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Titel: Das verschenkte Kapital – Wie Kinderarmut Talente blockiert und Milliarden verschwendet
Datum: 26. September 2025 um 11:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Deutschland diskutiert Kinderarmut meist als moralisches Problem oder mit zynischer Herablassung, wie sie der neoliberal stramm durchgeformten „Leistungselite“ eigen ist. Ökonomisch betrachtet ist sie längst ein bilanzwirksamer Risikofaktor. Während Politik und Öffentlichkeit über Einzelmaßnahmen streiten, bleibt ein harter Befund konstant: Ein signifikanter Teil der Kinder wächst mit Startnachteilen auf, die sich in schlechteren Schulnoten, geringeren Übergangschancen und später in lückenhaften Erwerbsbiografien niederschlagen – mit negativen Folgen für Produktivität, Steuereinnahmen und soziale Sicherungssysteme. Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Nach aktuellen Erstzahlen des Statistischen Bundesamts galten 2024 14,4 Prozent der Minderjährigen als armutsgefährdet; im Ländervergleich reichen die Quoten von 13,4 Prozent in Bayern bis 41,4 Prozent in Bremen[1]. Diese Spreizung markiert nicht nur soziale Ungleichheit, sondern verweist auf regionale Produktivitätslücken.
Die These dieses Artikels lautet: Kinderarmut ist kein „Privatrisiko“ einzelner Familien, sondern ein strukturierter Mechanismus, der Bildungsbiografien systematisch beeinträchtigt und dadurch dauerhaft Wertschöpfung verhindert – ja, richtig gehört! Armut bei Kindern schadet der Volkswirtschaft. Die Kosten tragen nicht nur die Betroffenen – sie fallen gesamtwirtschaftlich an. Empirische Synthesen aus Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), des Nationalen Bildungspanels (NEPS) und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie modellgestützte Berechnungen vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) und der Bildungsökonomie zeigen konsistent: Schlechtere Abschlüsse führen zu instabileren Erwerbsverläufen, zu geringeren Lebensarbeitsverdiensten, zu niedrigeren Steuern und Sozialbeiträgen und zu höheren Transferausgaben.
Bildungswege unter Vorbehalt – Wie Armut Schulkarrieren prägt
Den Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungserfolg haben wir schon in Folge 1 dieser Artikelserie angerissen. Der Zusammenhang bleibt in Deutschland hoch. Längsschnittdaten zeigen: Von hundert Kindern ohne Armutserfahrung schaffen 36 den Sprung auf das Gymnasium, unter armutsbetroffenen Kindern sind es nur zwölf[2] – sogar dann, wenn die elterliche Bildung vergleichbar ist. Frühentscheidungen an Übergängen (Kindergarten – Grundschule – Sekundarstufe I) wirken wie Filter: Wer mit knappen Ressourcen startet, landet seltener auf anspruchsvollen Bildungspfaden, häufiger auf Nebenrouten.
Die Mechanik ist empirisch gut belegt. Erstens fehlen armutsbetroffenen Kindern häufiger frühe Förderimpulse – von der sprachlichen Anregung bis zur stabilen Lernumgebung. Zweitens schlagen materielle Engpässe (beengter Wohnraum, fehlende technische Ausstattung, keine Nachhilfe) in schlechtere Noten und Wiederholerquoten um. Drittens wirkt institutionelle Selektion: Lehrkräfteempfehlungen für weiterführende Schulformen fallen bei gleicher Leistung für arme Kinder seltener positiv aus – ein klassischer Verstärkereffekt. Im NEPS/ SOEP zeigt sich dieses Muster über die Sekundarstufe I hinweg: Armutsbetroffene verlassen die Schule deutlich häufiger ohne Abschluss oder mit Hauptschule; der direkte Übergang in Sekundarstufe II oder Ausbildung gelingt nur einer Minderheit.
