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Titel: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat …
Datum: 17. September 2025 um 11:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Sozialstaat
Verantwortlich: Redaktion
… gewesen. So kurz und prägnant lassen sich die Vorhaben der aktuellen schwarz-roten Bundesregierung zusammenfassen. Dieses erschütternde Resümee mag zwar jene „Christdemokraten“ und „Sozialdemokraten“, die diese Entwicklung maßgeblich vorantreiben, nur wenig beeindrucken. Das Dumme ist nur: Der Satz in der Überschrift stammt aus Artikel 20 des Grundgesetzes, der mit der sogenannten „Ewigkeitsklausel“ vor Änderungen geschützt ist. Doch er wird von den Politikern, die in Regierungsverantwortung stehen, seit Jahrzehnten beharrlich ignoriert. Ein Kommentar von Lutz Hausstein.
Seit über 20 Jahren steht der deutsche Sozialstaat schwer unter Beschuss. Und zwar unter Beschuss vonseiten der Politik, die eigentlich die Aufgabe hat, ihn zu garantieren. Den Anfang machte vor über 20 Jahren die rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder, der mit seiner Agenda 2010 den Sozialstaat zwar nicht kurz und klein schlug, ihn aber massiv verstümmelte. Begleitet wurde dies durch regelrecht aktivistische Kampagnen in TV, Print und Radio, in denen diese Medien den Arbeitslosen massiv negative Attribute anhängten: dumm, faul, verwahrlost – und trotzdem in Saus und Braus lebend. Spätrömische Dekadenz, wie der damalige FDP-Vorsitzende und Außenminister Guido Westerwelle meinte, verlautbaren zu müssen.
Der Aufschrei in der Öffentlichkeit war vielstimmig und enorm. In einer großen Anzahl von Städten fanden riesige Demonstrationen statt, die teils über 100.000 Teilnehmer vereinten und in Einzelfällen sogar weit über ein Jahrzehnt lang, wenngleich mit stetig sinkender Teilnehmerzahl, dauerhaft stattfanden. Auch aus der Wissenschaft gab es zahlreichen Widerstand gegen diese Politik, dessen Wirksamkeit jedoch mittels unzureichender, teils gar völlig ausgebliebener Wiedergabe in den Medien massiv eingeschränkt wurde.
Allen gesellschaftlichen Widerständen zum Trotz zog Schröder seinen Stiefel durch. Er ließ sich nicht davon beirren, dass eine nicht unerhebliche Zahl an Parteimitgliedern die SPD verließ und ein Teil von ihnen eine neue Partei, die WASG, gründete, deren wichtigster Programmpunkt die Wiederherstellung eines intakten Sozialstaates durch die Rückabwicklung der Schröder’schen Agenda-Politik war. Schröder widersetzte sich auch der Tatsache, wahrzunehmen, dass sein als „Reformpolitik“ verkleideter Sozialabbau auch die Wählerzahlen der SPD von 40,9 Prozent (1998) auf 34,2 Prozent (2005) schmelzen ließ.
Da die SPD trotz allem „eisern“ an Hartz-IV & Co festhielt und auch in der ab 2005 folgenden schwarz-roten Regierung auf dieser Politik beharrte, war der weitere Absturz auf nunmehr 23,0 Prozent (2009) unvermeidbar. Es ließ Schröder und alle weiteren SPD-Protagonisten seiner Agenda-Politik nicht einmal hellhörig werden, als seitens CDU oder FDP sowie der Arbeitgeberverbände permanente Lobgesänge auf Schröders „mutige Reformpolitik“ öffentlich gemacht wurden. Spätestens an der Stelle hätten sie doch begreifen müssen, dass sie die Politik des politischen Gegners umgesetzt hatten.
An diesem Punkt ist auch einmal auf den Begriff der „Reformen“ bzw. der „Reformpolitik“ einzugehen. Schon am 1. Dezember 2003 veröffentlichte der NachDenkSeiten-Herausgeber Albrecht Müller als einen der ersten Artikel auf den damals neu gegründeten NachDenkSeiten eine kritische Bewertung von Schröders Reformpolitik und wies später wiederholt darauf hin, wie irreführend der früher positiv konnotierte Begriff der „Reform“ inzwischen durchgehend eingesetzt wird. Reformen – früher verbunden mit dem Fakt, dass durch strukturelle Veränderungen eine grundsätzliche Verbesserung für die Menschen erzeugt wird – führen inzwischen zum Gegenteil, einer Verschlechterung, und werden nur deshalb mit diesem Wort bezeichnet, um der breiten Masse der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen. „Notwendige Reformen“ – gern auch als „Reformstau“ bezeichnet – sind das Mittel der Wahl, um Deutschland wieder „auf einen guten Weg zu bringen“. Absolut lesenswert ist auch der Artikel Albrecht Müllers „Kollektiver Wahn“. Manche der dort beschriebenen Schlagworte dürften vielen von uns auch von heute vertraut bekannt vorkommen.
