Von dem Schweigen zur Sabotage der Nord-Stream-Pipelines bis zur wirtschaftlich und politisch ruinösen NATO-Aufrüstung: Viele Menschen in Deutschland fragen sich, warum unsere „Eliten“ in Medien und Politik so häufig die geopolitischen und wirtschaftlichen Interessen der USA über die der eigenen Bevölkerung zu stellen scheinen. Unsere neue Gastautorin Nel Bonilla analysiert in einer Reihe von vier Artikeln die verborgene Architektur der transatlantischen Hegemonie und die Netzwerke hinter dem transatlantischen Wahnsinn. Ein Artikel von Nel Bonilla.
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Der Wahnsinn und seine Methode – Wie Netzwerke und Elitenintegration Europas Kurs bestimmen.
Woodrow Wilsons Außenminister Robert Lansing diktierte 1924 das Memo über die „ehrgeizigen jungen Mexikaner“. Die Formel dahinter ist schlicht: „Öffnet unsere Universitäten für ihre Elite, prägt sie mit amerikanischen Werten – und sie werden Mexiko künftig in unserem Sinne regieren: besser, billiger und ohne einen einzigen US-Marinesoldaten.“ Diese Methode wirkt heute bedrückend vertraut.
Hundert Jahre nachdem Lansing diesen Entwurf formuliert hatte, ist Deutschland zum Paradebeispiel dieser Methode geworden. Als das Kabinett von Olaf Scholz sehenden Auges die Zerstörung von Nord Stream 2 zuließ, ein Akt wirtschaftlicher Selbstsabotage ohne jeden plausiblen strategischen Nutzen für Deutschland, und Friedrich Merz, inzwischen Bundeskanzler, versprach, die Pipeline nie wieder zu nutzen, verrieten sie ihr eigenes Land. Zugleich erfüllten sie damit ein biografisches Schicksal – ein Schicksal, das aus ihren engen Horizonten geschmiedet wurde. Diese Horizonte hatten sich in den Elite-Universitäten der USA, in Pentagon-Workshops und in den mit Samt ausgekleideten Kammern der Atlantik-Brücke verfestigt.
Dies ist die Geschichte einer Elitengruppe, die darauf trainiert wurde, den Atlantizismus, also die feste Ausrichtung an den USA und der NATO, als Synonym für die ‚westliche Zivilisation‘ selbst zu betrachten. Die Rechnung dafür zahlen alle anderen: mit zusammenbrechender Industrieproduktion, Energiearmut und dem Gespenst der Wehrpflicht.
Einleitung: Der Wahnsinn und seine Methode
Deutschland, einst ein Exportgigant, der seine wirtschaftliche Souveränität streng hütete, opfert heute seine Energieinfrastruktur, finanziert Langstreckenraketen (einschließlich der gemeinsamen Produktion solcher Waffen mit der Ukraine) und erhebt die „Kriegstüchtigkeit“ wieder zur Tugend. Gleichzeitig werden Mobilisierungspläne für einen NATO-Russland-Konflikt durchgespielt, der – wie es der Operationsplan Deutschland vorsieht – in erster Linie deutschen Boden verwüsten würde. Dies ist eine strategische Neuausrichtung auf tieferer Ebene, das Ergebnis einer ideologischen Automatisierung – also eines Denkens, das wie automatisch in vorgegebenen ideologischen Bahnen verläuft. Wie sonst ließe sich die anhaltende Kluft zwischen öffentlicher Meinung und den Entscheidungen der Elite erklären?
Eine Umfrage aus dem Jahr 2024 zeigt: 60 Prozent der Deutschen lehnen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Doch Lars Klingbeil, SPD-Vorsitzender, Vizekanzler und Finanzminister, erklärte in einem Interview, die Bundeswehr müsse attraktiver werden, wenn Deutschland „kriegstüchtig“ sein solle, zum Beispiel durch die Möglichkeit, den Führerschein kostenlos beim Bund zu erwerben. Zugleich hält die Koalition an ihrer sogenannten „strategischen Ambiguität“ fest – also einer bewusst vagen und widersprüchlichen Haltung, die Spielräume für Aufrüstung offenlässt.
Dies sind die Symptome eines befremdlichen Musters, das sich in Berlin abzeichnet. Eine Nation, die sich einst aus den Trümmern von Krieg und Teilung wiederaufgebaut hat, marschiert nun bereitwillig in die Konfrontation mit einem atomar bewaffneten Nachbarn. Doch dieses Muster folgt einer Methode.