Hinzu kommt ein Systemfaktor: Die frühe Aufteilung nach Schulformen konserviert soziale Herkunft. Wer mit 10 oder 11 Jahren auf einen weniger akademischen Pfad gelenkt wird, hat im Schnitt geringere Chancen, verloren gegangene Optionen später zurückzugewinnen. Das Ergebnis ist eine „Pfadabhängigkeit“ der Bildungsbiografie – sichtbar etwa im ifo-Chancenmonitor[3], aber auch in kommunalen Übergangsstatistiken, die für benachteiligte Quartiere erhöhte Abbruch- und Wechselquoten ausweisen. Für die Volkswirtschaft bedeutet das: Ein Teil des Fundus an wertvollen Fähigkeiten (Ökonomen sprechen von Humankapital) wird schon vor Eintritt in den Arbeitsmarkt selektiv geschmälert.
Vom Bildungsdefizit zur Arbeitsmarktbenachteiligung
Die Konsequenzen treten spätestens beim Einstieg in den Beruf offen zutage. Rund 1,5 Millionen junge Erwachsene (25 – 34 Jahre) verfügen weder über Abitur noch über eine abgeschlossene Berufsausbildung – überproportional viele von ihnen sind in armutsgeprägten Haushalten aufgewachsen. Diese Gruppe trägt ein erhöhtes Risiko, im „Übergangssystem“ hängen zu bleiben: befristete Maßnahmen, Minijobs, kurzfristige Qualifizierungen – statt eines stabilen Ausbildungsvertrags.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt: Kinder aus langzeitarbeitslosen SGB-II-Haushalten treten später in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ein und sind selbst im jungen Erwachsenenalter häufiger auf Grundsicherung angewiesen. Bis zum 24. Lebensjahr liegt die Beschäftigungsquote in dieser Gruppe um rund vier Prozentpunkte niedriger als bei Gleichaltrigen aus nicht armen Familien; etwa zwölf Prozent beziehen mit 24 Jahren noch SGB II/Bürgergeld – gegenüber rund acht Prozent in der Vergleichsgruppe[4].
Auch in der Entlohnung schlägt Bildungsbenachteiligung durch. Lebenseinkommensanalysen auf Basis von Sozialversicherungskonten zeigen: Ohne Abschluss summiert sich das Bruttolebenseinkommen im Mittel auf etwa 0,82 Millionen Euro; mit Ausbildung auf knapp eine Million; mit Hochschulabschluss auf rund 1,45 Millionen – der Abstand beträgt damit teils über 600.000 Euro. Wer in Armut aufwächst und niedrigere Abschlüsse erlangt, ist von diesen Differenzen mittelbar betroffen. Die geringeren Einkommen verringern die individuelle Resilienz gegen Krisen – und sie reduzieren das künftige Steuer- und Beitragsaufkommen.
Was der Gesellschaft entgeht – Produktivitätsverluste und Humankapitalbrachen
Die Makroperspektive macht die ordnungspolitische Dimension sichtbar. Jede nicht genutzte Begabung bedeutet niedrigere Bildungsrendite und damit geringere gesamtwirtschaftliche Produktivität. In Deutschland wurde das wiederholt modelliert. Für einen Schulabgängerjahrgang ohne ausreichende Ausbildung entstehen – über 35 Erwerbsjahre, auf den heutigen Wert zurückgerechnet[5] – fiskalische Folgekosten von rund 1,5 Milliarden Euro.
Das ist kein Einmaleffekt, sondern ein „rollierender“ Schaden: Jährlich rücken laut Untersuchungen etwa 150.000 Jugendliche ohne abgeschlossene Ausbildung in den Arbeitsmarkt nach – mit entsprechend dauerhaften Ertragslücken[6].
Auf der Ebene der Gesamtrechnung lassen internationale und nationale Studien ähnliche Größenordnungen erkennen. Die OECD beziffert die gesamtwirtschaftlichen Kosten der Kinderarmut in Deutschland auf rund 3,4 Prozent des BIP pro Jahr – mehr als 100 Milliarden Euro an entgangener Wertschöpfung, geringeren Steuern und höheren Sozialausgaben. Eine DIW-Modellierung kommt – im Kontext der Debatte um die Kindergrundsicherung – auf langfristige Folgekosten unterlassener Armutsbekämpfung von bis zu 120 Milliarden Euro. Das wirtschaftliche Argument ist damit klar: Prävention ist günstiger als Reparatur.
