Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Deutschland als „Patient auf der Intensivstation“
Datum: 14. Oktober 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
Verantwortlich: Redaktion
Auf der Diskussionsveranstaltung „Verbrechen, Friedensgebot und Einigungsvertrag“ Anfang Oktober im Berliner Sprechsaal unterzogen die Außenexpertin des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW), Sevim Dağdelen, die Publizistin Ulrike Guérot und der Ökonom Constantin Pivovarov von der Initiative „Deutschland im Dialog“ die deutsche Außen- und Sozialpolitik einer fundamentalen Kritik. Ein Bericht von Éva Péli.
„Wäre dieses Land ein Patient, der Fieber hat, und wir würden Fieber messen, dann würde die Quecksilbersäule ganz wahrscheinlich 41 oder sogar 42 Grad Celsius anzeigen.“
Mit dieser dramatischen Metapher eröffnete Sevim Dağdelen (BSW) ihre Rede in Berlin zur Beschreibung des Zustands der Bundesrepublik. Sie bezeichnete das Land als einen „Patienten auf der Intensivstation“:
Die BSW-Außenpolitikerin und NATO-Kritikerin machte Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) und Vizekanzler Lars Klingbeil (SPD) direkt für die rasche Verschlechterung des Zustands verantwortlich. Im Fokus ihrer scharfen Kritik standen die aktuelle deutsche Außen-, Sozial- und Verteidigungspolitik. Moderator Martin Hantke eröffnete die Podiumsdiskussion mit der Frage, ob sich Deutschland bereits im Krieg befinde.
Deutschland als Komplize im Gaza-Krieg
Dağdelen prangerte insbesondere die deutsche Haltung im Nahostkonflikt an. Sie stellte fest, dass die Bundesregierung international vor allem mit dem Stichwort „Verbrechen“ in Verbindung gebracht werde, wegen der bedingungslosen Unterstützung Israels angesichts des „Völkermords der rechtsextremen Regierung unter Benjamin Netanjahu in Israel“ in Gaza.
Die Außenpolitikerin kritisierte die erneute Genehmigung von Waffenexporten scharf:
„Es geht darum, dass sie bereit sind, trotz der größten Menschheitsverbrechen, die dort begangen werden, einen international mit Haftbefehl gesuchten Premierminister und seine geführte Regierung weiterhin mit deutschen Waffen, deutschen Mordwerkzeugen zu beliefern.“
Sie wies die Unterscheidung in „sonstige Rüstungsgüter“ als „Verniedlichung und Relativierung“ zurück, da Komponenten für Torpedos oder Raketen de facto „ein Mordwerkzeug“ darstellten. Dadurch, dass Berlin im Europäischen Rat jede Sanktionierung oder Überprüfung der Beziehungen mit Israel blockiere, werde Deutschland international zu einem „Komplizen der Verbrechen Israels“ und somit zum „Aussätzigen der Staatengemeinschaft“. Ihre Schlussfolgerung über die deutsche Reputation auf der internationalen Bühne war vernichtend:
„Niemand nimmt Deutschland auf internationaler Bühne ernst, wenn es um Recht und Gesetz, Demokratie oder Menschenrechte geht.“
Die Lehren des Faschismus geschreddert
Sevim Dağdelen fokussierte ihren zweiten Kritikpunkt auf die Zerstörung des Friedens- und Sozialstaatsgebots, die sie als die „beiden Lehren aus dem deutschen Faschismus“ bezeichnete. Sie warf der Bundesregierung Diebstahl vor und kritisierte scharf die Pläne, durch den „Diebstahl russischer Vermögen 140 Milliarden Euro für die Ukraine mobilisieren“ zu wollen.
Gleichzeitig prangerte die BSW-Politikerin die massive Aufrüstung an: die „Hochrüstungspolitik“ steige auf 108 Milliarden Euro in diesem Jahr und solle bis 2029 auf „über 150 Milliarden wachsen – ein Wachstum, das man, muss man sagen, an die 30er-Jahre erinnert“. Diese militärische Priorität habe direkte soziale Konsequenzen:
„Dieser Sozialstaatsabbau ist eine Konsequenz dieser Kriegspolitik.“
Sie nannte explodierende Kosten, wie die um 77,6 Prozent höheren Lebensmittel- und Energiekosten im Vergleich zur Zeit vor dem Ukraine-Krieg, den Verlust von über 300.000 Industriearbeitsplätzen sowie die Plünderung von Sozialkassen, die etwa zur geplanten Abschaffung der Pflegestufe 1 (betrifft 863.000 Patienten) führe.