Man denke nur an die jüngste Erklärung von NATO-Generalsekretär Mark Rutte auf dem Gipfeltreffen 2025:
„Die NATO ist das mächtigste Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte – mächtiger als das Römische Reich, mächtiger als das napoleonische Reich … Wir müssen die Vorherrschaft Russlands verhindern, weil wir unsere Lebensweise schätzen.“
Die historische Unkenntnis – oder bewusste Verdrehung, je nachdem, wie man Ruttes Aussagen interpretiert – ist frappierend. Napoleon rechtfertigte, ähnlich wie die NATO heute, seine Vorherrschaft über den Kontinent als „Befreiung“. Sein Russlandfeldzug, der katastrophal scheiterte, wurde damals als Präventivschlag gegen die angeblich „aggressive“ Expansion des Zarenreichs dargestellt. Die Parallelen liegen auf der Hand.
Der Historiker Jeff Rich, der die Sabotagekampagnen der NATO im Rahmen der „Operation Spiderweb“ in Russland analysierte, stellte fest:
„Die NATO ist die Machtbasis für Eliten, die im Gleichschritt mit der geopolitischen Projektion der USA (also der Ausdehnung und Durchsetzung ihrer Machtinteressen) handeln. Wenn Rutte die NATO mit Napoleon vergleicht, vergisst er, dass Russland Europa letztlich von diesem Imperium befreit hat. Vielleicht wird Russland Europa nach diesem Krieg von den Vereinigten Staaten befreien.“
Was ich damit sagen will: Es handelt sich hier nicht um eine Verschwörung. Es geht um institutionalisierte Hegemonie, die durch das wirkt, was Antonio Gramsci als „kulturelle Führung“ (also die Fähigkeit einer herrschenden Klasse, ihre Werte und Weltbilder zur gesellschaftlichen Norm zu machen) bezeichnet hat. Doch während Gramsci noch nationale Eliten im Verhältnis zu ihren Mitbürgern analysierte, haben wir es heute mit einer transnationalen Kaste zu tun: mit deutschen Politikern wie Jakob Schrot (dazu gleich mehr), niederländischen Technokraten wie Rutte (der auf dem NATO-Gipfel, bei dem die Fünf-Prozent-Verteidigungsausgaben festgeschrieben wurden, den damaligen US-Präsidenten Trump scherzhaft „Daddy“ nannte) und französischen Eurokraten, deren Biografien, Ausbildung und Karriereanreize nicht auf ihre Bürger ausgerichtet sind, sondern auf die Notwendigkeit, das Projekt der US-amerikanischen Unipolarität am Leben zu erhalten. Das Handeln dieser Eliten auf dem geopolitischen Schachbrett ist nicht einfach irrational; sie sind schlicht einer anderen Bezugsgruppe verpflichtet.
Das Rätsel: Warum setzen europäische Eliten ihr eigenes Haus in Brand?
Wie wir nun sehen, liegt die Antwort nicht in schlichter Korruption oder ideologischem Eifer. Sie ist viel banaler und zugleich viel wirksamer. Die Erklärung liegt in Biografien, Netzwerken und Institutionen. Sie liegt auch in der Hegemonie auf der Ebene der funktionalen Eliten, also den Entscheidungsträgern in Politik, Wirtschaft, Medien und Militär, die durch ihre Position das Handeln einer Gesellschaft bestimmen: wenn herrschende Ideen zum „gesunden Menschenverstand“ werden. Und in diesem Fall wird Hegemonie nicht allein durch Gewalt durchgesetzt, sondern durch Bildung, die Rekrutierung von Eliten und durch ritualisierte Wiederholung.
Wissensnetzwerke der Eliten
Der Politikwissenschaftler Inderjeet Parmar bezeichnete diese Strukturen 2019 als die „weiche Maschinerie“ der Elitenwissensnetzwerke: Ströme von Menschen, Geld und Ideen, die einen transatlantischen Konsens von Washington bis Berlin institutionalisieren. Programme wie das Fulbright-Stipendium, der German Marshall Fund, die Atlantik-Brücke, die Münchner Sicherheitskonferenz oder die Bilderberg-Treffen bilden ein prägendes Ökosystem. Sie sortieren, schulen und fördern diejenigen, die das gewünschte Weltbild weitertragen können.
Entscheidend ist, dass diese Netzwerke keine passiven Foren sind. Sie sind die „wesentliche Machttechnologie der amerikanischen Eliten“: ein Modus der Wissensproduktion und Personalauswahl, der sich als spektakulär erfolgreich darin erwiesen hat, weltweit eine pro-amerikanische Weltsicht zu reproduzieren. Die Sozialisierung (oder Prägung) der Eliten ist dabei kein harmloser Prozess. Sie verankert Annahmen, definiert, was politisch überhaupt vorstellbar ist, und lässt Asymmetrien zur Selbstverständlichkeit werden.