Zur unterbelichteten Seite gehört das Thema Innovation. Wer arm aufwächst, nimmt seltener an fördernden Lernumgebungen teil und gelangt seltener in akademische Felder mit hoher Forschungsintensität. Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht ist das „Lost Talent“ – also ein Mangel an diverser Nachwuchsrekrutierung, der künftige Produktivität und Erfindungsdynamik dämpft. In einer alternden Volkswirtschaft mit bereits spürbarem Fachkräftemangel ist das kein Randaspekt, sondern eine Wachstumsbremse erster Ordnung. „Herr Merz, hören Sie mir überhaupt zu? Ich sagte Wachstumsbremse!“
Was fehlt in der öffentlichen Debatte?
Die fiskalische Kehrseite – entgangene Einnahmen und steigende Ausgaben
Kinderarmut erzeugt eine doppelte Bilanzverschlechterung: Mindereinnahmen und Mehrausgaben. Auf der Einnahmenseite fehlen Lohn- und Einkommenssteuern sowie Beiträge zur Renten- und Arbeitslosenversicherung, weil Betroffene seltener stabil und gut entlohnt beschäftigt sind. Auf der Ausgabenseite steigen die Kosten für Bürgergeld, Wohngeld, Grundsicherung im Alter und flankierende Hilfen (Kinder- und Jugendhilfe, kommunale Programme in benachteiligten Quartieren).
Das IAB beziffert die direkten und indirekten Kosten der Arbeitslosigkeit für ein einzelnes Jahr bereits auf 67,9 Milliarden Euro; der überproportionale Anteil gering Qualifizierter in Arbeitslosigkeit wirkt hier als Kostenmultiplikator[7].
Die Lebenslaufperspektive verdeutlicht die Tragweite. Phasen ohne Beschäftigung bedeuten Ausfälle bei Beiträgen – insbesondere seit 2011, weil ALG-II-Bezug keine Rentenansprüche mehr begründet. Die Folge sind Lücken im Rentenkonto und niedrigere Anwartschaften; das Risiko, im Alter Grundsicherung beziehen zu müssen, steigt. Bereits 2022 erhielten rund 659.000 über 65-Jährige Grundsicherung; mit dem Nachrücken von Jahrgängen mit unterbrochenen Erwerbsverläufen dürfte die Zahl weiter zunehmen. Regional verstärken sich die Effekte dort, wo Kinderarmut anhaltend hoch ist: Bremen weist nicht nur die höchste Kinder-Armutsgefährdung aus, sondern auch überdurchschnittliche SGB-II-Quoten bei Minderjährigen[8].
Die Gegenrechnung liefern positive Szenarien. Das DIW zeigt, dass ein armutsfreier Aufwuchs – näherungsweise: wirksame Reduktion der Kinderarmut durch Transfers und Infrastruktur – langfristig bis zu 110 Milliarden Euro pro Jahr an fiskalischen Belastungen vermeiden könnte[9]. Besonders gewichtig ist der Posten „entgangene Lohnsteuer“, der in ökonomischen Modellrechnungen rund 70 Prozent der Verluste erklärt: Höhere Bildungsabschlüsse erhöhen Erwerbsumfang und Löhne – und damit das Steueraufkommen. Dass die geplante Kindergrundsicherung in aktuellen Entwürfen zwei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr kostet, wirkt vor diesem Hintergrund wie eine konservative Vorinvestition in künftige Einnahmen.
Wem nützt es? Kurzfristig armen Familien, die Planungssicherheit und Lernchancen gewinnen. Mittel- und langfristig dem Fiskus: mehr Steuer- und Beitragszahler, weniger Transferbedarf. Und der Wirtschaft: breitere Fachkräftebasis, höhere Produktivität. Für die Kommunen schließlich bedeutet Prävention geringere Ausgaben bei Jugendhilfe und Integrationskosten.
