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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Meinungsfreiheit und politischer Kampf
Datum: 19. September 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, USA, Wertedebatte
Verantwortlich: Maike Gosch
In Reaktion und sicher auch unter Ausnutzung der aufgebrachten innenpolitischen Stimmung nach dem Mord an dem beliebten und umstrittenen Aktivisten Charlie Kirk wird gerade in den USA massiv die Einschränkung der Meinungsfreiheit vorangetrieben. Und das, nachdem besonders die Republikaner – wir erinnern uns an J. D. Vances Rede in München im Februar – so massiv die Einschränkung des öffentlichen Diskurses in Deutschland, Großbritannien und Europa und natürlich auch in den USA unter den Demokraten kritisiert hatten. Warum wird dieser Widerspruch nicht erkannt? Und ist Hass eine Meinung? Ein Artikel von Maike Gosch.
Am Mittwoch, den 17. September, kündete das US-amerikanische TV-Netzwerk ABC die Einstellung der Late-Night-Show „Jimmy Kimmel Live“ auf Druck der Trump-Regierung auf unbestimmte Zeit an. Grund dafür seien Kimmels Äußerungen über das Attentat an dem Aktivisten und Podcaster Charlie Kirk in seiner Sendung vom 15. September. Kimmel sagte dort unter anderem: „Wir haben am Wochenende neue Tiefpunkte erreicht, als die MAGA-Gang (Make America Great Again, Anm. d. Red.) verzweifelt versuchte, diesen Jungen, der Charlie Kirk ermordet hat, als irgendetwas anderes als einen von ihnen darzustellen, und alles tat, um daraus politisches Kapital zu schlagen.“ Es könnte auch sein, dass sein größeres „Vergehen“ nicht die Andeutung war, dass der Täter aus MAGA-Kreisen kam, sondern der zweite Teil seiner Anmerkungen, in denen er sich über die Reaktion von Trump auf eine Frage des Reporters zum Mord an Charlie Kirk lustig machte, die Kimmel in einem Video-Einspieler zeigte und kommentierte. Auf die Frage des Reporters, wie Trump sich die letzten anderthalb Tage gehalten habe (seit dem Mord), antwortet Trump in dem Video: „Sehr gut. Und übrigens, da drüben sehen Sie all die Bauwagen, die gerade angefangen haben, den neuen Ballsaal für das Weiße Haus zu bauen. (…) Er wird wunderschön.“ Kimmels Kommentar dazu: „Er befindet sich in der vierten Stufe der Trauerarbeit: Bauen.“ Und er fügte hinzu: „So trauert kein Erwachsener um jemanden, den er einen Freund nannte. So trauert ein Vierjähriger um einen Goldfisch.“
Wie das Wall Street Journal berichtete, begrüßte Trump am Mittwochabend die Nachricht, dass Kimmels Show abgesetzt wurde. „Glückwunsch an ABC, dass sie endlich den Mut hatten, das zu tun, was getan werden musste. Kimmel hat NULL Talent und noch schlechtere Einschaltquoten als Colbert, wenn das überhaupt möglich ist“, schrieb er auf Truth Social. Trump forderte den Nachrichtensender NBC im gleichen Post auch noch auf, die „The Tonight Show Starring Jimmy Fallon“ und „Late Night with Seth Meyers“ abzusetzen.
Dies ist aber nur ein kleiner Teil einer größeren und sehr bedenklichen Entwicklung in den USA. In Reaktion auf den Mord an Charlie Kirk, und – wie viele vermuten – unter Ausnutzung der aufgeheizten Stimmung, findet gerade auf vielen verschiedenen Wegen eine massive Verschärfung von Zensur und Repression statt, die sich gegen die „Linke“ und die Demokraten in den USA richtet. So erklärte die Generalstaatsanwältin Pam Bondi in einem Interview am Dienstag nach dem Mord:
„There’s free speech and then there’s hate speech, and there is no place, especially now, especially after what happened to Charlie, in our society … We will absolutely target you, go after you, if you are targeting anyone with hate speech.”