Eine besonders scharfe Rüge richtete sie an die Sozialverbände und Gewerkschaften, die sie als „die totalen Ausfälle in unserer Gesellschaft“ bezeichnete. „Wenn man sich die Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes zu diesem Haushaltsplanentwurf anschaut, packt einen als überzeugtes Gewerkschaftsmitglied die totale Wut: Mit keinem Wort wird die Hochrüstungspolitik kritisiert!“, sagte die BSW-Außenpolitikerin und fügte hinzu: „Wenn wir diese Hoch- und Aufrüstungspolitik nicht attackieren, können wir diesen Sozialstaat, so wie wir ihn kennen, nicht erhalten.“
Forderung nach Neutralität
Dağdelen schloss ihre Analyse mit einer scharfen Kritik am Umgang der Bundesregierung mit dem Einigungsvertrag sowie mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 und deren völkerrechtlichen Verpflichtungen. Sie sah einen klaren Bruch dieser Grundpfeiler deutscher Außenpolitik, insbesondere beim Friedensgebot gegenüber Russland. Sie geißelte die aktuelle Politik als „Wirtschafts- und Stellvertreterkrieg gegen Russland“ und machte die Haltung der Regierung unmissverständlich deutlich:
„Wir sind im Krieg mit Russland und wir wollen Russland ruinieren.“
Als weitere Vertragsbrüche nannte sie das beständige Anheizen der Atomwaffendebatte durch CDU/CSU-Fraktionschef Jens Spahn sowie die Stationierung ausländischer Truppen auf dem Gebiet der DDR, wobei sie das NATO-Hauptquartier in Rostock meinte. Die offizielle Verharmlosung des Hauptquartiers als bloße „Rotation von Verbindungsoffizieren“ wies sie empört zurück: „Wer soll diesen Bullshit abkaufen?“
Die BSW-Politikerin warnte eindringlich vor den potenziellen Konsequenzen dieses völkerrechtlichen Bruchs:
„Fakt ist: Deutschland bricht hier den Zwei-plus-Vier-Vertrag.“
Man sollte sich die Frage stellen, sagte sie, was es bedeuten würde, wenn der russische Nachfolgestaat auf die Idee käme, den Zwei-plus-Vier-Vertrag aufzuheben. Abschließend stellte Dağdelen die aktuellen geopolitischen Entwicklungen – den „Kampf um die BRICS-Staaten“ und den „irreversiblen Niedergang der USA als Welthegemon“ durch die „Ent-Dollarisierung“ – in den Vordergrund. Ihre finale und zugespitzte Forderung lautete:
„Ich glaube, tatsächlich ist es Zeit für Forderungen nach einem neutralen Europa.“
Forderung nach intellektueller Redlichkeit und die Rettung der Republik
Die Publizistin und Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot, die das European Peace Project mitinitiiert hat, eröffnete ihre Ausführungen mit einem Dank an die Organisatoren und Unterstützer des Berliner Sprechsaals, den sie als wichtigen Raum für Diskussionen hervorhob. Sie ergänzte Dağdelens Kritik mit einer fundamentalen Infragestellung des intellektuellen Diskurses und der deutschen Geschichtspolitik. Sie forderte ausdrücklich die „intellektuelle Redlichkeit“ und die Abkehr von der „supprimierten Amerikanisierung“.
Guérot schloss sich der Kritik an der „bedingungslosen Unterstützung Israels“ an und betonte, Deutschland isoliere sich in Europa:
„Wir müssen realisieren, dass wir in Deutschland mit unserer Haltung das Problem sind und nicht die Lösung.“
Für die notwendige „intellektuelle Redlichkeit“ ist aus ihrer Sicht wichtig, zwischen Antisemitismus und Antizionismus zu unterscheiden, was „teilweise sogar strafrechtlich“ nicht mehr möglich sei. Sie zitierte ihren ehemaligen Lehrer Alfred Grosser, um diesen Punkt zu bekräftigen:
„Weil ich Jude bin, muss ich den Staat Israel kritisieren.“
Als zweiten heiklen Punkt benannte sie das „Verbot des historischen Vergleichs“, welches zu einer „Verabsolutierung einer Sache“ führe und somit „intellektuell unredlich“ sei. Darüber hinaus kritisierte sie das „Böse durch Weglassen“ in der offiziellen Gedenkpolitik, etwa das Nicht-Erwähnen der „27 Millionen sowjetischen Opfer des NS-Regimes“ durch den Bundespräsidenten.
Republik statt Demokratie: Kampf gegen die Oligarchisierung
Zum Thema Friedensgebot und Sozialstaat betonte Guérot den übergeordneten, normativen Wert der Republik (Res Publica) – die „öffentliche Sache“. Dieses Ordnungsprinzip stelle das „allgemeine Interesse über das individuelle Interesse“.
