Regelbasierte Weltordnung? Völkerrecht? Alles Schall und Rauch, wenn es um die russischen Währungsreserven geht

Regelbasierte Weltordnung? Völkerrecht? Alles Schall und Rauch, wenn es um die russischen Währungsreserven geht

Regelbasierte Weltordnung? Völkerrecht? Alles Schall und Rauch, wenn es um die russischen Währungsreserven geht

Jens Berger
Ein Artikel von: Jens Berger

Eine der wenigen, wirklich schmerzhaften Sanktionen des Westens gegen Russland war das Einfrieren der Auslandsguthaben der russischen Zentralbank. Angestoßen von den USA tobt derzeit auf europäischer Ebene eine Debatte, ob man diese Gelder nun nicht konfiszieren und der Ukraine als eine Art Ausgleich für die Kriegsschäden überweisen solle. In Deutschland sind vor allem Grünen-Politiker ganz angetan von dieser Idee. Die EU-Kommission ist da etwas zurückhaltender und spielt nun mit dem Gedanken, „nur“ die Zinseinnahmen dieser russischen Gelder nach Kiew zu überweisen. Völkerrechtlich ist dies ganz klar verboten und die Folgen eines solchen Völkerrechtsbruchs wären fatal. Einmal mehr zeigt sich, dass die sogenannte „regelbasierte Weltordnung“, die der Westen propagiert, ein reiner Kampfbegriff ist und der Westen selbst jegliche Regeln bricht, wenn er sich dadurch einen Vorteil verschafft. Doch so funktioniert die Welt im 21. Jahrhundert nicht mehr. Von Jens Berger.

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Um welche Gelder geht es?

Die G7-Staaten haben nach eigenen Angaben rund 265 Milliarden Euro Guthaben der russischen Zentralbank auf Basis der Sanktionen eingefroren. Nur eine einstellige Milliardensumme davon befindet sich in den USA. Der Großteil – 206 Milliarden Euro – werden von der EU zurückgehalten – 180 Milliarden davon liegen auf den Konten der belgischen Euroclear, der Rest größtenteils bei der Luxemburger Konkurrenzfirma Clearstream.

Was sind das für Gelder? Umgangssprachlich kann man diese Summen als die russischen Währungsreserven in Euro bezeichnen. Jeder Staat hat Währungsreserven in verschiedenen Auslandswährungen und diese Gelder müssen finanztechnisch auf den Konten einer Bank oder besser einem Zentralverwahrer (englisch CSD) gebucht sein, der dem Zentralbanksystem des Währungsraums angehört, in dessen Währung die Reserven notiert sind. Euroclear ist mit Einlagen im Wert von rund 34 Billionen Euro hinter der zum US-FED-System gehörenden DTCC der zweitgrößte Zentralverwahrer in der Welt. Auch wenn Zentralverwahrer sehr große Summen internationaler Kunden verwahren, unterstehen sie rechtlich den Gesetzen des Landes, in dem sie registriert sind. Euroclear sitzt in Brüssel, ist also aus rechtlicher Sicht ein belgisches Institut.

Die Währungsreserven einer Zentralbank haben jedoch – anders als z.B. die Guthaben, die von Banken oder Fondsgesellschaften verwaltet werden – rechtlich eine besondere Stellung. Sie zählen zu den staatlichen Vermögenswerten und sind durch internationales Recht immun. Nationale Gerichte können auf Basis nationaler Gesetze daher nicht auf diese Vermögenswerte zurückgreifen. Es gibt jedoch Ausnahmen, die im Völkerrecht begründet sind. So kann ein Beschluss des UN-Sicherheitsrats, ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs oder ein bi- bzw. multilateraler Vertrag (z.B. ein Friedensvertrag) die Immunität bestimmter staatlicher Vermögenswerte aufheben. Im Falle der eingefrorenen Währungsreserven der russischen Zentralbank trifft jedoch keiner dieser Punkte zu. Im Gegenteil. Laut Völkerrecht stellte bereits das Einfrieren dieser Vermögenswerte eine Straftat dar, da es auch hierfür weder ein UN-Mandat noch ein Urteil des Internationalen Gerichtshofs oder einen Vertrag mit Russland gab, der dieses Vorgehen auf eine legale Basis stellte.

Wie kommen deutsche und europäische Politiker dazu, offen einen Völkerrechtsbruch zu fordern?