Die Kampagne von heute ist letztlich auch nur ein Aufguss der Kampagne von vor über 20 Jahren. Mehr fällt den neoliberalen Sozialstaatskürzern nicht ein. Kaum kommt vonseiten führender deutscher Medien und Arbeitgeberverbänden die Forderung nach einer neuerlichen „mutigen Reformpolitik“, wie es einst die Agenda 2010 gewesen sei, springt der ohnehin als Wadenbeißer bekannte Carsten Linnemann, seines Zeichens CDU-Generalsekretär, der gern mal eiskalte Forderungen mit einer freundlich-warmen Miene vorträgt, dankbar auf diesen Zug auf. Hier kommt dann auch wieder die feige Politik der SPD-Genossen zum Tragen. Denn ihr unbeirrbares Festhalten an der Behauptung, dass die Agenda 2010 gut für das Land gewesen sei, gibt Linnemann die Vorlage für seinen erneuten Angriff auf die sozialen Grundfeste dieses Landes.
Linnemanns Verlangen ist jedoch, genauso wie Merz‘ Forderung nach einer Senkung der Kosten für das Bürgergeld um pauschal zehn Prozent, von Fakten völlig unbeleckt. Beide – ebenso wie weitere Wortführer ähnlicher Forderungen – ignorieren geflissentlich das Grundgesetz, mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sowie Expertenberichte von Sozialverbänden und wissenschaftliche Expertisen anderer Verbände, Organisationen und Fachleute.
Auch hier stimmt die SPD wieder in die Melodie mit ein. Sozialministerin Bärbel Bas ignoriert mit ihrer Forderung nach „härteren Sanktionen“ für Bürgergeldbezieher die ohnehin schon wachsweiche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2019, in der deutliche Einschränkungen und mehrere Voraussetzungen für eine Sanktionierung oberhalb von 30 Prozent festgelegt wurden. Bas missachtet weiterhin die Tatsache, dass der weitaus größte Teil der „Verweigerung“, nämlich über 80 Prozent, sogenannte „Meldeversäumnisse“ betrifft. Dass Menschen einen Termin im Jobcenter nicht wahrnehmen, kann jedoch verschiedene Ursachen haben. Menschen erhalten die Terminbekanntgabe nicht rechtzeitig. Genauso gibt es aber auch Menschen, die sich in einer psychischen Notlage befinden, die aufgrund negativer Erfahrungen mit dem Jobcenter oder sogar ihrem persönlichen Fallmanager eine Angststörung entwickelt haben, die sie hindert, Post aus dem Briefkasten zu nehmen oder Post vom Jobcenter überhaupt erst zu öffnen. Diese Menschen erreicht man nicht mit Druck, erst recht nicht mit Sanktionen. Sie benötigen behutsame Hilfe und Unterstützung.
Man kann – und sollte dies meiner Meinung nach auch – die Möglichkeit der Minderung des Existenzminimums mittels Sanktionen aber auch deutlich radikaler sehen. Schon in meinem ersten Artikel auf den NachDenkSeiten im November 2012, also vor mehr als 12 Jahren, schrieb ich unter anderem:
„Schon allein anhand der reinen Begrifflichkeit des „Existenzminimums“ kommen starke Zweifel auf, ob es überhaupt zulässig ist, ein Minimum, mit welchen Mitteln auch immer, zu unterschreiten. Denn eine Steigerung des Superlativs „Minimum“ im Sinne eines (noch) minimaleren Minimums ist ein undenkbares und unlogisches Paradoxon. Dies mag zwar als eine eher unwichtige Randnotiz dieser Betrachtung angesehen werden, doch es beschreibt auch auf sprachlicher Ebene sehr deutlich, wie widersprüchlich schon allein der Grundgedanke von Sanktionen ist.“
Auch die Forderung von Bundeskanzler Merz, die Kosten für das Bürgergeld mal einfach so um zehn Prozent zu verringern, was von vielen so interpretiert wird, die Höhe des Bürgergeldes um diese zehn Prozent zu senken, ist ohne Fach- und Sachkenntnis und ohne jegliche Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Vorgaben erfolgt. Der Berechnung des Bürgergeldes liegt ein mathematisch-statistisches Verfahren zugrunde. Der Betrag wird nicht einfach so nach politischem Gutdünken festgelegt. Zwar habe ich erhebliche Einwände gegen die Art des genutzten Verfahrens, aber es ist zumindest ein Verfahren. Was Friedrich Merz hier nun fordert, ist eine völlig willkürliche Festlegung des Betrages nach der politischen Vorgabe der Regierung.
