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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Geschichtsverfälschung und Demokratiedefizite auf höchster EU-Ebene
Datum: 12. September 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
Verantwortlich: Redaktion
Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas behauptet in einem Interview, der Sieg der Sowjetunion und Chinas im Zweiten Weltkrieg sei ein falsches „Narrativ“ und erzeugt damit einen diplomatischen Eklat mit China. Auf EU-Ebene fordert sie „qualifizierte Mehrheitsentscheidungen“, beispielsweise bei den Sanktionspaketen, aber auch bei „vielen anderen“ Themen. Vetorecht sei „keine echte Demokratie“. Im „Kampf um Narrative“ sollten „Führer“ das Volk „erziehen“. Von Karsten Montag.
Die Äußerung von Kaja Kallas, EU-Außenbeauftragte und Vizepräsidentin der EU-Kommission, der Sieg der Sowjetunion und Chinas im Zweiten Weltkrieg sei eine falsche Darstellung, hat scharfe Reaktionen in Peking ausgelöst. Aus dem Englischen übersetzt sagte sie am 3. September in Brüssel während eines Interviews im Rahmen einer Konferenz der EU-Denkfabrik European Institute for Security Studies (EUISS):
„Ich war bei einem ASEAN-Treffen [ASEAN: Verband Südostasiatischer Nationen, Anm. d. Verf.] und eine Sache, die interessant war, war, dass Russland China ansprach, etwa so: ‚Russland und China, wir haben den Zweiten Weltkrieg geführt. Wir haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Wir haben die Nazis besiegt.‘ Ich dachte mir: Okay, das ist etwas Neues. Aber dann sieht man, dass man, wenn man die Geschichte kennt, viele Fragezeichen im Kopf hat. Aber ich kann Ihnen sagen, dass die Menschen heutzutage nicht mehr so viel lesen und sich nicht mehr so gut an die Geschichte erinnern. Das heißt, man sieht, dass sie diese Narrative glauben.“
Ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums bezeichnete die Äußerungen von Kallas als eine „Missachtung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“ sowie als „völlig falsch und unverantwortlich“. Die chinesische Regierung hoffe, dass „einige in der EU“ die falschen Äußerungen unverzüglich „korrigieren“ und zu „soliden Beziehungen“ zwischen China und der EU beitragen, „anstatt das Gegenteil zu bewirken“.
Der Zweite Japanisch-Chinesische Krieg vom 7. Juli 1937 bis 9. September 1945 wird in der Geschichtsschreibung zweifellos als Teil des Zweiten Weltkriegs angesehen. China hat sogar am 9. Dezember 1941 Deutschland, Italien und Japan den Krieg erklärt. Zweifellos haben die Chinesen mit Unterstützung der Sowjetunion und der USA auch die japanische Besetzung ihres Landes beendet. Umstritten ist lediglich die Rolle der Kommunisten unter der Führung von Mao Zedong in der Befreiung des Landes. Denn China befand sich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs und danach in einem Bürgerkrieg zwischen den Nationalisten und Kommunisten. Die heutige Volksrepublik China wurde erst 1949 von Mao ausgerufen.
Nach einer Anfrage der NachDenkSeiten, ob das deutsche Außenministerium die Sichtweise von Kallas teilt und die Bundesregierung die Aussagen der EU-Außenbeauftragten öffentlich korrigieren wird, war aus dem Auswärtigen Amt zu hören:
„Die Leistung der Alliierten ist unbestritten. Historische Einordnungen gehören nicht zu den Aufgaben des Auswärtigen Amts.“
Verwechselt die oberste Diplomatin der EU Ereignisse und Personen?
Es stellt sich angesichts der Aussagen der Rechtsanwältin und ehemaligen estländischen Premierministerin Kallas die Frage, ob ihr die geschichtlichen Fakten schlichtweg nicht bewusst waren oder ob sie in dem Interview etwas anderes meinte und sich nur ungeschickt ausgedrückt hat. Um das herauszufinden, ist es wichtig zu wissen, was auf dem ASEAN-Treffen, an dem Kallas teilgenommen hat, genau kommuniziert wurde.
