Wladimir Putins Rede. Es sieht so aus, als wisse er, wo der Schuh drückt

Wladimir Putins Rede. Es sieht so aus, als wisse er, wo der Schuh drückt

Wladimir Putins Rede. Es sieht so aus, als wisse er, wo der Schuh drückt

Ulrich Heyden
Ein Artikel von Ulrich Heyden

Zwei Wochen vor den russischen Präsidentschaftswahlen beschreibt Wladimir Putin Russland in einer Rede vor der Föderalen Versammlung als aufstrebende Volkswirtschaft, die aber noch Modernisierungsdefizite hat. In ein Wettrüsten mit dem Westen – wie in den 1980er Jahren – werde man sich nicht hineinziehen lassen, erklärte Putin. Der russische Präsident, der Mitte März erneut für das Präsidentenamt kandidiert, wirkte entspannt, aber konzentriert, so als ob er gar nicht im Wahlkampf, sondern auf einer gewöhnlichen politischen Veranstaltung war. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Und hier zu Ihrer Verfügung die offizielle englische Fassung der Putin-Rede: Presidential Address to the Federal Assembly • President of Russia (kremlin.ru).

Dass Putin sich im Wahlkampf befindet, merkte man nur an einigen optischen Details. Zu der Rede vor der Föderalen Versammlung, zu der die Abgeordneten der beiden russischen Parlamentskammern und geistliche Würdenträger gehören, waren diesmal auch Vertreter verschiedener sozialer Gruppen eingeladen worden. Das Bild im Konferenzsaal Gostiny Dwor am Roten Platz war diesmal bunter. Man sah nicht nur Herren und Damen in dunklen Kostümen. Im Saal saßen auch größere Gruppen von Soldaten in ordensgeschmückter Ausgeh-Uniform und jüngere Leute in bunten Overalls.

Schwerpunkt der Rede: Soziale und wirtschaftliche Entwicklung

In seiner Rede vor der Föderalen Versammlung setzte Wladimir Putin den Schwerpunkt auf die Fragen Soziales, Familie und Wirtschaft. Die Außenpolitik spielte nur eine Randrolle.

Das war auf den ersten Blick erstaunlich angesichts der Spannungen mit den westlichen Staaten. Aber Putin demonstrierte mit seiner Schwerpunktsetzung, dass Russland sich vom Konflikt mit dem Westen nicht davon abbringen lässt, seine soziale und wirtschaftliche Infrastruktur weiterzuentwickeln.

Der Präsident erklärte, der Westen versuche, Russland wieder in das Wettrüsten reinzuziehen und „den Trick zu wiederholen“, den man schon in den 1980er Jahren gegen die Sowjetunion angewandt habe.

Putin: „Diese Leute haben vergessen, was Krieg ist“

Zu der Drohung des französischen Präsidenten, Truppen in die Ukraine zu schicken, erklärte Putin, „wir erinnern an das Schicksal derer, die mal ihre Kontingente auf das Territorium unseres Landes geschickt haben. Aber heute werden die Folgen für die möglichen Angreifer viel tragischer sein. Sie müssen endlich begreifen, dass wir auch Waffen haben, die Ziele auf ihrem Territorium zerstören können. Alles was sie sich jetzt ausdenken, womit sie die ganze Welt ängstigen, das alles droht zu einem Konflikt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen zu werden und das bedeutet die Zerstörung der Zivilisation. Verstehen diese Leute das etwa nicht? Wissen Sie, das sind Leute, die nicht durch schwere Prüfungen gegangen sind. Sie haben schon vergessen, was Krieg ist.“

Irreführende Berichterstattung von Tagesschau.de

Die Berichterstattung der deutschen Medien über die Putin-Rede war irreführend. Tagesschau.de titelte, „Putin warnt Westen vor Truppeneinsatz in der Ukraine“.

