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Titel: Gedanken zur Staatsräson

Datum: 13. Oktober 2025 um 11:34 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Ideologiekritik
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Die deutsche Politik drückt sich seit Jahren um eine sachgerechte Antwort auf die Frage der deutschen Staatsräson für Israel herum. Auch die Mainstream-Medien und die Rechtswissenschaft hatten nicht die Kraft, die Frage des richtigen Umgangs mit Israel, genauer gesagt mit dem Regime Netanjahus, seriös zu beantworten. Eine wie auch immer definierte Staatsräson endet nämlich spätestens dort, wo die Normen des Völkerrechts (Art. 25 GG), das Friedensgebot des Grundgesetzes (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG) sowie die Grundrechte (Art. 1 bis 19 GG) gelten. Von Peter Vonnahme.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Deshalb versuche ich eine juristische Einordnung: Ex-Kanzlerin Merkel sagte 2008 in der Knesset, die Sicherheit Israels sei „deutsche Staatsräson“. Diese Formel kann die irritierende deutsche Haltung gegenüber Israel in den letzten zwei Jahren aus mehreren Gründen nicht rechtfertigen.

Zum einen hat Merkel nie definiert, was diese Staatsräson genau bedeutet. Der Begriff wurde ohne staatsphilosophische oder juristische Herleitung in die Welt geworfen und sorgt seitdem wegen seiner unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten für Verwirrung. Die Unschärfe des Begriffs wurde besonders nach dem 7. Oktober 2023 sichtbar, als darüber diskutiert wurde, ob aus der zugesagten deutschen Staatsräson eine Pflicht zu Waffenlieferungen oder gar zu militärischem Beistand abgeleitet werden kann.

Zum anderen, selbst wenn man annimmt, dass Merkels Versprechen 2008 berechtigt war, kann das heute angesichts der eklatanten Völkerrechtsbrüche Israels in der letzten Zeit (Gaza, Westjordanland, Libanon, Syrien, Iran, Jemen und Katar) nicht mehr aufrechterhalten werden.

Häufig versteht man unter dem Begriff Staatsräson unter Anlehnung an Machiavellis Theorie der Staatsräson ein Handlungsprinzip, das zur Sicherung des Staates jedes Mittel unabhängig von Recht und Moral erlaubt, gewissermaßen als ultima ratio des Machterhalts. Nach meinem Verständnis ist für dieses Prinzip im modernen Bürgerstaat kein Raum mehr. Erst recht nicht kann es Rechtsverstöße zugunsten eines fremden Staates rechtfertigen.

Abgesehen davon begegnen einer Staatsräson im Merkel’schen Sinn auch klare verfassungsrechtliche Grenzen. Eine wie auch immer definierte Staatsräson endet nämlich spätestens dort, wo die Normen des Völkerrechts (Art. 25 GG), das Friedensgebot des Grundgesetzes (Präambel und Art. 1 Abs. 2 GG) sowie die Grundrechte (Art. 1 bis 19 GG) gelten. Deutschland ist als verfassungsmäßiger Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 3 GG) der Stärke des Rechts verpflichtet und nicht dem Recht des Stärkeren (rule of law, not rule of power).

Außerdem darf ein Rechtsstaat nicht mit zweierlei Maßstäben messen; andernfalls wird er unglaubwürdig: Was für die eine Seite recht ist, muss für die andere billig sein. Konkret heißt das: Wer von palästinensischen Terrorgruppen verlangt, dass sie ihre Raketenangriffe auf israelisches Gebiet einstellen, muss gleichzeitig Israel auffordern, unverhältnismäßige Luftangriffe auf Wohngebiete, Schulen und Kliniken in Gaza zu unterlassen. Für den Fall der Nichtbeachtung der Aufforderung dürfen Sanktionen nicht nur angedroht, sondern sie müssen im Interesse der Friedensgewinnung auch ergriffen werden.

Ich verkenne nicht, dass sich aus unserer historisch begründbaren Sonderverantwortung für Israel besondere Freundschaftspflichten ableiten. Sie beruhen nicht auf persönlicher Schuld, sondern es handelt sich um eine durch kollektives Staatsversagen entstandene Erblast. Erblasten erledigen sich nicht durch Zeitablauf. Deshalb ist es falsch, wenn immer wieder gesagt wird, es müsse endlich ein „Schlussstrich“ gezogen werden. Millionenfaches Verbrechen kann nicht ungeschehen gemacht, „gestrichen“ werden.

Allerdings wird häufig übersehen, dass eine deutsche Verantwortung nicht nur für den Staat Israel und seine jüdische Bevölkerung, sondern auch für das Schicksal der arabischen Bevölkerung Palästinas („Palästinenser“) besteht. Die durch Nationalsozialismus und Holocaust ausgelöste Masseneinwanderung traumatisierter und entwurzelter Juden nach Palästina war ursächlich für spätere Konflikte und Kriege in diesem Lebensraum sowie für die tiefgreifende Entrechtung des palästinensischen Volkes durch Liquidationen, Freiheitsentzüge, Enteignungen, Verwüstungen und Demütigungen.

