Kurz vor dem Gipfeltreffen zwischen den USA und Russland in Alaska dreht der Berliner Hauptstadtjournalismus noch einmal so richtig auf. Die eigene Deutungshoheit in der Ukrainepolitik befindet sich im freien Fall und man sieht seine Felle davonschwimmen. Nun übt man sich auch noch in Küchenpsychologie und feiert Merz’ „Krisendiplomatie“. Das lädt zum Fremdschämen ein. Einen besonders grotesken Tiefpunkt setzt dabei einmal mehr der SPIEGEL, bei dem die Grenzen zwischen Satire und wahrscheinlich sogar ernst gemeinten Leitartikeln immer mehr verwischen. Ein Kommentar von Jens Berger.
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„Mark Rutte weiß, wie Donald Trump tickt. Der Nato-Generalsekretär hat Erfahrung darin, Botschaften so zu verpacken, dass der US-Präsident sie versteht. Schlicht müssen sie sein, gern auch schmeichelhaft.“ – wenn ein Artikel bereits so beginnt, kann es sich doch eigentlich nur um Satire handeln. Oder? Für Leser, die nicht so im Thema sind: Was der SPIEGEL hier zwischen den Zeilen als Ruttes „Verhandlungsgeschick“ bezeichnet, bezeichnete Martin Sonneborn treffender als „astreine Arschkriecherei“. Rutte hatte im „Streit“ um die 5-Prozent-Rüstungsausgaben-Regelung der NATO nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich den Kotau vor Donald Trump gemacht und dessen absurde Maximalforderung einfach adaptiert und ihm in Großbuchstaben dann dazu gratuliert, wie toll er doch sei und wie doof die Europäer sind. Das, lieber SPIEGEL, ist keine Verhandlungstaktik, sondern eine völlig abstruse Unterwerfungsgeste. Überließen die Europäer Rutte die diplomatischen Verhandlungen mit Trump im Vorfeld des Alaska-Gipfels, käme am Ende wohl eine „Carte Blanche“ für Trump und ein Tweet heraus, wie großartig Trump doch die Europäer aus dem Spiel gedrängt habe.
Wahrscheinlich hätte Rutte noch obendrauf – ohne, dass dies von den Medien zur Kenntnis genommen würde – Helgoland an die Amerikaner verschenkt. Soviel ich weiß, ist Helgoland zwar heute Morgen immer noch deutsch, aber Ruttes vom SPIEGEL abgefeierte Verhandlungsrhetorik sollte man sich nichtsdestotrotz einmal auf der Zunge zergehen lassen.
Rutte ergreift das Wort. Der Niederländer erläutert: Wenn die größeren Städte im Donbass, im Osten der Ukraine, in einer Art Landtausch tatsächlich an die Russen gingen, dann würde sich ihnen eine Art Autobahn nach Kyjiw eröffnen. Dann würde Putins Truppen nichts mehr davon abhalten, die ukrainische Hauptstadt einzunehmen.
Autobahn nach Kyjiw: Das Bild scheint Trump einzuleuchten. Er gibt zu verstehen, dass er nicht über Gebietsabtretungen verhandeln wolle. Den Eindruck haben jedenfalls Teilnehmer der Telefonkonferenz, wie sie später berichten.
Aus: DER SPIEGEL – Als der Nato-Chef das Wort ergreift, scheint Trump ein Licht aufzugehen
Er hat Autobahn gesagt! Vollkommen klar, dieses Argument zieht! Damit sollten Gebietsabtretungen ein und für alle Male vom Tisch sein. Für wie blöd hält der SPIEGEL eigentlich Donald Trump? Und für wie blöd hält er seine Leser, dass sie diesen Unsinn ernst nehmen sollen?
Aber es geht ja weiter im Text, aus dem ich leider nicht allzu viel wörtlich zitieren darf, da er sich hinter einer Bezahlschranke befindet – wobei es schon eine seltsame Ironie darstellt, dass die groteskesten intellektuellen Tiefpunkte des SPIEGEL nur zahlenden Lesern zum Amüsement vorgesetzt werden. Grob inhaltlich zusammengefasst geht es im Artikel darum, dem Leser die angeblichen „Psychotricks“ der Europäer näherzubringen, mit denen sie Trump auf ihre Seite ziehen und einen Verhandlungserfolg in Alaska verhindern sollen. Zwischen den Zeilen liest sich das wie eine Anleitung in Sachen „Appeasement-Verhalten“. Und dieser Begriff hat in diesem Kontext trotz „Autobahn-Contents“ nichts mit Chamberlain, Hitler und München zu tun, sondern beschreibt in der Psychologie das Unterwerfungsverhalten oft traumatisierter Opfer gegenüber ihrem Unterdrücker. Die verprügelte Frau legt ihrem gewalttätigen Mann schon mal die Pantoffeln hin und stellt ihm ein Bier kalt, sodass er bei der Heimkehr aus der Kneipe „milde gestimmt“ wird und sie nicht anfasst.
Und das haben Merz und Co. gestern nach Ansicht des SPIEGEL offenbar grandios hinbekommen. „Trump schimpfte nicht, er pöbelte nicht herum“. Hurra! Was für ein Erfolg! Man habe vorher eine simple Regel aufgestellt: „Immer schön kurz fassen. Trumps Aufmerksamkeitsspanne ist knapp, daher dürfe es in der Ukraine-Schalte auf gar keinen Fall längliche Vorträge einzelner Staats- und Regierungschefs geben.“ Sogar Selenskyj habe sich – so weiß es der SPIEGEL – diesmal benommen und den impulsgetriebenen Bösewicht aus dem Weißen Haus nicht provoziert. Ei der Daus!