Die Tagesschau machte aus einem Neben-Thema der Rede – dem Konflikt in der Ukraine – das Hauptthema. Warum? Weil die Wiedergabe einer Putin-Rede, in der es um die weitere Entwicklung der Sozialsysteme und der Wirtschaft in Russland geht, nicht in das Bild passt, welches die deutschen Medien von Russland malen, einem Land, welches angeblich kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Ja, Putin, der sich am 15. März zur Wiederwahl für das Amt des Präsidenten Russlands stellt, machte auch Wahlkampf. Aber er brachte keine Phrasen, sondern klapperte Stück für Stück alle Bereiche des russischen Staatswesens ab und stellte klar, wo man in Zukunft mit staatlicher Hilfe Modernisierungen anschieben und soziale Lücken stopfen will.

Putin erinnerte sich an soziale Gruppen in der Gesellschaft, die sonst nie Thema seiner Pressekonferenzen sind. Den Bewohnern der nordöstlichen Territorien Russlands, die nicht an Gasleitungen angeschlossen sind, versprach er Zuschüsse von umgerechnet 320 Millionen Euro für Heizgeräte.

Putin gestand ein, dass die Beschäftigten in der Forstwirtschaft und beim Naturschutz „sehr wenig“ verdienen. Ihre Löhne würden erhöht, denn sie erfüllten für Russland eine sehr wichtige Aufgabe.

Die Rede dauerte zwei Stunden und sechs Minuten. Sie war vollgefüllt mit Zahlen. Der Präsident erklärte, dass das russische Wirtschaftswachstum stabil ist und dass das wirtschaftliche Gewicht der BRICS-Staaten von Jahr zu Jahr wächst.

Nationale Programme“ zu „Familie“, „Jugend“, „langes Leben“, „Fachkräfte“ und „IT“

Putin kündigte fünf neue „nationale Programme“ an. So viele „nationale Programme“ auf einmal hat es noch nie gegeben.

Mit dem Programm „Familie“ soll die Lebensqualität von Familien erhöht und die Geburtenentwicklung gefördert werden. Mit dem Programm „Jugend“ soll die Ausbildung von Jugendlichen gefördert werden. Mit dem Programm „Langes, aktives Leben“ sollen ländliche Gebiete gefördert werden, wo die Lebenserwartung niedriger ist als im Landesdurchschnitt.

Ein viertes Programm heißt „Fachkräfte“. Es soll dafür sorgen, dass Russland genug ausgebildete Fachkräfte für eine moderne Wirtschaft hat. Das fünfte Programm mit dem Titel „Ökonomie der Daten“ soll bis 2030 für umgerechnet sieben Milliarden Euro eine digitale Plattform für alle wirtschaftlichen und sozialen Bereiche entwickeln. In seiner Rede rief der Präsident dazu auf, die künstliche Intelligenz aktiv für die Modernisierung des Landes zu nutzen.

Putin: „Wir haben zu viel aus dem Ausland gekauft“

Die russische Wirtschaft habe in ihrem Entwicklungstempo die G7-Staaten überholt, erklärte der Präsident. Bald werde Russland zu den vier größten Volkswirtschaften gehören.

Die Ausgangsbedingungen für dieses ehrgeizige Ziel sind allerdings alles andere als einfach. Die russische zivile Luftfahrt nutzt heute hauptsächlich Maschinen von Airbus und Boeing. Das gestand Putin unumwunden ein.

„Das ist eine schwierige Aufgabe, wir haben zu viel aus dem Ausland gekauft und die eigene Produktion nicht entwickelt.“

Man muss wissen: Seit der Auflösung der Sowjetunion sind in Russland nur zwei neue Verkehrsflugzeuge entwickelt worden, Superjet und MC 21. Beim MC 21 hat die Serienfertigung gerade erst begonnen.

Der russische Präsident erklärte, Russland müsse bis 2030 zu den führenden 25 Ländern gehören, die Industrieroboter entwickeln.

