Während westliche Staaten Russland in die Knie zwingen wollen, die Diplomatie als Mittel für Lösung der Konfliktsituationen ignorieren, in kriegstreibender Hysterie gefangen sind und immer weiter eskalieren, sendet Russland Warnsignale. Ein solches Signal ist die 2024 veröffentlichte Broschüre „Von der Abschreckung zur Einschüchterung“ der Politikwissenschaftler und Militärstrategen Dmitrij Trenin, Sergej Karaganow und Sergej Awakjanz. Das Buch liegt seit Kurzem unter dem Titel „Von der passiven zur aktiven Abschreckung“ auch auf Deutsch vor, herausgegeben von Lutz Kleinwächter und dem Potsdamer Wissenschaftsverlag WeltTrends. Der WeltTrends-Verlag stellte gemeinsam mit der Eurasien Gesellschaft das Buch in Berlin vor. Ein Beitrag von Éva Péli.
Die Ukraine-Krise hat „das zentrale Problem der russischen Sicherheit deutlich gemacht: Die nukleare Abschreckung schützt das Land nicht vor einer geopolitischen Aggression durch einen Feind, der eine existenzielle Bedrohung für die Russische Föderation darstellen kann.“ Zu diesem Schluss kamen die Autoren, die als einflussreiche Berater der russischen Regierung gelten. Sie fordern, die Angst vor einem Atomkrieg wieder zu wecken. Das nach dem Kalten Krieg entstandene „Atom-Tabu“ habe die Furcht vor nuklearer Eskalation schwinden lassen. Sie müsse wieder hervorgerufen werden, um bewaffnete Konflikte zwischen Atommächten zu verhindern.
Das Buch wurde veröffentlicht, kurz bevor am 19. November 2024 die Russische Föderation eine überarbeitete Nukleardoktrin verabschiedete, die die Einsatzschwelle für Nuklearwaffen erheblich senkt. Bereits konventionelle Angriffe auf Russland oder Belarus können demnach als Anlass für den Einsatz gesehen werden.
Mit Blick auf die europäischen Eliten stellen die Autoren fest, diese seien „noch stärker als die amerikanischen Eliten ‚vom strategischen Parasitismus‘ – der Gewöhnung an den Frieden und der fehlenden Angst vor dem Krieg – gezeichnet“. Sie hätten die Fähigkeit verloren, strategisch zu denken, und weil sie sich „in einer komplexen Krise befinden und ihre Legitimität verlieren“, hätten sie ganz und gar „über die Stränge geschlagen“. Trenin, Karaganow und Awakjanz stellen außerdem fest:
„Die herrschenden Kreise Europas sind bereits mit politisch-moralischen und militärökonomischen Vorbereitungen für einen großen Krieg mit Russland beschäftigt.“
Sie warnen vor den Folgen und schlagen der russischen Führung vor, „einen Überfallpläne schmiedenden Aggressor“ dadurch abzuschrecken, „dass dieser Überfall für ihn selbst garantiert unannehmbare oder sogar katastrophale Folgen haben wird“. Das schließt das Überschreiten der nuklearen Schwelle mittels Führung von Kernwaffenschlägen auf Ziele auf dem Hoheitsgebiet von NATO-Ländern als dem „absolut letzten Mittel“ ein.
Am 11. September stellte der WeltTrends-Verlag gemeinsam mit der Eurasien Gesellschaft das Buch in Berlin vor. Bei allen Vorschlägen an die russische Politik, den Westen „einzuschüchtern“, sei die Hauptbotschaft der drei Autoren: „Wir müssen kommunizieren!“ Das sagte Siegfried Fischer vom WeltTrends-Institut und fügte hinzu: „Je härter die Zeiten werden, desto besser und gründlicher muss die Kommunikation sein.“ Er bezeichnete das Buch als „Lehrbuch, um zu verstehen, was hinter der Propaganda steckt“.