Nun ist die Höhe des Bürgergeldes schon seit der Einführung des damals umgangssprachlich noch als Hartz-IV bezeichneten Regelsatzes im Jahr 2005 viel zu niedrig berechnet. Dem lagen auch schon zu diesem Zeitpunkt massive politische Einflussnahmen zugrunde, durch welche der Betrag künstlich kleingerechnet wurde. Meine weit darüberhinausgehende Kritik an der Art der Berechnungsmethode, der Statistikmethode, habe ich in einem Interview mit den NachDenkSeiten im Jahr 2015 einmal plastisch so beschrieben:
„Ich vergleiche das gern mit der absurden Situation, wenn sich jemand mit einem Digitalthermometer an die Autobahn stellen würde, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Autos zu messen. Das Thermometer liefert absolut exakte Daten, sogar bis auf die zweite Kommastelle genau. Wenn man diese Zahlen nun allerdings öffentlich als gemessene Geschwindigkeiten bezeichnen würde, wäre das Gelächter riesengroß. Zu Recht. Wenn allerdings die Ausgaben eines ebenfalls armen Bevölkerungsteils, der selbst bereits Mangel leidet, als „Bedarf“ einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe dargestellt werden, herrscht andächtige Stille.“
Dem habe ich meine Untersuchungen aus der Studienreihe „Was der Mensch braucht“, die auf der Warenkorbmethode basiert, entgegengesetzt. Nach 2010 und 2011 ist diese Analyse bisher im Jahr 2015 zum vorerst letzten Mal erschienen. Der damit berechneten Regelsatzhöhe von 733,62 Euro, die nach meinen Berechnungen das zum damaligen Zeitpunkt notwendige Existenzminimum bildeten, standen nur 399 Euro gegenüber, die mittels der Statistikmethode sowie anschließenden politisch motivierten Kürzungen „errechnet“ wurden. Schon damals musste ich in meiner Bewertung dieser differierenden Beträge konstatieren, dass der 2015 gezahlte Betrag gerade so zur Sicherung der rein physischen Existenz ausreicht. Die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach explizit vorgeschriebene sozio-kulturelle Teilhabe an der Gesellschaft wurde damit jedoch regelrecht verunmöglicht. Für weitere Details möchte ich allen Lesern ans Herz legen, die Studie von 2015 noch einmal zur Hand zu nehmen. In ihr finden sich ausführliche Erläuterungen zu den unterschiedlichen Berechnungsmethoden, ein Exkurs zu Sanktionen sowie eine volkswirtschaftliche und arbeitsmarktpolitische Einordnung.
Dieser Lücke, dem Differenzbetrag zwischen eigentlich notwendigem Regelsatzbetrag und dem tatsächlich bezahlten, hinken wir seitdem dauerhaft hinterher. So hat sich seit 2015 die finanzielle Situation für die Betroffenen auch nicht entspannt. Die massive Inflation in den Jahren 2021 bis 2023 wurde durch die nachträgliche Erhöhung des Bürgergeld-Regelsatzes in den Jahren 2023 und 2024 zwar annähernd ausgeglichen. So begrüßenswert, aber auch dringend notwendig diese Erhöhungen waren, bleibt meine Bewertung von 2015 damit weiterhin bestehen. Dieser Betrag sichert zwar das rein physische Überleben, die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Teilhabe an der Gesellschaft wird damit jedoch gesichert verhindert.
Gerhard Schröder und seine rot-grüne Bundesregierung haben den Sozialstaat in Deutschland sturmreif geschossen. Dem folgt nun eine schwarz-rote Regierung unter Friedrich Merz, die den Sozialstaat in Schutt und Asche zu legen versucht. Wenn nun gar entgegen den Fakten eine massive Kampagne gegen einen angeblich „ausufernden Sozialstaat“ gefahren wird, so ist das der Gipfel der Unverfrorenheit.
Wir können es uns nicht länger leisten, wenn populistische Politiker in der Öffentlichkeit Forderungen in den Raum stellen, die jeglicher Grundlage entbehren, und dabei das Grundgesetz mit Füßen treten. Gerade in einem so hochsensiblen Bereich wie dem Existenzminimum, bei dem jeder einzelne Euro über Existenz oder Nichtexistenz des Menschen entscheidet, ist solch ein Verhalten im höchsten Maße unverantwortlich. Wer all das missachtet, der pfeift auf das Grundgesetz, das Bundesverfassungsgericht – und letztlich auf seine christlichen Werte ebenso wie auf seine sozialen Wurzeln.
Im Jahr 2021 hat der Verfassungsschutz den Phänomenbereich der „Verfassungsrelevanten Delegitimierung des Staates“ eingerichtet:
„Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen dabei darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Eine derartige Agitation steht im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip.“
Anfrage an den Sender Jerewan: Sind Politiker, die den deutschen Sozialstaat schleifen wollen, obwohl das Grundgesetz sowie mehrere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts das explizit untersagen, unter diesen Phänomenbereich zu zählen? Antwort: Im Prinzip Ja, aber …
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