Dazu muss ich anmerken, ich habe in den letzten 15 Jahren bei Fabrikbesichtigungen nur ausländische und keinen einzigen russischen Industrieroboter gesehen. Russland muss in diesem Sektor also bei fast Null anfangen. Aber ein Ziel zu setzen, das kann ein Anreiz sein, die Sache jetzt endlich in die Hand zu nehmen. Ein Steigerung der Produktivität in der Industrie ist für Russland besonders wichtig, weil es an Fachkräften mangelt.

Der russische Präsident will, dass der Anteil der Hightech-Produkte auf dem russischen Markt in den nächsten sechs Jahren um das Eineinhalbfache steigt. Bis 2030 müsse der Marktanteil an ausländischen Hightech-Produkten „auf 17 Prozent gesenkt“ werden.

Dazu muss ich erklären: Wer heute in russische Elektronik-Geschäfte kommt, findet zwar vom Handy bis zum Computer alles. Aber einen populären russischen Computer für den Privatgebrauch oder ein populäres russisches Handy gibt es bis heute nicht.

Putin will jetzt Ingenieursschulen, die es noch zu Sowjetzeiten zuhauf gegeben hatte, die dann aber nicht mehr finanziert wurden, wieder aufbauen. Bis 2028 müssten ein Million Spezialisten für den Hightech-Bereich ausgebildet werden, erklärte der Präsident.

Linkswendung des Präsidenten?

Linke Kritiker hatten in der Vergangenheit kritisiert, dass der wirtschaftsliberale Flügel der russischen Elite nur noch „in Projekten denkt“, dabei brauche die russische Wirtschaft und der soziale Sektor für eine nachhaltige Entwicklung langfristige Pläne. Offenbar ist dieser Gedanke bei Wladimir Putin inzwischen angekommen. Putin schlug vor, in Zukunft einen Haushalt für drei Jahre und eine Finanzplanung für sechs Jahre zu verabschieden.

Für russische Verhältnisse fast revolutionär klangen Putins Sätze zur „gerechteren Verteilung der Steuerlast“. Seit Putins Amtsantritt 2000 zahlen Arbeiter und Millionäre den gleichen Steuersatz von 13 Prozent. Die Forderung der Kommunistischen Partei nach einer progressiven Steuer, wie sie in fast allen europäischen Ländern üblich ist, hat die russische Führung bis heute ignoriert.

Nun erklärt der russische Präsident überraschend, „man müsse nachdenken über eine gerechtere Verteilung der Steuerlast auf die Seite derer, die hohe Unternehmens- oder persönliche Einkünfte haben“.

Bis 2030 müsse das Steuersystem modernisiert werden. Es sei nötig, „die Steuerlast für Familien zu senken, die Wirtschaft zu stimulieren und die Steuerschlupflöcher zu schließen“.

„Alles hängt von unseren Soldaten ab“

Am Schluss seiner Rede kam Putin dann doch nochmal auf die angespannte Situation vor Russlands Westgrenze zu sprechen. Er erklärte: „Die Erfüllung aller genannten Pläne hängt direkt von den Soldaten ab, die jetzt an der Front kämpfen, von dem Mut und der Entschlossenheit unserer Kampfgenossen, die sich für uns, für das Vaterland opfern. Eine tiefe Verbeugung vor Euch, Kameraden.“ Nach diesen Worten standen die Versammelten spontan auf.

Putin erklärte, man müsse Soldaten, die an der Militäroperation in der Ukraine teilgenommen haben, den Weg in leitende Positionen in der Wirtschaft und im Staat öffnen. Kriegsveteranen würden bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen ab sofort bevorzugt. Das Wort Elite sei inzwischen in vielerlei Hinsicht diskreditiert. Doch Menschen, die im Krieg das Vaterland verteidigt haben, gehörten „zur wirklichen Elite“.

Ulrich Heyden, Moskau, 29.02.24