(„Es gibt freie Meinungsäußerung und es gibt Hassrede, und für Letztere ist in unserer Gesellschaft kein Platz, insbesondere jetzt, insbesondere nach dem, was Charlie passiert ist … Wir werden Sie mit aller Härte verfolgen, wenn Sie andere mit Hassreden angreifen.“)
In einem Interview wurde Trump kurz darauf von einem Reporter des Senders ABC gefragt, ob er kein Problem mit dieser Aussage habe, insbesondere da viele seiner (Trumps) Unterstützer und Verbündeter sagen würden: Auch Hassrede ist von dem Recht auf freie Meinungsäußerung umfasst. In seiner Antwort darauf schien er dem Reporter zu drohen und deutete an, dass seine Generalstaatsanwältin auch ihn und seinen Sender verfolgen würde, weil sie ihn so „unfair“ behandeln würden, und bezog sich dabei auf ein kürzlich zu seinen Gunsten ausgegangenes Gerichtsverfahren, in dem ABC wegen Falschaussagen über Trump zu einer Schadensersatzzahlung von 15 Millionen Dollar verurteilt wurde.
Eine weitere bedenkliche Entwicklung ist die Kündigungswelle von Menschen, die sich positiv oder mokierend über den Mord geäußert hatten. Die Washington Post berichtete über eine leitende Universitätsangestellte, die bei Facebook über Kirk geschrieben hatte: „Hass erzeugt Hass. Null Sympathie.“ Noch am selben Tag wurde ihr gekündigt. Ein Lehrer wurde laut NBC beurlaubt, weil er geschrieben hatte, die Nachricht von Kirks Tod habe seinen „Tag erhellt“.
US-Außenminister Marco Rubio drohte zusätzlich mit Ausweisungen und Visa-Entzug für Menschen, die „negatives oder destruktives Verhalten“ zeigten und „ein öffentliches Attentat“ feierten. Auch der stellvertretende Stabschef des Weißen Hauses Stephen Miller kündigte an: „Wir werden alle Wut, die wir haben, auf die organisierte Kampagne richten, die zu diesem Anschlag führte, um diese terroristischen Netzwerke zu entwurzeln und zu zerschlagen.“
Viele Kommentatoren auf Seiten der Demokraten, aber auch der Republikaner sehen in den aktuellen Entwicklungen und den geplanten Gesetzesverschärfungen den größten Angriff auf die Rede- und Meinungsfreiheit seit der McCarthy-Ära. Diese Sorge ist auch sehr berechtigt. So hat Donald Trump gerade angekündigt, die radikal linke Antifa-Bewegung als Terrororganisation einzustufen. Dies geht in die gleiche bedenkliche Richtung wie die Einstufung der Organisation „Palestine Action“ in Großbritannien als Terrororganisation für ihre Aktionen gegen israelische Waffenfirmen aufgrund deren Beteiligung am Völkermord in Gaza.
Viele Fans und Unterstützer von Charlie Kirk weisen auch auf den Widerspruch hin, dass Kirk sich für den freien Austausch von Ideen eingesetzt habe und nun der Mord an ihm zum Vorwand genommen würde, die Rede- und Meinungsfreiheit extrem einzuschränken. Ein X-Benutzer kommentierte die Aussage von Pam Bondi über die geplante stärkere Verfolgung von Hassrede (s.o.) mit dem folgenden Zitat von Kirk:
„Hate speech does not exist legally in America. There’s ugly speech.
There’s gross speech. There’s evil speech.
And ALL of it is protected by the First Amendment.
Keep America free.“
(„Es gibt juristisch keine Hassrede in Amerika.
Es gibt hässliche Rede. Es gibt vulgäre Rede. Es gibt bösartige Rede.
Und das ist ALLES durch den Ersten Verfassungszusatz geschützt.
Bewahren wir Amerikas Freiheit.“)
Es ist schon ironisch, dass die US-amerikanische Rechte, die sich in den letzten Jahren extrem für mehr Meinungsfreiheit stark gemacht hat und vom „Censorship Industrial Complex“ (Zensur-Industrieller-Komplex) (mehr dazu hier) sprach, jetzt so stark umschwenkt und selbst massive Zensurmaßnahmen ergreifen will.
