Die groteske Debatte um die Nutzung der „eingefrorenen“ russischen Währungsreserven

Die groteske Debatte um die Nutzung der „eingefrorenen“ russischen Währungsreserven

Die groteske Debatte um die Nutzung der „eingefrorenen“ russischen Währungsreserven

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Wenn der SPIEGEL unter der großspurigen Überschrift „Wie die Weltgemeinschaft um 300 Milliarden Euro ringt“ zu einem Erklärstück über die Hintergründe der eingefrorenen russischen Staatsgelder ansetzt, ist Obacht geboten. Der Text, der sich glücklicherweise hinter einer Bezahlschranke befindet, kommt in seiner Bewertung dann auch zu einem überraschenden Urteil: „Für den unwahrscheinlichen Fall, dass Russland vor einem Gericht nach dem Krieg recht bekommt, soll es in der EU Garantien für Belgien geben, so der Plan.“ So, so. Dass Russland vor einem Gericht recht bekäme, ist also laut SPIEGEL „unwahrscheinlich“? Das sieht aber auch wirklich nur der SPIEGEL so. Ein Hintergrundbericht von Jens Berger.

Zugegeben, das Thema ist wirklich komplex und erschwerend kommt hinzu, dass es erstaunlicherweise weder echte Präzedenzfälle noch eindeutige internationale rechtliche Regeln gibt. Es ist für die Bewertung also wohl nötig, ein wenig weiter auszuholen.

Was ist genau geschehen?

Mit dem sechsten Sanktionspaket, das im Juni 2022 von der EU beschlossen wurde, ging die EU erstmals direkt gegen die russischen Devisenreserven vor. Wenn Zentralbanken von Nicht-Euro-Ländern Konten führen, die in Euro notiert sind oder Staatsanleihen in Euro verwahren, sind diese Konten in der Regel Teil des Eurosystems und werden von sogenannten Clearinggesellschaften verwahrt, die ihren Sitz in der Eurozone haben. Eine der größten Clearinggesellschaften der Welt ist das belgische Unternehmen Euroclear, das für seine Kunden Papiere im Wert von sagenhaften 37,5 Billionen Euro verwahrt – und das ist kein Übersetzungsfehler, es handelt sich wirklich um Billionen.

Im Frühjahr 2022 war auch die russische Zentralbank einer der Kunden von Euroclear. Das staatliche Institut verwahrte dort Papiere – vor allem Staatsanleihen von Eurostaaten mit kurzer bis mittlerer Laufzeit – im Wert von rund 180 Milliarden Euro; der Euro-Teil der russischen Devisenreserven. Die betreffenden Konten wurden im Juni 2022 durch die Sanktionen der EU eingefroren. Dieser Vorgang ist international betrachtet nicht unüblich, auch wenn es dazu keinen allgemein anerkannten und verbindlichen rechtlichen Rahmen gibt.

Dass vor allem westliche Staaten gern von der Möglichkeit Gebrauch machen, im Falle eines Konfliktes oder Krieges die Konten ihres jeweiligen Gegners einzufrieren, kam jedoch bereits in der Vergangenheit häufiger vor. Zum Beispiel bei den US-Sanktionen gegen Iran, den US-Sanktionen gegen die Taliban in Afghanistan, den internationalen Sanktionen gegen Saddam Husseins Irak in den 1990ern oder den Sanktionen gegen Gaddafi. Als Präzedenzfälle für die EU-Sanktionen gegen Russland seit 2022 gehen diese Fallbeispiele jedoch allesamt nicht durch. Doch dazu später mehr.

Im internationalen Rechtssystem gilt das bloße Einfrieren fremder Vermögen als eine Art „leidliche Sünde“, die ein Bestandteil des größeren Problems unilateral verhängter Sanktionen ist. Hier geht es jedoch – und das ist wichtig – nur um das Einfrieren, also den zeitweiligen Entzug der Verfügung über fremde Vermögenswerte. Ist der Konflikt – in welcher Form auch immer – beendet, müssen diese Vermögenswerte wieder freigegeben und ihrem ursprünglichen Besitzer oder dessen Rechtsnachfolger zurückgegeben werden.

Vollkommen anders sieht es indes bei der dauerhaften Konfiszierung oder gar Inbesitznahme oder Weiterverteilung der Vermögenswerte gegen den Willen des Besitzers aus. Und genau das ist es, was die EU derzeit plant und der SPIEGEL bar jeder Kenntnis offenbar als rechtlich unproblematisch ansieht. Das ist jedoch falsch. Zahlreiche Beispiele zeigen, dass – wenn überhaupt – nur völkerrechtlich einvernehmliche Verträge einen echten Übertrag von staatlichen Vermögenstiteln gestatten und in allen anderen Fällen Gerichte anders entschieden haben.

