Moskau ist der Ansicht, dass derzeit der Westen, der seine Hegemonie nur schwer aufgeben kann, und vor allem ein in der Vergangenheit verhaftetes Europa die Stabilität bedrohen. Laut Analytikern und Politikern, die auf dem 22. Jahrestreffen des Waldai-Klubs in Sotschi auftraten und sprachen, ist Europa „tollwütig, aggressiv und militant und daher gefährlich“, während die Vereinigten Staaten sich der neuen Realitäten zunehmend bewusst sind. Am zweiten Tag des Waldai-Treffens waren der russische Außenminister Sergej Lawrow und der Oberbürgermeister von Moskau, Sergej Sobjanin, Gäste des Klubs. Ein Bericht von Gábor Stier aus Sotschi, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
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Die Multipolarität ist heute Realität, daher ist es natürlich, dass die damit verbundenen Herausforderungen im Mittelpunkt der diesjährigen Gespräche des Waldai-Klubs stehen. Wie der Jahresbericht des Waldai-Klubs, der spürbar die Position des Kremls widerspiegelt, feststellt, ist die multipolare Welt sicher. Die Übergangsjahre bis zur Herausbildung eines Kräftegleichgewichts bergen jedoch auch das Risiko einer Zuspitzung der Konfrontation.
Russische Analytiker sind der Ansicht, dass US-Präsident Donald Trump die neuen Realitäten anerkannt hat. Diese Behauptung werde auch auf politischer Ebene bestätigt. Die Annäherung zwischen Moskau und Washington werde dadurch erleichtert, dass die Außenpolitik des US-amerikanischen Präsidenten ebenfalls auf nationalen Interessen basiere und er im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch die Existenz von Einflusszonen anerkenne. Es wäre daher töricht, diese aus der gemeinsamen Denkweise erwachsende Gelegenheit ungenutzt zu lassen und nicht nach gemeinsamen Interessen zu suchen. Der russisch-ukrainische Konflikt ist das Haupthindernis; ohne dessen Beilegung können die bilateralen Beziehungen ihr Potenzial nicht entfalten.
Trump betont ständig, dies sei nicht sein Krieg, dennoch müsse er irgendwie beendet werden. Trump und Putin einigten sich in Alaska auf den Rahmen einer möglichen Regelung, doch die Verbündeten Washingtons lehnen dies vorerst ab. Der Schlüssel liegt in der Anerkennung der Realitäten, die sich in dreieinhalb Jahren herausgebildet haben, selbst wenn dies formaljuristisch noch nicht geschehen ist. Eine unvermeidliche Bedingung für eine Lösung ist für die russischen Analytiker die vollständige russische Kontrolle über das gesamte Donbass-Gebiet.
Die russische Sicht auf den Frieden: Grundursachen, rote Linien und der US-Faktor
Für einen stabilen Frieden müssten aber auch die Grundursachen des Konflikts angegangen werden. So dürfe die verbleibende Ukraine keine vorgeschobene Verteidigungslinie, kein Vorposten der NATO sein. Aber auch die Minderheitenrechte müssten wiederhergestellt, der Status der russischen Sprache geregelt, die Tätigkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche erlaubt werden und Kiew müsse mit Nazi-Ideen brechen. Der Kreml betont, dass die Lösung für ihn grundsätzlich keine territoriale Frage sei und er bereit sei zu verhandeln, wenn es etwas zu besprechen gebe. Der Chef der russischen Diplomatie, Sergej Lawrow, erinnerte an die jüngsten Äußerungen des ukrainischen Präsidenten und des Kiewer Verteidigungsministers, wonach „es noch zu früh sei, um zu verhandeln, und dass Russland zuerst durch neue Sanktionen und die endgültige Beschlagnahmung der im Ausland blockierten Vermögenswerte weiter geschwächt werden müsse“.
Moskau ist zwar besorgt über die widersprüchlichen US-Äußerungen zur Lieferung von Tomahawk-Raketen an die Ukraine, glaubt aber, dass eine solche militärische Entscheidung den Kriegsverlauf nicht grundlegend ändern würde. Der Kreml vertraut erkennbar darauf, dass das Weiße Haus die Situation nicht eskalieren lassen will. Im Gegensatz zur spürbaren Annäherung zwischen Moskau und Washington hat sich die Beziehung zu Europa gefährlich zugespitzt.
Moskaus Warnung: Ein militantes Europa in der Falle der NATO-Eskalation
Moskau ist der Ansicht, dass es für den europäischen Mainstream kaum noch „rote Linien“ hinsichtlich des Einsatzes militärischer Gewalt gibt und dieser sich eindeutig auf einen Krieg mit Russland vorbereitet. Auf russischer Seite wird die Politik Deutschlands als besonders gefährlich und revanchistisch eingestuft. In diesem Zusammenhang wurden mehrfach die Aussagen von Bundeskanzler Friedrich Merz aus den letzten beiden Tagen zitiert – zum Beispiel, dass die auf die Eindämmung Russlands fokussierte Politik auch nach Kriegsende fortgesetzt werden müsse.
Der Kreml sieht keinerlei Anzeichen dafür, dass Europa zu einer Zusammenarbeit zurückzukehren möchte. Abgesehen von Ausnahmen – hier wurden mehrfach Viktor Orbán und Robert Fico namentlich genannt – werde Europa zunehmend militanter, spreche offen von der Zerschlagung Russlands und provoziere ständig.
Einige Experten schließen nicht aus, dass die Konfrontation angesichts der Abwendung der USA sogar eskaliert und versucht wird, die NATO direkt mit Russland kollidieren zu lassen. Das derzeit größte Risiko für ein solches Szenario bestehe im Baltikum. Dieses könnte jedoch durch mangelnde europäische militärische Fähigkeiten verhindert werden; zudem hätte Trump bei einem derartigen Schritt sicherlich ein Mitspracherecht.
Sie führen an, dass Trumps Bestreben, sich vom Kontinent abzuwenden und sich auf Asien zu konzentrieren, Europa in diese Richtung dränge. Der US-amerikanische Präsident sei der Ansicht, dass Europa seine Sicherheit in die eigene Hand nehmen müsse. In Moskau wird nachdrücklich hinzugefügt, dass nicht Russland sich von Europa abgewandt habe – weshalb die Beziehungen nach Osten lange Zeit unterbewertet wurden –, sondern es umgekehrt der Fall sei.
Der Beitrag ist im ungarischen Original auf dem Fachportal #moszkvater.com erschienen.
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