Eine andere Staatsräson ist möglich

Eine andere Staatsräson ist möglich

Eine andere Staatsräson ist möglich

Maike Gosch
Ein Artikel von: Maike Gosch

Gerade wird ja wieder viel von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel gesprochen (im Zusammenhang mit der Kritik an den Einschränkungen der Waffenlieferungen an Israel und dem Entsetzen über die Tötung von fünf Al-Jazeera Journalisten durch Israel), aus der folgen soll, dass die Sicherheit Israels Teil der Staatsräson unseres Landes ist, wie Angela Merkel es 2008 formulierte. Diese Formulierung wurde später noch verschärft und davon gesprochen, dass auch das Existenzrecht des Staates Israels Teil unserer Staatsräson sein soll. Ausgelegt wird das von den meisten Politikern seitdem als bedingungslose Unterstützung aller Entscheidungen der israelischen Regierung. In der Schwarz-Weiß-Logik, die durch das immer stärkere Aufheizen der Diskussion entsteht, scheint es inzwischen tatsächlich so, als müsse man sich – dieser Logik folgend – zwischen der Aufrechterhaltung des internationalen Rechts, der Menschenrechte und der Humanität auf der einen Seite und dieser Staatsräson auf der anderen Seite entscheiden. Aber ist das wirklich so? Ein Kommentar von Maike Gosch.

Ist die fast bedingungslose Unterstützung Israels durch Deutschland in Form von Waffenlieferungen, finanzieller Unterstützung und diplomatischer sowie politischer Deckung wirklich etwas, das die Sicherheit Israels fördert und die Existenz des Staates Israel sicherstellt? Insbesondere, da sich die israelische Regierung und teilweise auch die Bevölkerung in den letzten Jahren immer weiter radikalisiert hat und seitdem, sicher auch in Reaktion auf den schrecklichen Terrorangriff am 7. Oktober 2023, immer mehr Kriegsverbrechen bis hin zum Völkermord im Gazastreifen begeht.

In der Berichterstattung über pro-palästinensische Demonstrationen war in den letzten Monaten (es ist jetzt weniger geworden) oft die Rede von „Antisemiten und Israelhassern“ – als könne man nur entweder für die Menschenrechte der Palästinenser sein oder für die Menschenrechte (und das Lebensrecht) der Israelis. Diese Polarisierung erscheint ähnlich wie bei dem Spruch „From the river to the sea“ (vom Fluss zum Meer), der sowohl von palästinensischer Seite skandiert wird als auch im Programm der Likud-Partei zu finden war und der von der jeweils anderen Seite gedeutet wird als: Eure Freiheit (bzw. euer Existenzrecht) nur auf Kosten meines Lebens. Tertium non datur (ein Drittes gibt es nicht).

Aber zunächst einmal: Was hat es mit dieser „Staatsräson“ auf sich? Vorab ist interessant, dass die Mehrheit der Deutschen (62 Prozent) die dort formulierte besondere Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel nicht (mehr) empfindet, wie eine Umfrage kürzlich ergeben hat (siehe dort S. 25). Das ist ihr gutes Recht: Es gibt keine rechtliche Verpflichtung für Staatsbürger, sich einem anderen Staat moralisch verpflichtet zu fühlen, egal wie oft das von Politikern wiederholt wird. Das ist die souveräne Entscheidung jedes Einzelnen. Deutsche Staatsbürger sind ja gerade keine Springer-Journalisten, die einen solchen Treueeid mit ihrem Arbeitsvertrag rechtlich verbindlich ablegen müssen. Was durch diese Formulierung erreicht werden sollte, ist ein Diskussionsverbot – dieses sollten wir nicht gelten lassen.

Aber nehmen wir die Staatsräson bzw. das dahinterliegende Anliegen einmal ernst. Es gibt ja wirklich gute moralische Argumente dafür, dass aus so schrecklichen Verbrechen, wie sie im Holocaust geschehen sind, eine besondere Verantwortung gegenüber seinen Opfern entsteht. Ich selbst habe es auch mein Leben lang so empfunden.