Selenskyj klang bei dem Gespräch laut SPIEGEL übrigens „wie einer, der die Wahrheit kennt, dem aber nicht geglaubt wird“. Ja, lieber SPIEGEL. Solche Leute kenne ich auch. Erst neulich in der Kneipe wollte mich so jemand davon überzeugen, dass die Welt von Echsenwesen regiert wird und sämtliche Spitzenpolitiker in Wahrheit verkleidete Echsen sind. Der kannte auch die Wahrheit und niemand glaubte ihm. Aber er hatte keine schwarze Militärkleidung. Vielleicht lag’s daran.
Ob man denn auch inhaltlich was erreicht habe, weiß der SPIEGEL freilich nicht so genau. Trump habe signalisiert, dass „er vieles teilt, sich aber Spielräume erhalten will“. Als guter Diplomat habe ich das früher ähnlich formuliert, wenn mein Sohn sich zu Weihnachten ein absurd teures Fahrrad gewünscht hat. Aber Trump so etwas wie diplomatische Finesse zu unterstellen, käme dem SPIEGEL natürlich nie in den Sinn. Stattdessen kann es nur an der SPIEGEL’schen Küchenpsychologie liegen, wenn Trump am Ende in Alaska doch nicht tut, was sich die Europäer wünschen. Trump – wir wissen ja, kurze Aufmerksamkeitsspanne und so – „befolge nämlich [meist] den Rat derer, die als Letzte mit ihm sprechen, ehe er eine Entscheidung trifft“. Och nein, hätte Merz das nur vorher gewusst! Dann hätte er seine Videoschalte sicher am Freitagmorgen kurz vor dem Gipfel geplant und nicht schon am Mittwoch. Wer weiß, mit dem Trump bis dahin noch spricht!
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Solche Kleinigkeiten stören den SPIEGEL jedoch nicht. Merz sei nun zum „europäischen Anführer“ gereift, seine ganze Pendel- und Krisendiplomatie wird so beschrieben, als sei Merz die Reinkarnation von Talleyrand, ein Genie, wie es im Buche steht. Nun ja, das sieht man zumindest in der Downing Street etwas anders, wie vorgestern der Telegraph berichtete. Dort sei man – mal undiplomatisch formuliert – genervt von Merz. Man befürchtet, dass seine ständig neuen „Ratschläge“ Trump derart „auf den Sack gehen“, dass die Europäer bald gar nicht mehr mitreden dürfen. Da dürfte es dann wohl Meinungsverschiedenheiten zwischen den Küchenpsychologen in London und Berlin geben, wie man sich Trump am besten unterwirft. Ihm die Pantoffeln und ein kühles Bierchen hinstellen oder am besten so tun, als sei er Luft, um ihn gar nicht erst unnötig zu provozieren. Wobei man jedoch sagen muss, dass auf rein inhaltlicher Ebene die Briten schon irgendwie recht haben. Schließlich war es Merz, der im Vorfeld Trump dazu treiben wollte, in Alaska nicht ohne Selenskyj zu verhandeln. Erst als dieser Vorstoß krachend in die Hose ging, kam Merz auf die Idee, Trump im Vorfeld des Gipfels in einer gemeinsamen Videoschalte zu „besänftigen“. Davon steht in der SPIEGEL-Jubelgeschichte zum genialen Diplomaten Merz freilich nichts. Aber ja, wenn die Realität nicht der eigenen Geschichte entspricht, muss die Realität wohl falsch sein. Schließlich schreibt der SPIEGEL ja, „was ist“.
Aber mal Butter bei die Fische. Wahrscheinlich nehme auch ich sowohl Friedrich Merz als auch insbesondere den SPIEGEL viel zu ernst. Versuchen wir uns doch auch einmal in Küchenpsychologie. Würden Sie jemanden wie Mark Rutte, der Ihnen stetig schleimend in den Hintern kriecht und nun mit wirren Autobahn-Metaphern kommt, ernst nehmen? Würden Sie einen Friedrich Merz ernst nehmen, der Ihnen zum Antrittsbesuch im Weißen Haus unterwürfig lächelnd die Geburtsurkunde Ihres Großvaters schenkt und jegliche „Konfrontation“ meidet? Oder würden Sie gar eine Ursula von der Leyen ernst nehmen, die im Zollstreit „ultrahart“ verhandeln wollte und sich dann grinsend beim Handshake mit Ihnen ablichten lässt, nachdem Sie die EU nach allen Regeln der Kunst über den Tisch gezogen haben? In Sachen Appeasement-Verhalten sind die Europäer wahrlich eine Klasse für sich.
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Wie es auch anders gehen könnte, zeigen hingegen die Chinesen, die wohl als einzige Nation tatsächlich auf Augenhöhe mit den USA verhandeln und – oh Wunder – damit auch durchkommen. Ob dies auch für Russland gilt, wird sich morgen zeigen. Aber eins steht fest – die Balla-Balla-Appeasementstrategie der Europäer taugt bestenfalls zum Fremdschämen. Tragisch ist nur, dass offenbar weder Merz noch Selenskyj oder die deutschen Leitartikler merken, dass sie mit derlei offensichtlichem Mumpitz nicht nur Europa, sondern auch der Ukraine mehr schaden als nutzen.
Titelbild: OpenAI – Das Titelfoto ist ein mit künstlicher Intelligenz erstelltes Symbolbild