Selbstüberschätzung und Eskalation
Es sei wichtig, das russische Denken zu verstehen, betonte bei der Buchvorstellung Alexander Rahr, Vorstand der Eurasien-Gesellschaft. Der Historiker, Buchautor und lange Zeit gefragte Russland-Kenner sieht eine „massive Selbstüberschätzung“ sowohl in der russischen Außenpolitik als auch in der Europäischen Union, die den Konflikt so brandgefährlich mache.
Der Politologe und Ex-Bundestagsabgeordnete Alexander Neu zeigte sich sicher, dass die Analytiker und Entscheider bis hin zum Bundesnachrichtendienst das Buch zur Kenntnis nehmen und auswerten. Das sollte auch die allgemeine Öffentlichkeit, forderte er – „denn es geht um unser Leben!“
Bei der Buchvorstellung in Berlin lobte Mitherausgeber Siegfried Fischer die Einbeziehung des Hardliners Karaganow und von Admiral Awakjanz, Direktor des Instituts für globale Militärökonomie und Strategie. Das gewährleiste, dass das Buch als ein Werk verstanden wird, das wichtige Teile der russischen Elite repräsentiert. Fischer erklärte, das Originalbuch sei dem russischen Präsidenten vorgelegt worden und habe „wie eine Bombe eingeschlagen“, weil es Schwachstellen in Russlands Sicherheits-, Militär- und Klimapolitik offenlegte. Daraufhin wurde die Veröffentlichung für die russische Elite sowie eine englische Übersetzung beschlossen.
Der frühere Bundestagsabgeordnete (Linkspartei) Neu zeigte sich schockiert über diese Haltung, insbesondere über die deutliche Handschrift von Karaganow. Er wies darauf hin, dass die Strategie der Autoren darauf abziele, die Überlegenheit im Eskalationsprozess wiederzuerlangen, und erinnerte an die „eindringliche Warnung“ des russischen Präsidenten vom 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarschs in die Ukraine: „Und jetzt einige sehr wichtige Worte an alle, die versucht sein könnten, sich von außen in den Gang der Ereignisse einzumischen: Wer immer sich uns in den Weg stellt oder gar unser Land, unser Volk bedroht, muss wissen, dass Russlands Antwort augenblicklich erfolgen wird, mit Folgen für Sie, die Sie in der Geschichte noch nicht erlebt haben. Wir sind auf alle Entwicklungen vorbereitet. Alle notwendigen Entscheidungen sind getroffen. Ich hoffe, meine Worte werden gehört.“
Verlagsleiter Kai Kleinwächter berichtete, dass die russischen Autoren ihr Buch zunächst anderen deutschen Verlagen anboten. Diese lehnten es jedoch ab, die Ansichten führender Strategen eines Landes zu veröffentlichen, das in der deutschen Öffentlichkeit als Feind betrachtet wird. Der WeltTrends-Verlag übernahm die Aufgabe, eine deutsche Ausgabe herauszugeben. Das wurde dadurch befördert, dass Fischer, ein einstiger DDR-Militär und später Abrüstungsexperte, und Trenin sich seit Jahrzehnten kennen.
Fischer, der selbst eine Dissertation über „Friedliche Koexistenz und militärische Abschreckung“ verfasst hat, wies in der Buchvorstellung darauf hin, dass sein russischer Kollege sich lange für eine Annäherung zwischen Russland und dem Westen eingesetzt, aber mit Beginn des aktuellen Konflikts eine persönliche Entscheidung getroffen hat. Trenin zog sich zunächst ins Privatleben zurück, bevor er eine neue Position in einem renommierten russischen Think Tank annahm.
„Feind Nummer eins“
Alexander Neu bewertete die aktuellen deutsch-russischen Beziehungen als so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Er sieht eine „Radikalisierung“ der deutschen Außenpolitik, die er als „antideutsch“ kritisiert. Der Ex-Abgeordnete stellte fest, dass aus russischer Sicht Deutschland dadurch seinen „Sonderstatus im Westen“ verloren hat und nun neben den USA als „Feind Nummer eins“ diskutiert wird. Er bemängelte das Fehlen einer Sprache, die der Entspannung dient, und kritisierte das „unverhohlene Säbelrasseln“. Der Politologe verwies dabei auf eine Aussage des Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU), wonach die Diplomatie „ausgereizt“ sei.