Es ist gerade einmal ein halbes Jahr her, dass US-Vizepräsident J. D. Vance seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres mit diesen Worten beendete:
„An die Demokratie zu glauben bedeutet, zu verstehen, dass jeder unserer Bürger Weisheit besitzt und eine Stimme hat. Und wenn wir uns weigern, diese Stimme zu hören, werden selbst unsere größten Erfolge nur wenig Bestand haben. Wie Papst Johannes Paul II., für mich einer der außergewöhnlichsten Verfechter der Demokratie auf diesem oder jedem anderen Kontinent, einst sagte: ‚Fürchtet euch nicht.‘
Wir sollten keine Angst vor unserem Volk haben – selbst dann nicht, wenn es Ansichten äußert, die nicht mit der Meinung der Führung übereinstimmen.“
Für diese Rede und die in ihr enthaltene Kritik an der Einschränkung der Meinungsfreiheit in der EU und in Großbritannien gab es in Deutschland viel Zustimmung, insbesondere von AfD-nahen Kreisen, aber auch von klassischen Liberalen, die diese Entwicklungen ebenfalls mit Sorge beobachten. Natürlich gab es auch starke Ablehnung, bei der J. D. Vance Doppelmoral und eine Umkehr der Verhältnisse vorgeworfen wurde. Teilweise beruhte die Ablehnung auf komplett gegensätzlichen geopolitischen Einschätzungen zu Russland, China, Ungarn und generell der Einschätzung von „Populismus“ und „Rechts“ als „illiberal“; aber natürlich auch wegen der gegensätzlichen Meinung der Kritiker zur Migrations- und Abtreibungspolitik. Aus der wütenden Reaktion auf die Rede wurde schon deutlich, wie wenig die anwesenden und später kommentierenden deutschen Politiker und Journalisten überhaupt erwogen, dass ihr Vorgehen und ihr Engagement gegen „Fake News“ und „Hassrede“ schädlich für Demokratie und Meinungsfreiheit sein könnten. Der Vorwurf der Doppelmoral war aber berechtigt, zum Beispiel wegen der damals schon bedenklichen Unterdrückung der pro-palästinensischen Proteste an US-amerikanischen Universitäten durch die Trump-Regierung.
Wer unterdrückt also die Meinungsfreiheit mehr? Wer verbreitet mehr Hassrede? „Links“ oder „Rechts“? Die einfache und immer offensichtlichere Antwort ist: Natürlich beide – immer dann, wenn sie Angst haben.
Ob seit einigen Jahren die Angst der etablierten Parteien in Deutschland vor „Rechtsextremen“ oder aktuell die der Republikaner und MAGA-Anhänger in den USA vor „linken Extremisten“: Es ist faszinierend, wie wenig Selbsterkenntnis in dieser ganzen Eskalationsspirale eine Rolle spielt; wie wenig sich alle „Seiten“ ineinander wiedererkennen; wie wenig sie sehen, dass dieselben Dynamiken, die sie beim anderen ankreiden, bei ihnen selbst fast identisch ablaufen. Stattdessen ist es immer nur falsch und böse, wenn die jeweils andere Seite es macht. Keine Erkenntnis davon, wie ähnlich die Gefühle, Argumente, Instrumente und Rechtfertigungen auf beiden Seiten dieser gesellschaftlichen Debatte und der vielen politischen Macht- und Deutungskämpfe sind.
Hass und Hetze sind, wenn sie organisch sind, emotionale Reaktionen. Diese lassen sich nicht durch Verbote aus der Welt schaffen. Verbote fachen sie nur weiter an. Der Kampf gegen Hassrede führt oft dazu, nur die schlechteste Version eines Menschen zu sehen und dabei zu ignorieren, wie viele Seiten Menschen haben, wie viele Zustandsformen, je nachdem, wie sicher, geliebt, verstanden und respektiert sie sich fühlen. Und sie zeigt auch kein Verständnis für den Schmerz und die Sorge, die oft aus den hasserfülltesten Äußerungen sprechen. Sogenannte Hassrede sollte immer im Kontext betrachtet werden, sie ist oft der Endpunkt einer langen Entwicklung von aufgestauten Gefühlen und Gedanken. Hoffen wir, dass sich die Gesellschaft in den USA (und auch hier in Deutschland) bald wieder beruhigt, damit die Spirale, die sich gerade massiv in Richtung Eskalation hochschraubt, sich wieder in die andere Richtung, hin zu einem vernünftigen, rationalen, liberalen öffentlichen Diskurs drehen kann.
Titelbild: Screenshot Youtube
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