Die Weltordnung
Die sogenannte liberale internationale Ordnung, das Nachkriegsmodell unter US-Führung, das die Weltsicht dieser Eliten prägt, ist keineswegs universalistisch, sondern beruht auf einer doppelten Logik. Wie Donald Tusk, der ehemalige Präsident des Europäischen Rates, 2017 während der ersten Trump-Regierung offen einräumte, besteht der eigentliche Zweck des Euro-Atlantizismus darin, eine postwestliche Weltordnung zu verhindern:
„Morgen treffe ich Präsident Trump, und ich werde versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass der Euro-Atlantizismus in erster Linie eine Zusammenarbeit der Freien im Namen der Freiheit ist; dass wir, wenn wir das Szenario verhindern wollen, das unsere Gegner vor nicht allzu langer Zeit in München als ‚postwestliche Weltordnung‘ bezeichnet haben, gemeinsam über unser Erbe der Freiheit wachen müssen.“
Innerhalb dieses Systems ist die Aufnahme selektiv. Japan und Südkorea wurden trotz ihrer Loyalität nie so behandelt wie Westeuropa. Und aufstrebende Mächte werden entweder gefügig gemacht, zur Anpassung gedrängt oder als Bedrohung eingedämmt. Diese Logik ist grundlegend: Wenn die Einbindung scheitert, muss die Eindämmung folgen.
Doch Eindämmung beginnt im Kopf, nicht mit Raketen. Die ideologische Assimilation ausländischer Eliten ist die erste Verteidigungslinie des Imperiums. Die Aufrechterhaltung der Hegemonie beruht daher weniger auf Zwang als auf sanfter Einbindung. Wissensnetzwerke der Eliten, eingebettet in Universitätsprogramme, philanthropische Stiftungen und Denkfabriken, fungieren als Träger dieser „Soft Power“. Sie prägen, rekrutieren und beglaubigen die nächste Generation von Führungskräften.
Eliten-Integrationsapparate
Wie Parmar festhält, bestimmen diese Netzwerke, was als „denkbarer Gedanke“ und „stellbare Frage“ gilt. Die Ford– und Rockefeller-Stiftungen, die RAND Corporation, die Brookings Institution, die Carnegie Endowment und das Center for American Progress sind solche Eliten-Integrationsapparate, in denen durch diese Prozesse der Einbindung und Prägung eine bestimmte Art von Wissen zu Macht wird. So wird eine Anstecknadel des Fulbright-Programms oder der Atlantik-Brücke zu einem Allzugangsausweis für Brüssel und Washington – und zum sichersten Weg, wirklich dazuzugehören.
Doch dieses Ökosystem umfasst nicht die ganze Welt. Eine Studie von Eelke Heemskerk und Frank Takes aus dem Jahr 2016, die 400.000 personelle Verflechtungen in Aufsichtsräten kartierte, zeigt: Der dichteste transnationale Elite-Cluster befindet sich nach wie vor auf der nordatlantischen Achse. Die asiatische Wirtschaftselite hingegen bildet eine eigenständige, weit weniger verflochtene Gemeinschaft – strukturell darauf ausgerichtet, eine eigene Machtbasis und vielleicht sogar eine alternative, sinozentrische Form des Kapitalismus aufzubauen, bei der China die zentrale Bezugsgröße bildet. Je stärker sich die asiatischen Netzwerke abschotten, desto größer erscheint, in den Augen der euro-atlantischen Eliten, das Risiko einer echten „postwestlichen Weltordnung“.
Mit anderen Worten: Die westlichen Denkfabriken dienen letztlich dazu, dieser möglichen Abweichung zuvorzukommen und ihre eigene Elitesphäre zu schützen.
Die europäischen Eliten werden nicht nur von den Vereinigten Staaten beeinflusst. Durch dieses System werden sie programmatisch ausgerichtet, beruflich geprägt und ideologisch an die USA gebunden. Natürlich nicht vollständig, als hätten sie keinerlei Eigenständigkeit oder als spiele die nationale Geschichte keine Rolle. Doch jede dieser europäischen Nationen bringt ihre eigenen Besonderheiten ein – und verleiht damit der transatlantischen Weltanschauung, die ihre Politik prägt, eine eigene Färbung.
Das Ergebnis: Die außenpolitischen Ziele der USA werden Berlin nicht einfach von außen aufgezwungen – sie werden von innen heraus ausgesprochen.
Ende Teil 1
Dieser Artikel wurde zuerst im englischen Original auf Nel Bonillas Substack veröffentlicht und von der Autorin selbst ins Deutsche übersetzt.