Der Osteuropa-Experte Rahr hob hervor, dass die Autoren des Buches den Einsatz von Atomwaffen vorschlagen, falls konventionelle Mittel nicht ausreichen, die NATO von Russland fernzuhalten. „Denn: Das Ziel der russischen Elite an der Macht ist klar: Keine NATO-Osterweiterung. Die NATO-Osterweiterung wird als die ‚Mutter aller Probleme‘ angesehen”, sagte der Historiker und Autor mehrerer Bücher, der sich als Kind des Kalten Krieges bezeichnet, „ein Kind russischer Emigranten mit Deutschland und Russland in der Brust“. „Man führt diesen schrecklichen Krieg, der auch für Russland sehr schmerzhaft ist und unzählige Verluste fordert, um den Westen in Schach zu halten und die NATO von den russischen Grenzen fernzuhalten. Ironischerweise steht die NATO heute in Finnland und Schweden und wird wohl irgendwann auch in die Westukraine gelangen. Das wirft die Frage auf, ob Russland sein Ziel überhaupt erreichen kann.“
Der Historiker hält die Vorstellung, dass Atomwaffen niemals eingesetzt würden, für naiv. Er sieht trotz des Eskalationspotenzials eine Friedensmöglichkeit, fragt sich aber, warum die russische Außenpolitik nicht deutlicher ihren Willen zu Kompromissen zeigt. Aus russischer Sicht hätte ein Frieden mit den USA Vorteile wie die Spaltung der NATO und eine geopolitische Neuausrichtung.
„Diplomatische Sonderoperation“
Auf die Frage aus dem Publikum, ob Russland das Aufrechterhalten von Gesprächskanälen noch als produktiv ansieht, erklärte Mitherausgeber Fischer, dass die russische Elite keineswegs alle Kanäle abgebrochen hat. Moskau bevorzuge eine selektive Vorgehensweise, die im Buch als „diplomatische Sonderoperation“ bezeichnet wird. Diese Strategie bedeute, die Kommunikation mit all jenen einzustellen, die als „unfruchtbar“ gelten, da ihre Positionen als starr und gegen Russland gerichtet wahrgenommen werden. Gleichzeitig sollen die Kanäle zu Akteuren offengehalten werden, mit denen ein Dialog noch möglich ist. Ziel sei es, Hardliner-Positionen zu überwinden, die Russland schaden könnten.
Fischer erläuterte, dass diese Haltung auf der Einschätzung der russischen und US-amerikanischen Eliten beruht. Während die russische Diplomatenschule oft mit Verachtung auf Quereinsteiger in die Diplomatie in anderen Ländern herabblickt, bringt das weniger zentralisierte US-amerikanische System Persönlichkeiten wie Henry Kissinger hervor, die die russische Elite dennoch beeinflusst haben. Die Hoffnung in Moskau sei, dass die derzeitigen Entscheidungsträger in Washington einen besseren Weg finden, die aktuellen Herausforderungen zu bewältigen.
Die Podiumsteilnehmer kamen zu dem Schluss, dass Russland aus historischen Erfahrungen ein tiefes Misstrauen gegenüber westlichen Abkommen entwickelt habe. Ein Friedensschluss in der Ukraine sei nur durch die USA möglich, da die Europäer dazu nicht in der Lage seien. Rahr schloss mit der Einschätzung, dass eine neue Trennlinie in Europa nach dem Korea-Modell das wahrscheinlichste Szenario sei. Die Aussicht auf einen Regimewechsel in Russland sei gering, während ein Machtwechsel in Deutschland wahrscheinlicher sei. Letzterer könne neue Chancen für ein besseres Verhältnis zwischen Berlin und Moskau eröffnen.
Dmitrij Trenin, Sergej Awakjanz, Sergej Karaganow: Von der passiven zur aktiven Abschreckung – Russlands neue Sicherheits- und Geopolitik. Potsdam 2025, WeltTrends Verlag, Taschenbuch, 124 Seiten, ISBN 978-3-949887-39-0, 19,50 Euro.
Titelbild und alle weiteren Fotos: Tilo Gräser
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