Es geht hier um Realpolitik. Allen voran die US-Regierung hat im laufenden Wahlkampf immer größere innenpolitische Probleme, weitere Milliardensummen für die Ukraine bereitzustellen. Der einfachste Weg, weiterhin Waffen für mehrere Milliarden in die Ukraine zu liefern, wäre, die Rechnung dafür einfach jemand anderem aufzubürden. Die eingefrorenen Währungsreserven Russlands kämen da natürlich wie gerufen – den Staat, der aus westlicher Sicht die Ukraine überfallen hat, für die ukrainischen Waffen zahlen zu lassen, hätte ja auch eine gewisse Ironie. Und um das Völkerrecht scheren sich die Amerikaner ja ohnehin nicht. „Dummerweise“ sind diese Gelder (s.o.) zum allergrößten Teil nicht in den USA, sondern in Belgien und können daher nicht von den USA, sondern nur von Belgien und der EU konfisziert werden. Mit diesen „geraubten Geldern“ sollen dann – so die Vorstellungen der USA – die US-Waffenlieferungen im Namen der Ukraine bezahlt werden.

Ein Plan made in USA

Die Idee ist aus US-Sicht freilich genial. Die Regierung muss sich nicht mehr mit dem republikanisch dominierten Kongress über die Freigabe der Gelder streiten, mit denen die US-Waffenlieferungen bislang auf Kosten der US-Steuerzahler finanziert werden. US-Unternehmen bekommen stattdessen russisches Geld, die Ukraine bekommt amerikanische Waffen und die EU trägt die rechtliche und politische Verantwortung für dieses Manöver. Das ist ein Manöver ganz nach dem Geschmack der Amerikaner.

Da wundert es nicht, dass vor allem US-hörige Politiker in Europa und Deutschland von diesem Plan begeistert sind. In Deutschland gehören die Grünen zu den großen Anhängern dieses eindeutig völkerrechtswidrigen Plans – so viel zum Thema „regelbasierte Weltordnung“ und Grüne. Der EU geht dieser Plan jedoch ein wenig zu weit. Dort meint man, im Kleingedruckten eine „Gesetzeslücke“ gefunden zu haben. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen schlägt daher auch nicht die Konfiszierung der russischen Währungsreserven selbst, sondern „lediglich“ die Konfiszierung der Zinsgewinne vor, die mit diesen Geldern in den letzten beiden Jahren erzielt wurden – es handelt sich dabei um rund 15 bis 17 Milliarden Euro; pikanterweise dürften dies zum größten Teil Zinszahlungen aus europäischen Staatsanleihen sein; sind derartige Währungsreserven doch meist in festverzinslichen Papieren der obersten „Sicherheitsstufe“ investiert.

Wie kommt die EU auf diese „Gesetzeslücke“?

Ganz einfach. Die Verträge zwischen Euroclear und seinen Kunden sehen im Kleingedruckten vor, dass die Zinsgewinne auf von Euroclear verwahrte Einlagen technisch nicht auf das Kundenkonto, sondern auf ein Anderkonto gebucht werden, das rechtlich nicht dem Kunden, sondern Euroclear gehört. Kunden wird daher empfohlen, solcher Zinsgewinne möglichst schnell auf ein anderes Konto zu buchen. Vertragsrechtlich würde die EU – nach eigener Interpretation der Gesetzeslage – als kein immunes Vermögen eines souveränen Staates, sondern Vermögen von Euroclear konfiszieren. Einer seriösen rechtlichen Prüfung hält diese Interpretation freilich nicht stand, zumal die russische Zentralbank aufgrund der Sanktionen gar keinen Zugriff auf die Zinseinnahmen hat und sie daher auch nicht – wie von Euroclear vertraglich empfohlen – auf andere Konten buchen kann. Völkerrechtlich sind Zinseinnahmen, die mit dem immunen Vermögen eines souveränen Staates erzielt werden, selbstverständlich ebenfalls Bestandteil dessen Staatsvermögens. Da mögen sich die Rechtsverdreher der EU noch so sehr mit Gegengutachten anstrengen.

Welche Folgen hätte eine Konfiszierung des russischen Vermögens?

Regelbasierte Ordnung hin, regelbasierte Ordnung her – wenn der UN-Sicherheitsrat und der Internationale Gerichtshof als Regulierer ausfallen, gilt immer noch das Recht des Stärkeren. Die EU kann diese Gelder konfiszieren, auch wenn dies ein klarer Rechtsbruch ist. Russland hat keinen Hebel, dies zu verhindern. Doch Russland wird dies – so viel ist klar – auch nicht tatenlos hinnehmen. Bereits Ende letzten Jahres verkündete Putins Pressesprecher Dmitri Peskow, dass Russland bereits eine Liste mit ausländischen Vermögenspositionen erstellt hat, die man im Falle eines Falles seinerseits konfiszieren würde und die in der Summe den russischen Währungsreserven entspricht, um die es hier geht. Und hier wird es bereits heikel, denn trotz Sanktionen verfügen vor allem westliche Unternehmen noch über erhebliche Vermögenswerte in Russland, die im Falle eines Falles von Russland konfisziert werden könnten.