Präzedenzfälle

Um dies alles auch rechtlich besser beurteilen zu können, lohnt sich ein Blick auf vergangene, halbwegs vergleichbare Fälle.

  1. US-Sanktionen gegen Iran

    2008 froren die USA Konten im Wert von rund zwei Milliarden US-Dollar ein, die der Bank Markazi, der iranischen Zentralbank, gehörten. Mit diesem Geld wollten die USA die Opfer zweier Terroranschläge (Beirut 1983, Khobar/Saudi Arabien 1996) entschädigen, für die sie Iran verantwortlich machten. Nach längerer und nicht eindeutiger Klärung der Zuständigkeit nahm der Internationale Gerichtshof schließlich 2019 den Fall „Certain Iranian Assets“ an und gab im Urteil Iran in der Sache recht. Die USA mussten Iran die entwendeten Geldern zurückzahlen. Entscheidend für das Urteil war die staatliche Immunität von Zentralbankgeldern.

  2. US-Sanktionen gegen die Taliban

    2021 verordnete die Biden-Regierung das Einfrieren von Guthaben im Wert von rund sieben Milliarden US-Dollar, das die afghanische Zentralbank als Dollar-Währungsreserve bei der FED in New York gehalten hatte. Laut den USA gehöre dieses Geld dem afghanischen Volk, aber nicht den Taliban. Die Hälfte dieses Geldes überwies die US-Regierung ein halbes Jahr später an einen Treuhandfonds, der humanitäre Projekte in Afghanistan finanzieren sollte. Die andere Hälfte war ursprünglich für die Opfer von 9/11 vorgesehen. Dieser Plan wurde Biden jedoch von seinen Beratern wieder ausgeredet, hätten die USA in diesem Falle (siehe das IGH-Urteil im Fall Iran) mit einer klaren Niederlage vor Gerichten rechnen müssen. Das rechtliche Nachspiel zur Übereignung von Geldern an den Treuhandfonds ist derweil noch nicht abgeschlossen. Der Treuhandfonds liegt aktuell in der Schweiz und hat noch keinen einzigen Cent ausgegeben, da die USA auch in diesem Punkt Gerichtsentscheide abwarten wollen.  Als Präzedenzfall eignet sich dieses Beispiel nicht, da die Gelder immer noch offiziell als „eingefroren“ gelten und die rechtlichen Streitigkeiten anhalten. Für die Bewertung ist jedoch interessant, dass „selbst“ die USA es sich in diesem Fall nicht trauen, die Gelder offiziell zu konfiszieren und erst einmal die Entscheidung der Gerichte abwarten wollen.

  3. Irak-Sanktionen in den 1990ern

    Nach der Invasion Kuwaits durch irakische Truppen im August 1990 verhängte der UN-Sicherheitsrat umfangreiche Sanktionen gegen den Irak, in deren Rahmen auch irakische Auslandsguthaben eingefroren – aber nicht konfisziert – wurden. Während der Sanktionen wurden Teile dieser Gelder von der UN unter Treuhandverwaltung u.a. im Rahmen des Oil-for-Good-Programms ausgezahlt, nach dem Sturz Saddam Husseins wurden die verbleibenden Gelder an die neue irakische Regierung ausgegeben. Auch dieser Fall eignet sich nicht als Präzedenzfall, da es sich um Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat handelte, die in gewisser Art und Weise völkerrechtlich gedeckt waren.

  4. EU- und UN-Sanktionen gegen Libyen/Gaddafi

    Besonders interessant sind in diesem Kontext auch die Sanktionen, die die UN 2011 gegen Libyen ausgesprochen haben. Der UN-Sicherheitsrat hatte damals die gesamten Auslandsvermögen des libyschen Staatsfonds LIA eingefroren – mithin 60 Milliarden US-Dollar. Die Sanktionen sehen eigentlich vor, die eingefrorenen Gelder an die neue libysche Regierung zurückzugeben, doch da im Land immer noch Bürgerkrieg herrscht und es keine von allen Sicherheitsratsmitgliedern anerkannte Nachfolgeregierung gibt, sind die Gelder zu großen Teilen immer noch eingefroren und Gegenstand sehr aktiver diplomatischer Verhandlungen zwischen den libyschen Bürgerkriegsparteien und den UN-Sicherheitsratsmitgliedern. Auch die EU hat libysche Vermögen eingefroren, aber bewusst vermieden, diese Gelder zu konfiszieren und/oder ohne Mandat durch den UN-Sicherheitsrat an Dritte auszubezahlen. Auch dieser Fall eignet sich daher nicht als Präzedenzfall, da auch hier alle Beteiligten sich an tradierte Rechtsnormen halten und den UN-Sicherheitsrat als entscheidendes Gremium akzeptieren.