Das einzige ASEAN-Treffen, dem Kallas beiwohnte, die „ASEAN-Konferenz nach dem Ministertreffen“, fand vom 10. bis 11. Juli 2025 im Anschluss an das einen Tag zuvor abgehaltene 58. ASEAN-Außenministertreffen in Kuala Lumpur, Malaysia, statt. Auch der russische Außenminister Sergej Lawrow nahm an der Konferenz teil und hielt am 10. Juli beim Treffen der ASEAN-Außenminister mit Russland eine Rede, auf die sich Kallas offensichtlich bezieht. Darin äußerte Lawrow:
„In diesem Jahr begehen wir den 80. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Die Niederlage Nazi-Deutschlands und des militaristischen Japans, zu der unser Land entscheidend beigetragen hat, schuf die Voraussetzungen für den Beginn des Entkolonialisierungsprozesses, auch in Asien, und die anschließende Bildung einer modernen Sicherheits- und Kooperationsarchitektur im asiatisch-pazifischen Raum.“
Im Rahmen der Veranstaltungen hielt Kallas auch selbst eine Rede, in der sie sich direkt auf die Aussagen des russischen Außenministers bezieht. So sagte sie:
„Mit dem Ende des Weltkriegs und auch dem Kampf gegen den Nationalsozialismus waren es nicht nur die Russen, die gekämpft haben. Wenn man sich die Fakten ansieht, waren es tatsächlich die Weißrussen, Ukrainer, auch Russen, aber vor allem Weißrussen, Ukrainer und Litauer, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben.“
Abgesehen davon, dass sich diese Formulierung nicht mit ihren Aussagen auf der EUISS-Konferenz in Brüssel deckt, ist darin eine weitere potenzielle Geschichtsverfälschung enthalten. Denn einer russischen Quelle zufolge sind im Zweiten Weltkrieg 5,8 Millionen ethnisch russische und 1,4 Millionen ukrainische Soldaten gefallen. Zudem sollen laut der Quelle von den 34 Millionen Menschen, die in jener Zeit in der Roten Armee gedient haben, lediglich acht Millionen nicht-slawischer Abstammung gewesen sein.
Sollte Kallas sich in ihrem Interview in Brüssel tatsächlich auf die Rede des russischen Außenministers in Kuala Lumpur beziehen, worauf alles hindeutet, erscheint ihre Wahrnehmung verzerrt. Doch die möglichen Hintergründe für ihre Äußerungen auf der EUISS-Konferenz lassen sich noch weiter verfolgen.
Am 2. September, genau ein Tag vor Kallas’ Interview auf der Konferenz in Brüssel, erschien in der New York Times ein Beitrag über ein Treffen am selbigen Tag zwischen dem chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin in Peking. Darin wird berichtet, dass Xi die Rolle der Sowjetunion und Chinas bei der Beendigung des Zweiten Weltkriegs gelobt und die beiden Länder als „Hauptsieger“ des Konflikts bezeichnet habe. Weiter heißt es in dem Beitrag der US-Tageszeitung, der Kampf der Sowjetunion gegen Nazi-Deutschland stehe im „Mittelpunkt von Putins historischer Erzählung“, in der er seinen heutigen Krieg gegen die Ukraine als einen „ähnlich gerechten und historischen Kampf“ darstellt. Für Xi sei die Darstellung der Kriegszeit ein Mittel, um das Image Pekings im Inland als „Retter des Landes“ und im Ausland als „Stabilitätsfaktor“ zu verbessern sowie die territorialen Ansprüche Chinas gegenüber Taiwan zu untermauern.
Aus dieser Rekonstruktion lässt sich erahnen, dass die oberste Diplomatin der EU offensichtlich Ereignisse und Personen verwechselt sowie ihr geschichtliches Wissen und die zugehörigen zeitgenössischen Interpretationen hauptsächlich aus der US-Mainstreampresse bezieht.
Kaja Kallas für ihre extremen Positionen gegenüber Russland und Russen bekannt
Als die damalige estnische Premierministerin im Juni 2024 für den Posten der EU-Außenbeauftragten nominiert wurde, erschienen bei den NachDenkSeiten gleich zwei Beiträge, die auf ihre antirussische sowie proamerikanische Haltung hingewiesen haben. So fordere sie einen „militärischen Sieg“ über Russland, halte einen Waffenstillstand für sinnlos und habe sogar die Idee in den Raum gestellt, Russland nach einem militärischen Sieg der Ukraine in kleinere Staaten aufzuteilen. Anfang 2024 habe sie ihr Justizministerium gedrängt, den im Land lebenden Russen das kommunale Wahlrecht zu entziehen. Dem Vertreter des Moskauer Patriarchats und höchsten Würdenträger der Orthodoxie habe ihre Regierung die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis verweigert.
