die physische und psychische Verfassung. Das alles weiß der Berliner Senat natürlich, doch außer seit über einem Jahrzehnt in steter Regelmäßigkeit veröffentlichten Phantasieplänen zur stufenweisen „Überwindung der Wohnungslosigkeit“ kam und kommt da nichts. Auch in der Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Taylan Kurt kamen da nur ein paar warme Worte und marktübliches Bürokraten-Blabla. Verwiesen wurde auf „aktuelle Vorhaben zur Stärkung des Regelsystems der Wohnungsnotfallhilfe“. So würde die „gesamtstädtische Steuerung der Unterbringung vorangetrieben, deren zentrales Ziel es ist, eine bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Unterbringung für alle von Wohnungslosigkeit bedrohten oder betroffenen Personen zu gewährleisten“. Wichtig sei auch eine „gelingende Präventionsarbeit durch die bezirklichen Sozialen Wohnhilfen bei der Weiterentwicklung hin zu Fachstellen, der Digitalisierung und bei der Sicherstellung einheitlicher Qualitätsstandards in der Präventionsarbeit“.
Zudem habe man „die niedrigschwelligen Hilfen für wohnungslose Menschen in den letzten Jahren kontinuierlich ausgebaut. So konnten Angebote wie Notübernachtungen, Beratung und Straßensozialarbeit ausgeweitet werden“, denn „Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden ist eine der großen sozial- und wohnungspolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre“. Immerhin räumt man ein, dass die sozialpolitischen Maßnahmen wohl nicht reichen: „Größtes Hindernis bei der Überwindung der Wohnungslosigkeit ist der eklatante Mangel an bezahlbarem Wohnraum.“ Und generell setze man auch auf die Bundesregierung, die mit ihrem Nationalen Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit (NAPW) „eine größere Verantwortung bei der Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit übernommen hat“.
„Housing First“ wäre eine Alternative
Als besonders zynisch kann man wohl ein spezielles Eigenlob des Senats einstufen: „Housing First“ wird in Berlin seit 2018 kontinuierlich ausgebaut und soll in die Hilfen nach §§ 67 ff. SGB XII integriert werden (was immer das heißen mag). In der Tat ist „Housing First“ ein seit vielen Jahren erprobtes und erfolgreiches Konzept zur Überwindung von Wohnungslosigkeit. Bei „Housing First“ rückt regulärer Wohnraum an die erste Stelle – ein entscheidender Unterschied zum derzeit meist praktizierten System. Darin müssen Betroffene oft ihre „Wohnfähigkeit“ zunächst unter Beweis stellen, die Zurverfügungstellung von regulärem, unbefristetem Wohnraum ist an die Erfüllung von Auflagen und Wohlverhalten gekoppelt.
Bei „Housing First“ besteht von Anfang an ein normales, unbefristetes Mietverhältnis mit allen Rechten, Pflichten und Regeln. Wohnbegleitende Hilfen werden aktiv angeboten: Betroffene werden dazu ermutigt, Probleme mit Unterstützung anzugehen, aber nicht dazu verpflichtet. Dort, wo Housing First bereits praktiziert wird, sind die Ergebnisse überzeugend – etwa in Helsinki, wo mit Hilfe dieses Konzeptes die Obdachlosigkeit inzwischen fast vollständig überwunden werden konnte. Und Berlin so, wo „Housing First“ laut Senat „seit 2018 kontinuierlich ausgebaut wird“? Bis zum heutigen Tag wurden weniger als 250 Wohnungen über verschiedene Träger nach diesem System belegt.
Aber offensichtlich hat sich der Berliner Senat längst damit abgefunden, dass die Zahl der Wohnungslosen (also nicht nur der Obdachlosen) weiter rasant steigen wird. Und es wird auch nichts Nennenswertes unternommen, um in den entfesselten Wohnungsmarkt einzugreifen. In keiner anderen deutschen Großstadt sind die Mieten in den vergangenen Jahren so stark gestiegen wie in Berlin. Die selbst gesteckten Neubauziele im Bereich bezahlbarer Wohnraum sind wenig ambitioniert und werden dennoch regelmäßig krachend verfehlt. Natürlich liegt die Verantwortung in vielen Bereichen bei der Bundesregierung, etwa bei der Mietenregulierung. Aber dennoch hätte das Land etliche Stellschrauben, um da einzugreifen. Viele dieser Punkte wurden in den letzten Monaten (in unterschiedlicher Gewichtung) auch von den Oppositionsparteien Grüne und Linke aufgegriffen, die entsprechende Gesetzentwürfe in der Pipeline haben.
Einige der dringend notwendigen und im Prinzip auch möglichen Interventionen im Sinne von Mietern und Wohnungslosen seien an dieser Stelle mal zusammengefasst.
- Im Neubau braucht es ein umfassendes kommunales Wohnungsprogramm, in unmittelbarer öffentlicher Trägerschaft – also weder in Form von Fördermitteln für „Sozialwohnungen“, die dann nach 15 bis 20 Jahren aus der Mietpreis- und Belegungsbindung fallen, noch über landeseigene Wirtschaftsunternehmen, die ihre Investitionen in den Neubau aus ihren Erlösen auch aus den Bestandsmieten finanzieren müssen. Neubau muss als Teil der öffentlichen sozialen Daseinsvorsorge verstanden und dem Markt so weit wie möglich entzogen werden.
- Im Bestand müssen spekulativer Leerstand, Zweckentfremdung und illegale Mietpreisüberhöhung endlich konsequent erfasst und bekämpft werden. Das seit vielen Jahren versprochene Wohnungskataster wäre ein erster notwendiger Schritt in diese Richtung. Der erfolgreiche Volksentscheid zur Vergesellschaftung großer privater Wohnungskonzerne muss endlich umgesetzt werden, um diese Wohnungen in kommunale Bewirtschaftung zu überführen.
- Zur Überwindung der Obdach- bzw. Wohnungslosigkeit muss das Land deutlich mehr Belegungsrechte für betroffene und gefährdete Personen wahrnehmen können, auch bei privaten Vermietern (gab es in Westberlin früher mal).
- „Housing First“ muss raus aus der Bonsai-Nische und zum Kernelement der Überwindung (und auch Verhinderung) von Obdachlosigkeit werden.
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