Eine denklogische Schwierigkeit bei der Auflösung dieses Dilemmas (Staatsräson oder Verhinderung von Völkermord und Kriegsverbrechen) ist dabei die gedankliche Vermischung von Israel als Staat und dem Zionismus als Ideologie dahinter mit dem Judentum und jüdischen Menschen weltweit. Diese Vermischung wird von israelischer Seite aktiv so kommuniziert, sodass bei vielen Menschen, die nicht genau hinschauen, der Eindruck entsteht, es handele sich um ein und dieselbe homogene Gruppe. Dabei gibt es weltweit sehr viel Kritik – gerade auch von Seiten jüdischer Menschen – an dem intellektuellen Grundkonzept des Zionismus und seiner praktischen und gewalttätigen Durchführung; und natürlich auch am Handeln des Staates Israel. Es gibt antizionistische und antiisraelische jüdische Intellektuelle, Aktivisten und Rabbiner. Aber immer noch zu viele deutsche Politiker fallen auf diese gedankliche Vermischung herein. Dies führt zu absurden Situationen wie dem Auftrittsverbot für jüdische Künstler und Intellektuelle in Deutschland wegen angeblichem Antisemitismus durch ihre Kritik an Israels Vorgehen oder der Festnahme jüdischer Demonstranten, die sich für die Rechte der Palästinenser einsetzen und scharfe Kritik an Israel und dem Zionismus üben – ebenfalls wegen Antisemitismus.

Wenn wir also zurückweisen, dass Israel für alle jüdischen Menschen weltweit steht und spricht, was ist dann eigentlich der moralische Kern unserer sogenannten Staatsräson? Er verpflichtet zum Schutz aller jüdischen Menschen. Das wäre die souveräne Interpretation und die folgerichtige Lehre aus unserer Geschichte: allen jüdischen Menschen, insbesondere denen, deren Familien im Holocaust ermordet wurden oder die unter anderen Verbrechen des Nationalsozialismus gelitten haben, zu helfen, in Sicherheit zu leben; und alles dafür zu tun, politisch, diplomatisch und materiell, um ihre Sicherheit sicherzustellen.

Die zu starke Fixierung auf den Staat Israel als Objekt, das es zu schützen gilt, verstellt daher, worum es wirklich geht, und führt auf die falsche Schiene. Und ein noch weiterer Schritt in die falsche Richtung ist die Reduzierung dieser „Treuepflicht“ auf die Regierung Benjamin Netanjahus. Ebenso wenig, wie man alle jüdischen Menschen – gegenüber denen die Verpflichtung ja historisch eigentlich nur bestehen kann – mit dem Staat Israel gleichsetzen sollte, sollte man den Staat wiederum mit der Regierung Netanjahus gleichsetzen. Diese Denkfehler begeht aber die deutsche Politik aus meiner Sicht – mit tragischen Folgen. Sie haben sich und damit uns als Bürger mit dieser Staatsräson und ihrer immer engeren und rigideren Auslegung in eine Ecke manövriert, aus der wir nur herauskommen, wenn wir seine argumentative Struktur hinterfragen und zu dem Grundgedanken dahinter zurückkehren.

Aber selbst wenn man akzeptiert, dass sich die deutsche Verantwortung auf Israel als Staat bezieht (weil – so die Argumentation – nur ein eigener, überwiegend jüdischer Staat die Sicherheit jüdischer Menschen garantieren kann), muss man feststellen, dass Deutschlands bisheriger Kurs der fast bedingungslosen Unterstützung und Deckung Israels in seinem radikalen Kurs gerade nicht seine Sicherheit gefördert hat. Israels Sicherheit ist aktuell so gefährdet wie lange nicht mehr. Es ist im offenen oder verdeckten Krieg bzw. in kriegerischen Auseinandersetzungen mit seinen Nachbarn Libanon, Syrien und natürlich den Palästinensern im Gazastreifen und im Westjordanland. Es gibt starke innere Spannungen. Auch wirtschaftlich hat das Land große Schwierigkeiten. Siehe hierzu ausführlicher den aktuellen Artikel von Detlef Koch auf den NachDenkSeiten.

Auch das Ansehen des Landes im Ausland ist auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt. Immer mehr Menschen weltweit protestieren (trotz starker Repression durch ihre Regierungen wie z.B. in Deutschland, Großbritannien und den USA) gegen die Kriegsverbrechen des Landes. Das politische und diplomatische Kapital des Landes ist – im globalen Süden noch viel mehr als bei uns – bei einer großen Mehrheit weitgehend aufgebraucht. Erst kürzlich hat die gezielte Tötung mehrerer palästinensischer Journalisten zu einer weiteren weltweiten Welle der Empörung geführt.

Handelt Deutschland also wirklich im Interesse Israels, wenn es in dieser Eskalationsspirale von Gewalt, Panik, dem Aufleben alter Traumata, Propaganda, Krieg und Terror danebensteht und sagt: „Ich bin auf deiner Seite – egal, was du tust.“? Es sollte offensichtlich sein, dass die deutsche Verantwortung nicht bedeuten kann, das Handeln der Regierung eines Staates zu unterstützen, der sich hinter der schrecklichen Leidensgeschichte des jüdischen Volkes versteckt und diese als Schutzschild benutzt, um selbst Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen – und das seit Jahrzehnten.