Im rechtsfreien Raum

Um es kurz zu machen: Für das Einfrieren staatlicher Vermögenswerte gibt es einige Fallbeispiele. Mit einer einzigen Ausnahme erfolgte die Freigabe bzw. Weiterverwendung dieser Gelder in einem völkerrechtlich klaren Prozess mit Mandat des UN-Sicherheitsrats. Die einzige Ausnahme war die Konfiszierung iranischer Gelder durch die USA und in diesem Fall entschied der internationale Gerichtshof zugunsten Irans.

Würde die EU also die eingefrorenen russischen Staatsvermögen ohne ein völkerrechtliches Mandat durch den UN-Sicherheitsrat für eigene Zwecke – dazu gehören auch Kredite oder gar Wiederaufbaugelder an die Ukraine – einsetzen, wäre dies im Kern der Sache durchaus vergleichbar mit dem Fall der konfiszierten iranischen Gelder. In beiden Fällen handelt es sich um Staatsvermögen, das internationale Immunität genießt, und in beiden Fällen gibt es keinen völkerrechtlichen Vertrag, der eine Nutzung gegen den Willen des rechtlichen Besitzers dieser Vermögen genehmigt.

Rechtswege für Russland

Sollte die EU dennoch die russischen Gelder in jedweder Form gegen den Willen Russlands weiterverteilen oder einbehalten, stünden Russland gleich zahlreiche rechtliche Möglichkeiten zur Verfügung.

Zunächst könnte Russland Euroclear vor einem belgischen Gericht bis hin zum belgischen Cour de Cassation verklagen. Die Gerichte hätten zu prüfen, ob die Eigentumsrechte nach belgischem Recht verletzt wurden und ob in diesem Fall die internationale Immunität von russischem Staatsvermögen verletzt wurde. Gibt man diesen Fall bei diversen AI-Engines ein, erhält man durchweg die Einschätzung, dass die Chancen Russlands in diesem Fall je nach Engine als hoch bis sehr hoch bewertet werden. In diesem Fall wäre übrigens das Unternehmen Euroclear in voller Höhe haftbar. Bei dieser Summe wäre Euroclear dann zweifelsohne zahlungsunfähig und die Einlagensicherung des Staates Belgien und der EU würden hier greifen. Infolge müsste Euroclear dann den Staat Belgien – der formal die Veruntreuung der Kundeneinlagen angeordnet hat – verklagen und auch hier stünden die Chancen vor Gericht sehr gut.

Das ist jedoch beileibe nicht der einzige Rechtsweg, der Russland offensteht. Parallel zur Klage in Belgien stünde Russland auch der Gang zum Europäischen Gerichtshof offen. Hier würde Russland dann die Sanktionen selbst und die Auslegung der Sanktionen durch die EU-Behörden hinterfragen. Verstoßen sie gegen die EU-Grundrechte oder das Eigentumsrecht? Verletzen sie internationales Recht? Auch hier stehen die Chancen auf einen russischen Erfolg sehr gut.

Weiterhin steht Russland eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag offen. Hier ginge es um die Verletzung staatlicher Immunität und den Bruch des Völkerrechts. Da die EU als Staatengemeinschaft vor dem ICJ nicht verklagt werden kann, würde sich die Klage in diesem Fall gegen den Staat Belgien richten und auch hier ist die rechtliche Situation eigentlich so klar, dass Russland beste Chancen auf einen Sieg vor Gericht hätte.

Hinzu kommt auch noch die Möglichkeit, Euroclear bzw. den Staat Belgien vor gleich mehreren Schiedsgerichten anzuklagen. Da kämen z.B. das der Weltbankgruppe angehörige Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten in Washington (ICSID) und die zur UN gehörende United Nations Commission On International Trade Law in Wien (UNCITRAL) infrage. Hier ging es dann um die Einhaltung der Clearing-Verträge, die Anleihebedingungen, den Investitionsschutz und andere vertragliche Aspekte. Eine Bewertung ist hier schwer, da die Verträge von Euroclear bzw. den Anleiheausgebern komplex sind.