Aus dieser Doppelverantwortung ergeben sich Freundschaftspflichten. Sie unterscheiden sich mit Blick auf den Staat Israel wesentlich vom Merkel’schen Konstrukt der Staatsräson. Freundschaft erweist sich durch Treue in schwierigen Lebenslagen. Damit unvereinbar ist die stillschweigende Hinnahme oder gar Unterstützung von Fehlverhalten. Echte Freundschaft zeigt sich etwa im Mut, dem Freund notfalls in den Arm zu fallen, wenn er im Begriff ist, schwere Fehler zu begehen. Andernfalls ist man ein bequemer und damit unzuverlässiger Freund. Beispiel: Ein echter Freund muss seinem angetrunkenen Zechkumpan die Autoschlüssel wegnehmen, wenn dieser ins Auto steigen und losfahren will.

Nichts anderes gilt für das Verhalten zwischen Staaten. Deutschland hätte den befreundeten Staat Israel von Völkerrechtsverstößen, insbesondere von genozidalen Handlungen, abhalten müssen, zumindest hätte es das nach besten Kräften versuchen müssen. Vor allem aber hätte Deutschland nicht durch Waffenlieferungen Beihilfe zum Genozid leisten dürfen. Deutschland hat unter Hinweis auf die vermeintliche Staatsräson das Falsche getan. Deshalb bleibt der Vorwurf, dass Deutschland massiv versagt hat. Ich nehme an, es wird dafür „bezahlen“ müssen.

Deutschland schweigt traditionell bei israelischem Fehlverhalten. Reaktionen der deutschen Politik – angefangen bei Merkel, über Scholz bis hin zu Merz – sind oftmals Zeichen von bedrückender Einseitigkeit und Perspektivlosigkeit. Die von Ex-Kanzler Scholz abgegebene Erklärung, „Unsere Verantwortung, die sich aus dem Holocaust ergibt, macht es für uns zu einer ewigen Aufgabe, für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzutreten“, ist ein schlichtes Update von Merkels Staatsräson. Die Äußerung ist unüberlegt und in der Wirkung toxisch. Es ist gewissermaßen ein Blankoscheck, der Israel ermächtigt, alles zu machen, was seine friedlose Regierung will, und Deutschland verpflichtet, hierbei zu sekundieren. Eine solche Haltung lässt Völkerrecht und Grundgesetz weit hinter sich und macht Deutschland zum ergebenen Büttel Israels.

Ähnlich unterkomplex war es, als die frühere deutsche Außenministerin (und heutige Präsidentin der UN-Vollversammlung!) nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober schwadronierte, „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“. Solcher Wortüberschwang hat mit Diplomatie und rechtverstandener Freundschaft nichts zu tun. Er bringt Deutschland in den Dauerverdacht, Komplize eines Völkermordes zu sein.

Bedauerlicherweise hat die Führung der aktuellen Bundesregierung den irrlichternden Kurs der Ampelregierung fortgesetzt. Außenminister Wadephul hat mehrfach bekräftigt, dass die Sicherheit Israels Teil der deutschen Staatsräson sei. Damit hat er sich als Diplomat diskreditiert. Der historische Fehler wurde verfestigt.

Überdies würde sich ein kluger Freund vorher überlegen, ob eine Unterstützung des hauptsächlich an persönlichen Interessen orientierten Regierungschefs Netanjahu den israelischen Interessen wirklich dient. Es ist nämlich zweifelhaft, ob die von Netanjahu seit Jahren praktizierte Politik äußerster Härte gegenüber Palästina die Gefährdungen für die eigene Bevölkerung verringert hat. Der Blutzoll der letzten Jahre spricht dagegen. Vor allem aber ist unübersehbar, dass sich seit Beginn des brutalen Vernichtungsfeldzugs gegen Gaza große Teile der Weltgemeinschaft von Israel distanziert haben; der Prozess dauert an. Beispiel hierfür ist die Anerkennung Palästinas durch westliche Staaten in den letzten zwei Jahren (z. B. Australien, Kanada, Großbritannien, Irland, Norwegen, Frankreich, Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg). Deutschland bricht auch hier aus einer wachsenden europäischen Allianz aus.

Als bedeutendste Unterstützer Israels geblieben sind die USA und Deutschland. Was die Rückendeckung Amerikas wert ist, hängt erfahrungsgemäß wesentlich vom US-Präsidenten ab. Präsident Trump hat Israel wiederholt seine unverbrüchliche Treue versichert. Allerdings hat er nicht nur einmal bewiesen, dass auf sein Wort kein Verlass ist.

Peter Vonnahme war von 1982 bis 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in München. Er ist Mitglied der Association of Lawyers Against Nuclear Arms (IALANA) und von International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Von 1985 bis 2001 war er Bundesvorstand der Neuen Richtervereinigung (NRV).

Titelbild: Mo Photography Berlin / Shutterstock


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