Doch so weit muss es gar nicht kommen. Russland könnte auch – anders als der Westen – die regelbasierte Ordnung verfolgen, den Rechtsweg gehen und seinerseits Euroclear vor internationalen Gerichten verklagen. Da die rechtliche Lage eindeutig ist, dürfte Euroclear nur geringe Chancen haben, und da das Unternehmen selbstverständlich kein eigenes Vermögen in dieser Größenordnung besitzt und zweifelsohne höchst systemrelevant ist, müssten die EU bzw. die EU-Staaten einspringen und die Strafzahlungen direkt oder indirekt übernehmen. Die Folgen: Die US-Unternehmen hätten die Einnahmen, die Ukrainer die Waffen, die US-Regierung müsste nichts zahlen und die Rechnung für alles würde einmal mehr den Europäern, also letzten Endes den europäischen Steuerzahlern, präsentiert. Ein Plan, an dem die USA sicher ihre Freude haben.

Gigantische Kollateralschäden

Doch auch das wäre eigentlich zu kurz gedacht, da die Kollateralschäden auch bis in die USA reichen würden. Auch wenn die vielzitierte regelbasierte Ordnung außenpolitisch de facto eine Lex Americana darstellt, so funktioniert das Weltfinanzsystem sehr wohl regelbasiert. Es ist doch ganz einfach: Wenn ein Staat einem anderen Staat ganz profan sein Geld klaut, werden nicht nur dieser bestohlene Staat, sondern auch alle anderen Staaten daraus ihre Lehren ziehen. Insbesondere in China wird man die ganze Debatte sehr interessiert verfolgen. Es gibt keinen wirklich überzeugenden Grund, warum die allermeisten Länder der Welt ihre Währungsreserven zum größten Teil in US-Dollar oder Euro halten müssen; genau so wenig gibt es einen wirklich überzeugenden Grund, warum sie ihre Vermögen in den USA oder im Euroraum anlegen bzw. investieren müssten. Die BRICS hat mit ihrem „Contingent Reserve Arrangement“, also ihrem gemeinsamen Reservefonds, und ihrer New Developement Bank, einer Art IWF-Alternative, bereits die eigenen Instrumente in der Hand. Die Entdollarisierung des Weltfinanzsystems hat bereits Fahrt aufgenommen und wenn sich der Trend fortsetzt, leiden darunter allen voran die USA und in zweiter Reihe auch die EU.

Allein China verfügt über Währungsreserven im Wert von mehr als drei Billionen US-Dollar. Darunter befinden sich unter anderem US-Staatsanleihen im Wert von fast 900 Milliarden US-Dollar – übrigens zu einem großen Teil auf Eurokonten, die von Euroclear in Brüssel verwahrt werden. Wenn China der Meinung ist, dieses Geld sei nicht mehr sicher, und es aus den USA und der EU abzieht, hätte dies signifikante Auswirkungen auf den US-Dollar und den Euro. Bislang war dies ein eher abstraktes Risiko, da sowohl die USA als auch die EU Chinas größte Märkte waren und China daher kein Interesse daran haben konnte, seine wichtigsten Kunden zu schädigen. Dies könnte sich jedoch ändern, wenn der Westen die Regeln des internationalen Finanzsystems derart offen bricht. Und was für China gilt, gilt unisono für viele andere Staaten.

Das Konfiszieren der russischen Währungsreserven könnte eine ganze Lawine lostreten, die zu einer nennenswerten Kapitalflucht aus dem Dollar- und Euroraum führt. Die volkswirtschaftlichen Folgen wären fatal.

Doch selbst wenn dieses Szenario nicht eintritt. Was meint der Westen wohl, wie Russland auf diesen Diebstahl reagiert? Was wird Russland in den irgendwann ja ohnehin kommenden Friedensverhandlungen fordern? Wird Russland auf die gestohlenen 265 Milliarden Euro einfach so verzichten? Sicher nicht. Was wird man als Kompensation fordern? Weitere Teil der Ukraine? Reparationszahlungen? Wer wird die bezahlen? Die Ukraine? Wohl kaum. Die Rechnung wird am Ende so oder so der Westen, genauer gesagt Europa, bezahlen. Wieder einmal schaufelt die westliche Politik sich ihr eigenes Grab.

Last but not least wollen wir an dieser Stelle auch den ideologischen Schaden nicht außer Acht lassen. Was ist von einem Dieb zu halten, der ständig und ungefragt seinen Opfern Sonntagsreden über Regeln, die man befolgen sollte, hält? Einem Dieb, der in der ganzen Welt eine „regelbasierte Ordnung“ fordert und selbst allenthalben die Regeln bricht, wenn er sich davon einen Vorteil verspricht? Das ganze Gerede nimmt doch außerhalb des Westens schon jetzt niemand mehr ernst. Wenn der Westen nun auch den wohl historisch größten Raub der Geschichte „regelbasiert“ begeht, wird das Ganze nur noch zur Farce.

Titelbild: Pixels Hunter/shutterstock.com