Was würde also ein wirklicher Unterstützer, ein wirklicher Freund machen? Wie könnte ein Regierungshandeln aussehen, das eine andere Strategie aus unserer „besonderen Verantwortung“ ableitet?

Eine weitere und andere Auslegung der deutschen Verantwortung hätte zur Konsequenz, die israelische Regierung nicht in ihrem Kriegskurs zu unterstützen, den internationalen Druck auf Israel zu verstärken (nicht zu behindern), seinen kriegsverbrecherischen Kurs zu stoppen, eine Aufarbeitung auch für die Taten der Vergangenheit zu fordern und darauf hinzuarbeiten, dass jüdische Israelis und Palästinenser (wobei es auch jüdische Palästinenser gibt), aber auch alle anderen Ethnien und Glaubensgemeinschaften in dieser Region friedlich und gemeinsam leben könnten. Das könnte die Sicherheit der jüdischen Israelis langfristig wirklich sichern. Was die Bundesregierung aber tut, widerspricht aus meiner Sicht selbst der von ihr selbst immer wieder deklarierten Staatsräson – ihr Handeln gefährdet jüdische Menschen und den Staat Israel.

Eine wirkliche Unterstützung würde beinhalten, alles zu tun, um die Situation in Gaza und dem Westjordanland zu deeskalieren, anstatt sie immer weiter eskalieren zu lassen. Und sie würde beinhalten, zunächst einmal Kriegsverbrechen und Völkermord durch Israel als solche klar zu benennen und Konsequenzen zu ziehen. Dies zu tun, heißt nicht, die Israelis fallen zu lassen. Es gibt auch unter ihnen sehr viele, die sich – viel mutiger als die meisten deutschen Politiker und Journalisten – gegen die Verbrechen der israelischen Regierung und des IDF stellen. Der Satz „No peace without justice“ (kein Frieden ohne Gerechtigkeit) hat vielleicht selten so gut gepasst wie auf die Situation im Nahen Osten im 20. und 21. Jahrhundert.

Sie würde bedeuten, die Kräfte in Israel und in der jüdischen Diaspora zu stärken und zu unterstützen, die sich ebenfalls gegen die Kriegsverbrechen stellen und sich für einen Staat stark machen, in dem jüdische Menschen und Palästinenser die gleichen Rechte haben – Menschen wie die, die an den wachsenden Demonstrationen in Israel teilnehmen, die sich gegen das Vorgehen der israelischen Regierung unter Netanjahu stellen. Auch wenn es ihnen primär um das Wohlergehen und Überleben der verbleibenden israelischen Geiseln geht, gibt es auch immer mehr Stimmen unter ihnen, die den Völkermord und das Aushungern in Gaza anprangern. Wie kann es sein, dass die deutsche Regierung (trotz erster kleiner Schritte zur Einschränkung der Waffenlieferungen) das Vorgehen Israels unkritischer unterstützt als z.B. ein ehemaliger Mossad-Chef oder der Vater einer der von der Hamas gefangenen Geiseln?

Es wäre eine Strategie von wirklicher Freundschaft und Unterstützung und nicht von Komplizenschaft, solche Positionen und Menschen in Israel zu unterstützen wie die jungen israelischen Aktivisten der Organisation Standing Together, die Demonstrationen an der Grenze zum Gazastreifen organisiert, bestehend aus jüdischen und palästinensischen Israelis, und mit Mehlsäcken auf den Schultern gegen die grausame Hungerblockade Israels protestiert (und auch die Reservisten der israelischen Armee dazu aufruft, ihren Einberufungsbefehlen nicht zu folgen, was eine stetig wachsende Anzahl tut).

Wir haben beschlossen, diese humanitäre Schutzgruppe zu bilden, weil wir verstehen, dass es hier um den Kampf um das Leben unschuldiger Menschen in Gaza geht“,

erklärte Alon-Lee Green, der nationale Co-Direktor der israelisch-palästinensischen Organisation Standing Together, gegenüber der britischen Zeitschrift The Guardian in einem Bericht über eine Aktion, mit der die Aktivisten verhindern wollten, dass israelische Siedler Fahrzeuge mit Hilfslieferungen nach Gaza blockieren. Und er fügte hinzu:

Aber es geht nicht nur darum – es ist auch ein Kampf um die Seele unserer Gesellschaft, um die Frage, ob wir angesichts von Angst und Trauma unsere Menschlichkeit bewahren können; ob wir sicherstellen können, dass wir das Leben dem Tod vorziehen und Solidarität dem Hass und dem Hunger.“

In diesem Kampf sollte Deutschland sich auf die richtige Seite stellen. Und die Seiten zur Auswahl sind nicht Israelis oder Palästinenser. Die Seiten sind Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit.

Titelbild: nayef hammouri / Shutterstock

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