Des Weiteren ist bekannt, dass sie in ihrer Amtszeit als estländische Ministerpräsidentin Denkmäler der Roten Armee entfernt hat. Zudem hat die estnische Regierung unter ihrer Führung nach Möglichkeiten gesucht, in Estland permanent lebende ethnische Russen mit russischer Staatsbürgerschaft aus dem Land zu vertreiben, wenn diese nicht bereit seien, die estnische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Ethnische Russen stellen mit 21 Prozent Anteil die größte Minderheit in der estnischen Bevölkerung.
Das alles hat nach Informationen der Tagesschau offenbar dazu geführt, dass Kallas sowie weitere estnische Regierungsmitglieder Anfang 2024 in Russland zur Fahndung ausgeschrieben wurden.
Kallas: Vetorecht in der EU „keine echte Demokratie“
Zu ihren historisch äußerst fragwürdigen Aussagen zum Zweiten Weltkrieg, die zu dem außenpolitischen Eklat mit China geführt haben, sowie ihrer offensichtlichen Abneigung gegenüber allem Russischen gesellen sich noch ein sonderbares Demokratieverständnis und schwer nachvollziehbare Argumentationen. So forderte sie im Brüssler Interview im Kontext der EU-Sanktionspakete gegen Russland eine „qualifizierte Mehrheitsentscheidung“ auf EU-Ebene für Entscheidungen, bei denen Einstimmigkeit gilt. Kallas begründete ihre Forderungen mit einem stark hinkenden Vergleich. So sagte sie, „Koalitionen der Willigen“ seien „keine schlechte Sache“. Auch die Eurozone und das Schengen-Abkommen seien am Anfang „Koalitionen der Willigen“ gewesen, zu denen auch andere beitreten könnten.
Es fällt schwer, die Logik der EU-Außenbeauftragten zu verstehen. Denn sowohl zum Schengen-Abkommen und insbesondere zur Eurozone sind noch nicht alle EU-Mitglieder beigetreten. Zudem steht es jedem EU-Mitgliedsland frei, eigene – oder im Verbund mit anderen Ländern – Sanktionen zu verhängen. So hat Spanien erst kürzlich ein Waffenembargo gegen Israel verhängt. Ihre Forderung macht erst dann einen Sinn, wenn man in ihrer darauffolgenden Äußerung zwischen den Zeilen liest. Nicht nur bei den Sanktionen, sondern auch bei „vielen anderen“ Themen sei es „keine echte Demokratie“, wenn einer blockiert und 26 weitermachen wollen, erklärte Kallas. Mit den vielen anderen Themen meint die EU-Außenbeauftragte ganz offensichtlich die Androhungen der ungarischen Regierung, den zukünftigen EU-Haushalt zu blockieren und gegen eine Aufnahme der Ukraine in die Europäische Union zu stimmen. Über den Transmissionsriemen der Auseinandersetzung mit Russland wirbt Kallas dafür, fundamentale innenpolitische EU-Vereinbarungen auszuhebeln und der EU-Kommission mehr Macht zu verleihen.
Eklatante Mängel bei geisteswissenschaftlichen Kenntnissen oder Demokratiedefizite
Dass die EU-Topdiplomatin es nicht so genau mit der Demokratie nimmt und/oder nur über sehr begrenzte geisteswissenschaftliche Kenntnisse verfügt, zeigt eine ihrer weiteren Aussagen im Zusammenhang des „Kampfes um Narrative“ in dem Brüssler Interview:
„Es war Platon, der sagte, dass es auch Aufgabe der Führer sei, die Menschen zu erziehen.“
Zu Zeiten Platons herrschte in Athen eine Aristokratie. Platon war im Grunde ein Anhänger der Monarchie. Aus seiner Sicht sollten „Philosophenkönige“ das Volk regieren. Im Prozess des Verfalls der „Philosophenherrschaft“ sah er an zweiter Stelle die Aristokratie, die seiner Ansicht nach eine „Herrschaft der Besten“ sein sollte. Dass Platon die Demokratie als Herrschaftsform nicht sonderlich schätzte, ist daran zu erkennen, dass sie in seinem Verfallsprozess erst nach der Timokratie („Herrschaft der Angesehenen“) und der Oligarchie („Herrschaft der Wenigen“) folgte. Die Demokratie münde schlussendlich, so der antike Philosoph, bezeichnenderweise in eine Tyrannei.
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