Fazit: Die doppelte Ungerechtigkeit – und die fiskalische Rationalität der Prävention
Kinderarmut ist eine doppelte Ungerechtigkeit. Sie beschneidet individuelle Lebenschancen und unterminiert zugleich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes. Das Leistungsversprechen des Sozialstaats – gleiche Chancen unabhängig von Herkunft – wird unterlaufen, solange frühe Selektion und fehlende Förderung Bildungswege nach Einkommen sortieren. Die empirische Evidenz ist klar: Wer arm aufwächst, erreicht im Durchschnitt niedrigere Abschlüsse, startet später und instabiler ins Berufsleben, verdient weniger, zahlt weniger Steuern und Beiträge – und ist häufiger auf Transfers angewiesen.
Selbst wenn manche Politiker mit ethisch-moralischen Imperativen charakterlich überfordert sind, sollten sie den Beitrag als eine fiskalische Empfehlung verstehen: Präventive Investitionen rechnen sich. Frühkindliche Bildung, ganztägige Schulen mit verbindlicher Förderung, Entlastung armer Haushalte durch eine gut gestaltete Kindergrundsicherung sowie passgenaue Übergangsbegleitung in Ausbildung und Arbeit – all das reduziert spätere Kosten in Milliardenhöhe. Die Wahl liegt nicht zwischen Ausgaben und Sparen, sondern zwischen kurzfristigen, überschaubaren Investitionen und langfristigen, hohen Folgelasten. In unserer alternden Volkswirtschaft ist Talentsicherung kein „Sozialprogramm“, sondern Kern von Wettbewerbsfähigkeit.
Die ökonomische Bilanz ist damit nüchtern: Wer heute bei Kindern spart, zahlt morgen mehr – nicht nur in verlorenen Biografien, sondern in dauerhaft geringerer Produktivität und höheren öffentlichen Ausgaben. Der Weg aus diesem Minus beginnt dort, wo es am wenigsten spektakulär wirkt: in früher, verlässlicher und evidenzbasierter Förderung – für jedes Kind.
Titelbild: MAYA LAB / Shutterstock
[«1] Statista-PDF – Kinderarmut, S. 19, 21
[«2] Langzeitstudie Gerda Holz et al., “Zukunftschancen für Kinder!? – Wirkung von Armut bis zum Ende der Grundschulzeit”, Endbericht der 3. AWO-ISS-Langzeitstudie (Frankfurt a. M., 2006)
[«3] Chancenmonitor: Wie (un-)gerecht sind die Bildungschancen von Kindern aus verschiedenen Familien in Deutschland verteilt?
[«4] Kinder aus Haushalten, die über längere Zeit SGB-II-Leistungen beziehen, haben geringere Ausbildungs- und Beschäftigungschancen
[«5] „abdiskontiert“ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die berechneten Kosten nicht einfach als aufsummierte Zahl über 35 Jahre angegeben sind, sondern dass man sie auf den heutigen Geldwert zurückgerechnet hat.
[«6] Unzureichende Bildung: Folgekosten für die öffentlichen Haushalte – Jutta Allmendinger, Johannes Giesecke und Dirk Oberschachtsiek – Eine Studie des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung
[«7] Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung – direkte und indirekte Kosten von Arbeitslosigkeit im Jahr 2021 insgesamt ca. 67,9 Milliarden Euro (S. 17) (Hausner, Weber, & Yilmaz, 2022)
[«8] Statista-PDF, S. 31–32
[«9] Die gesamtgesellschaftlichen Kosten vergangener und aktueller Kinderarmut in Deutschland schätzt eine aktuelle OECD-Studie (Clarke et al 2022) auf jährlich etwa 3,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP). „Wir sprechen hier also von einem zehnfachen Betrag von 110 bis 120 Milliarden Euro“, so Diakonie-Präsident Ulrich Lilie.
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