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Titel: Kiesewetter will „Spannungsfall“ in Deutschland ausrufen: Eine tägliche „Strategie der Spannung“ soll den Weg dafür ebnen
Datum: 1. Oktober 2025 um 11:01 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
Verantwortlich: Tobias Riegel
Roderich Kiesewetter (CDU) fordert, den „Spannungsfall“ für Deutschland festzustellen. Solche radikalen Forderungen sind möglich, weil die Bürger wochenlang mit einer unseriösen Strategie der Spannung und einer täglichen Hysterie zu Drohnen-Sichtungen bearbeitet wurden. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In der CDU gibt es angesichts der (laut Medien) „mutmaßlich russischen Provokationen am europäischen Himmel“ erste Stimmen, den sogenannten Spannungsfall festzustellen. Der Mechanismus würde unter anderem bedeuten: sofortige Wehrpflicht, so der Spiegel.
Die NATO „gehe“ bei den Drohnen über europäischen Städten „von russischen Provokationen aus“, so der Spiegel-Bericht. Manchen in der CDU würden die bisherigen Reaktionen der Bundesregierung aber nicht weit genug gehen: Roderich Kiesewetter hat nun gar gefordert, den „Spannungsfall“ in Deutschland auszurufen. Der sogenannte Spannungsfall müsse über eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag festgestellt werden. Er gelte als Vorstufe des Verteidigungsfalls; spezielle Sicherstellungsgesetze wie das Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz könnten angewandt, die Bundeswehr verstärkt eingesetzt werden.
Kaum ein Tag ohne Drohnen-Hysterie
Der Weg für solche radikalen Forderungen wurde in den letzten Monaten durch eine von vielen Medien und Politikern verfolgte „Strategie der Spannung“ geebnet: Neben weiteren Kampagnen vergeht etwa kaum ein Tag, an dem nicht in hysterischem Tonfall über Drohnen-Sichtungen, (angebliche) Luftraumverletzungen oder mutmaßliche Sabotageakte auf kritische Infrastruktur wie Stromversorgung oder Bahnstrecken berichtet wird.
Charakteristisch für diese „Berichterstattung“ sind unter anderem folgende Punkte: Die meist nicht seriös geklärte Urheberschaft der Drohnen-Sichtungen, (angeblichen) Luftraumverletzungen und mutmaßlichen Sabotageakte wird trotzdem tendenziell Russland unterstellt. Und nach einer umfangreichen Verdachtsberichterstattung werden die dann oft weiterhin ungeklärten Vorwürfe nicht weiter untersucht – aber sie werden weiterhin zitiert: als Elemente von schnell abgespulten „Stapeln“ an beunruhigenden Vorwürfen gegen Russland. Auf diese Taktik mit den „gestapelten“ unbelegten Vorwürfen sind wir kürzlich im Artikel „Der Russe war’s! Wie sich die Sabotage-Vorwürfe stapeln (und nie richtiggestellt werden)“ näher eingegangen.
Weitere Eigenschaften der oben skizzierten Berichterstattung: Absolut „normale“ und in den letzten Jahren häufig zu verzeichnende Vorfälle wie kurzzeitige Luftraumübertretungen in engen Korridoren oder ungeklärte, aber vorschnell einem „feindlichen“ Staat unterstellte Drohnenflüge werden nun plötzlich als gezielter Angriff oder als militärischer „Test“ definiert und mit großer Hysterie aufgeladen.
Dazu kommt der enge Takt der im entsprechend furchteinflößenden Tonfall gehaltenen Berichte und die dann darauf aufgebauten politische Aussagen und Entscheidungen, die wiederum zusätzlich das Gefühl eines Abwehrkampfes gegen eine reale Gefahr simulieren sollen. Dieser Teil des Komplexes, also die mutmaßlich gezielte Erzeugung von Angst in der Bevölkerung durch nicht geklärte oder gar mit falschen Etiketten versehene Spionage- und Sabotageakte, kann indirekt an die Medienkampagnen im Zusammenhang mit der historischen „Strategie der Spannung“ im Italien der 1960er- bis 1980er-Jahre erinnern.