Sie diagnostizierte eine fortschreitende „Oligarchisierung der Gesellschaft“ und kritisierte, dass deren Benennung heute „tabuisiert wird, weil eine kritische Sprache als populistisch gilt.“ Daher sei die Rettung der Republik der entscheidende nächste Schritt.
„Wenn wir in Foren zur ‘Rettung der Demokratie’ auch betonen könnten, dass wir die Republik retten wollen, wären wir einen Schritt weiter.“
Guérot forderte eine geopolitische und intellektuelle Emanzipation Europas von der „supprimierten Amerikanisierung“, einer tiefen, oft unbewussten kulturellen und politischen Prägung. Danach werde alles, was aus den USA komme, als gut, dagegen alles aus Russland alles als schlecht angesehen. Sie appellierte unmissverständlich an die europäische Selbstbesinnung und stellte traurig fest:
„Wir sind genauso vasallisiert wie die Lateinamerikaner und Araber, nur wir haben es nicht kapiert.“
Rolle der Sowjetunion und Kritik an den Westalliierten
Constantin Pivovarov, Vorsitzender von „Integral e. V.“ und Vorstandsmitglied der Initiative „Deutschland im Dialog“, präsentierte in seiner Rede konträre Ansichten zur westlichen Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkriegs und des Beginns des Kalten Krieges.
Pivovarov betonte die überragende Rolle der Sowjetunion beim Sieg über Nazi-Deutschland und kritisierte gleichzeitig die Geschichtsbetrachtung des Westens: Er hob hervor, dass die Sowjetunion den größten Anteil am Sieg trug – geschätzt 70 bis 90 Prozent. Zugleich stellte er eine direkte Verbindung zwischen den westlichen Alliierten und Hitlers Krieg her und behauptete, dieser wäre ohne direkte und indirekte Unterstützung durch Großbritannien und die Vereinigten Staaten nicht möglich gewesen.
Ein zentraler Punkt von Pivovarovs Rede war die Atomwaffen-Diplomatie als Ursache für den Beginn des Kalten Krieges: Er bezeichnete die Atombombenabwürfe im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki als ein „unnötiges Verbrechen“, das lediglich als „Feldversuch“ zur Waffentestung diente.
Dieser Akt habe das Vertrauen zwischen den Alliierten „unwiederbringlich zerstört“. Diese Tatsache werde durch die konventionelle Geschichtsinterpretation infrage gestellt. Der Atombombenabwurf wurde als klare und kompromisslose Botschaft der USA an die Sowjetunion interpretiert: „Japan gehört uns, du bekommst keine Besatzungszone, und wir haben Waffen, mit denen wir hier diplomatisch ‘vorangehen’ werden.“
Pivovarov folgerte daraus, dass der Impuls für das sogenannte „Rollback“ – die Ausweitung der eigenen Einflusszone – nicht erst von der sowjetischen Nachkriegspolitik, sondern unmittelbar durch den US-Einsatz der Nuklearwaffen gesetzt wurde.
Die Charta der Vereinten Nationen: Der einzig gangbare Weg
In seinem Schlusswort forderte Pivovarov eine Abkehr von der „regelbasierten Ordnung“ und eine Rückkehr zur universal gültigen Rechtsgrundlage: „Lasst uns zur UN-Charta zurückkehren – vollständig und für alle.“
Die Politologin Ulrike Guérot unterstrich die dringende Notwendigkeit einer „dritten großen intellektuellen Leistung“: der fundamentalen Neukonzeption der Geschichtserzählung der Bundesrepublik. Sie plädierte dafür, die historischen Narrative des Landes tiefgreifend zu revidieren und auf politischen, historischen und akademischen Bühnen neu zu vermitteln.
Guérot forderte ein Bildungsprogramm zur Schaffung der politischen Eingriffsmöglichkeit und verwies auf die Notwendigkeit, zentrale Fragen wie „wer uns befreit hat, wie Europa gebaut wurde und was in der Epoche von 1949 bis 1989 passiert ist“ neu zu klären. Hierbei solle der Einigungsvertrag als Gründungsdokument der heutigen Republik in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Notwendigkeit dieser Revision sei eine der zentralen Aufgaben der Gegenwart.
Titelbild: von Éva Péli
Bericht aus Sotschi vom Waldai-Treffen: „Deutschland besonders gefährlich und revanchistisch“
Russlands Warnung und Deutschlands Blockade
„Musik statt Krieg“: Ein Festival der Hoffnung auf dem Vier-Winde-Hof
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=140548