Wie man da – wie der SPIEGEL – zu der Einschätzung kommen kann, es sei „unwahrscheinlich, dass Russland vor einem Gericht nach dem Krieg recht bekommt“, ist vollkommen unverständlich. Ausnahmslos alle(!) Experten, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen, kommen zu exakt der gegenteiligen Einschätzung. Und das weiß auch die EU und das weiß insbesondere der Staat Belgien, der im Falle einer Klage als erstes regresspflichtig wäre, nur allzu genau.

EU-Plan durch die Hintertür

Und eben weil alle Beteiligten das ganz genau wissen, kam es bislang auch noch nicht zu einem Zugriff auf die eingefrorenen Gelder. Man konnte sich lediglich dazu durchringen, die Gewinne („Windfall Profits“) aus den Anlagen als Sicherheit zu verwenden. Selbst das ist übrigens juristisch fragwürdig und wird wohl eines Tages von Gerichten überprüft. Um an die Gelder selbst heranzukommen, hat die EU nun offenbar einen neuen, sehr eigenwilligen, Plan.

Man will der Ukraine einen 140-Milliarden-Euro „Kredit“ geben. Wer genau das Geld dafür aufbringen soll, ist unklar. Die EZB hat sich jedenfalls bereits geweigert, diese Geld zur Verfügung zu stellen. In einigen Quellen liest man, Euroclear solle den Kredit vergeben. Das ist jedoch ziemlich absurd, da Euroclear keine Großbank, sondern eine Clearinggesellschaft ist, die Konten für Großkunden betreibt und sonst so spannende Dinge wie das Clearing und Settlement von Wertpapiergeschäften betreibt. Euroclear hat einen Umsatz von 1,5 Milliarden Euro und kann allein schon deshalb schwerlich einen Kredit im hundertfachen Volumen seines Jahresumsatzes vergeben.

Aber weiter im Plan. Dieser „Kredit“ soll als Nullkupon-Anleihe konzipiert werden – das heißt, die volle Rückzahlung erfolgt erst am Ende der Laufzeit. Die Anleihe soll dann aber so gestaltet sein, dass die Ukraine nur dann überhaupt rückzahlungspflichtig ist, wenn Russland Reparationsleistungen im gleichen Umfang leistet. Russland soll also – so der Plan – zwischen den Zeilen den Kredit an die Ukraine absichern und selbst zurückzahlen. Wer kommt auf diesen Unsinn? Dass Russland sich in einem völkerrechtlich bindenden Friedensvertrag zu irgendwelchen relevanten Reparationsleistungen bereiterklärt, ist extrem unwahrscheinlich. Die Ukraine würden diesen Kredit also nicht zurückzahlen und wer haftet dann für das Geld?

Erst einmal könnten genau an dieser Stelle dann – so ist es ja wohl gedacht – die eingefrorenen russischen Gelder herangezogen werden. Rechtlich wäre das aber genau die Konfiszierung, um die es in diesem Artikel geht. Russland würde dagegen klagen und gewinnen. Wie man es dreht und wendet – am Ende wäre „irgendwer in Europa“ voll zahlungspflichtig. Je nach Rechtsweg und Gerichtsentscheid wäre dies wohl an erster Stelle der Staat Belgien. Dem wir aber – so liest man – von der EU und vor allem von Deutschland und Frankreich zugesichert, dass es eine Verteilung der Lasten gäbe. Nun gut, es ist wohl auszuschließen, dass sich Staaten wie Ungarn oder die Slowakei an der derlei Finanzverbrechen beteiligen. Am Ende stünden als aller Wahrscheinlichkeit dann ausschließlich Deutschland und Frankreich, die voll in die Haftung gehen. Und wir reden hier von 140 Milliarden Euro, die am Ende die Steuerzahler ausgleichen müssen. Nichts gegen ein „gutes“ Finanzverbrechen – aber dieser Plan ist einfach nur Dummheit mit Ansage.

Vor noch gar nicht allzu langer Zeit hatte eine deutsche Außenministerin eine ominöse „regelbasierte Ordnung“ zum Leitfaden deutscher Politik erklärt. Besagte Außenministerin ist bekanntlich nicht mehr im Amt und internationales Recht und tradierte Regeln werden von der deutschen und europäischen Politik sehr einseitig ausgelegt. Kollidieren die eigenen Wünsche mit dem Recht, setzt man sich über die regelbasierte Ordnung hinweg. Hauptsache man ist moralisch „im Recht“. Und für dieses „moralische Recht“ zahlen wir. Na Dankeschön.

Titelbild: Pixels Hunter/shutterstock.com

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