Die aktuellen Äußerungen zu den angeblichen russischen Motiven „dürfen“ in dieser Kampagne entsprechend widersprüchlich sein. So behauptet Kiesewetter laut Medien einerseits, Russland nutze die Drohnenüberflüge „als Teil der Lagebildgewinnung, um das Schlachtfeld vorzubereiten“ – also für verdeckte Spionage? Andererseits wolle Russland mit den Drohnenüberflügen aber auch „Angst und Unsicherheit in der Bevölkerung erzeugen“ – und darum sind diese Überflüge eben nicht verdeckt?
Das Ziel: Bereitschaft zu Opfern und hohen Verteidigungsausgaben
Die Motivation für diese über Wochen mit fast täglichen Beiträgen gefütterte „Strategie der Spannung“, die noch zur bereits seit Jahren gepflegten antirussischen Propaganda hinzukommt, zielt mutmaßlich vor allem auf den Widerstand gegen die aktuelle, brandgefährliche und in der Folge unsoziale Militarisierung der Gesellschaft. Zusätzlich soll Bereitschaft zu Opfern, zu hohen Verteidigungsausgaben und zu Einschränkungen der Freiheit zugunsten einer angeblich sehr konkret bedrohten Sicherheit erzeugt werden.
Journalisten und Politiker könnten auf die Vorfälle (zumindest bis echte Klarheit besteht) auch beruhigend und deeskalierend reagieren. Doch das passiert nicht, im Gegenteil: Wahres, Unsicheres und mutmaßlich Erfundenes wird wild vermischt – und auf alles wird betont hysterisch reagiert.
Übergriffige ausländische Einflüsse
Der Ukrainekrieg hätte – bei einer anderen NATO-Politik im Vorfeld – gar nicht ausbrechen müssen, außerdem ist das nicht „unser Krieg“, auch wenn uns das mit emotionalen Phrasen eingeredet werden soll. Andererseits: Dass Russland jetzt umgehend einen Waffenstillstand ausrufen sollte, habe ich kürzlich in diesem Artikel geschrieben. Die ganze Problematik der „europäischen Sicherheit“ lässt sich nur unter Einbeziehung des zu Europa gehörenden Landes Russland lösen: Eine alle einschließende Sicherheitsarchitektur muss her und dann auch die Wiederaufnahme des deutsch-russischen Energiehandels.
All das bedeutet keine naive Unterwerfung unter ein „russisches System“, sondern es bedeutet die Wahrung unser eigenen Interessen – unter anderem gegen die Lobbys der US-Fracking-Industrie und der nun Morgenluft witternden militärisch-industriellen Komplexe dies- und jenseits des Atlantiks. In diesem Text wird die Abwehr von übergriffigen ausländischen Einflüssen nicht diffamiert, natürlich auch dann nicht, wenn sie von russischer Seite kommen – aber reale destruktive Einflüsse auf die deutsche Politik sind (zumindest vorerst noch) zu allererst der US-amerikanischen Seite zuzuschreiben.
Auf dem Weg zur Kriegspartei
Es ist momentan auch eine ähnliche Tendenz wie bei der unangemessenen Corona-Politik zu beobachten: Einige Journalisten und „Verteidigungs-Experten“ klingen manchmal noch schärfer als die bekannten Militaristen und antirussischen Scharfmacher in der Politik. Die mediale „Kritik“ an der Politik von dieser Seite ist dann, ähnlich wie bei Corona, dass die politischen Reaktionen auf die neuesten „Sichtungen“ nicht hart genug ausfallen.
Bei dem unverantwortlichen Wettstreit um die härtesten „Reaktionen“ auf die (angeblich russischen) Provokationen darf nie vergessen werden: Das sind Reaktionen, die unser Land zur aktiven Kriegspartei machen könnten.
Titelbild: Screenshot, Deutscher Bundestag, youtube.com/watch?v=g6a34IElqMo
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